EZB-Chef Draghi : Gefangener der eigenen Argumentation

EZB-Chef Draghi :
Gefangener der eigenen Argumentation
Düsseldorf, 4. September 2015
Dirk Heilmann
Vor etwa einem Jahr hat EZB-Präsident Mario Draghi begonnen, den Einstieg in das Quantitative Easing
nach dem Vorbild der USA und Japans vorzubereiten. Er argumentierte mit der Gefahr einer schädlichen
Deflation. Ohne einen massiven Aufkauf von Anleihen bestehe die Gefahr, dass die Euro-Zone in eine
gefährliche Spirale aus Preissenkungen und Lohnkürzungen abrutsche, lautete die Warnung, die viele
Ökonomen vehement bekräftigten. Entsprechend groß war die Erleichterung der Finanzmärkte, als die EZB
im Januar ein Anleihekaufprogramm beschloss, in das sie von März 2015 bis September 2016 monatlich 60
Milliarden Euro, also insgesamt 1,14 Billionen Euro investieren wollte.
Dabei war schon zu diesem Zeitpunkt zweierlei klar: Es gab keine Deflation in der Euro-Zone, sondern
lediglich eine unschädliche Disinflation, die kurzfristig durch die Halbierung des Rohölpreises und drastische
Preisrückgänge bei anderen Rohstoffen hervorgerufen worden war. Hinzu kommt der seit Jahren anhaltende
Trend, dass durch die Digitalisierung und die Globalisierung viele langlebige Konsumgüter im Trend
preiswerter werden. Auch war zweite angeführte Grund für die Notwendigkeit des Quantitative Easing, die
Rezession in der Euro-Zone, war damals schon überwunden. Es war bereits sichtbar, dass die Euro-Zone in
einen breiten Aufschwung eingetreten war, so dass eine weitere geldpolitische Lockerung zur Stützung der
Konjunktur unnötig war.
Die massiven Anleihekäufe kamen allerdings den hoch verschuldeten Staaten der Währungsunion zugute:
Sie wünschten sich neben längerfristig extrem niedrigen Zinsen auch einen niedrigeren Euro-Kurs, um
leichter ihre Doppeldefizite im Staatshaushalt und der Leistungsbilanz abbauen zu können. Das gelang dann
auch: der Euro-Kurs sank bis Mitte März auf unter 1,05 Dollar und lag damit um ein Viertel unter dem Stand
von Juni 2014.
Im vergangenen halben Jahr hat die EZB planmäßig für 360 Milliarden Euro Anleihen auf den
Finanzmärkten aufgekauft und damit dem Finanzsystem weitere Liquidität zugeführt. Der wirtschaftliche
Aufschwung hat sich seitdem gefestigt: Das Bruttoinlandsprodukt der Euro-Zone dürfte im laufenden Jahr
um rund 1,5 Prozent zulegen. Diese Entwicklung war vorgezeichnet, und die EZB dürfte wenig dazu
beigetragen haben. Außerdem vergeben die Banken wieder mehr Kredite an die Unternehmen. Im Juli
beschleunigte sich das Wachstum der breiten Geldmenge M3 auf 5,3 Prozent zum Vorjahr und die
Wachstumsrate der Kreditvergabe stieg auf 0,9 Prozent bei Krediten an Unternehmen und 1,9 Prozent bei
Krediten an Haushalte an. Diese Normalisierung der Kreditvergabe mag die EZB als Erfolg verbuchen – es
fragt sich allerdings, ob das wachsende Vertrauen der Privatwirtschaft in einen kräftigen Aufschwung nicht
mehr dazu beigetragen hat als eine Geldpolitik, die unermüdlich das Fortbestehen einer ernsten Krise
signalisiert.
Das Hauptziel des Quantitative Easing war es jedoch, die Inflationsrate und die Inflationserwartungen in der
Euro-Zone wieder an das offizielle Ziel von knapp zwei Prozent heranzuführen. Hier konnte die EZB erste
Erfolge verzeichnen, doch die jüngsten Daten zeigten einen neuen Rückschlag an. Die Inflationsrate, die von
minus 0,5 Prozent im Januar auf plus 0,3 Prozent im Mai gestiegen war, ist auf 0,2 Prozent gefallen. Die aus
Swap-Sätzen abgeleiteten mittelfristigen Inflationserwartungen der Finanzmärkte sind zuletzt wieder fast auf
den Januar-Stand zurückgefallen – die Finanzmärkte erwarten danach in fünf Jahren eine Preissteigerung
von knapp 1,7 Prozent. Ob die Inflationsrate in der Euro-Zone jedoch schon im kommenden Jahr in diese
Region zurückkehrt, wie es die EZB noch im Juni selber vorhergesagt hatte, scheint fraglich.
Dennoch ist die jüngste Abschwächung der Inflationsraten und -erwartungen als unbedenklich einzustufen;
sie spiegelt nämlich vor allem den neuerlichen Preisrückgang für Rohöl um allein 18 Prozent im August
wider. Außerdem ist der Euro zuletzt, unter anderem wegen der Turbulenzen an den chinesischen
Finanzmärkten, ein wenig im Kurs gestiegen, was die Importpreise reduziert.
Der Blick auf die Kernrate der Inflation, die stark schwankende Faktoren wie Rohstoffe und Lebensmittel
ausklammert, zeigt, dass sie mit einem Prozent stabil geblieben ist. Wie schon bei der Deflations-Debatte
vor einem Jahr gibt es keine Anzeichen dafür, dass die niedrigen oder für manche Produktgruppen sogar
negativen Inflationsraten zu einer Konsumzurückhaltung oder sinkenden Löhnen führen. Im Gegenteil: Der
private Konsum ist derzeit ein Treiber des Wirtschaftswachstums.
Doch nun ist Mario Draghi Gefangener der eigenen Argumentation. Er kann nicht erst die Deflation zur
großen Gefahr hochstilisieren, um den Einstieg in das Quantitative Easing zu begründen und dann bei
einem neuerlichen Absacken der Inflationsrate in den negativen Bereich, das durchaus für die kommenden
Monate möglich ist, nichts tun. Also kündigte er auf der Pressekonferenz nach der gestrigen
Zentralbankratssitzung – wie von Finanzmarktakteuren erhofft und gefordert – eine Verlängerung des
Kaufprogramms über den September 2016 hinaus an, falls das nötig werde. Das monatliche Kaufvolumen
zu erhöhen, war nicht möglich, weil es sonst womöglich zu wenig Anleihen zum Kaufen gegeben hätte. Eine
noch expansivere Geldpolitik kommt in Sicht, und das, obwohl die Wirtschaft der Euro-Zone schon jetzt über
Potenzial wachsen dürfte.
Nach dem Motto „als sie das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten sie ihre Anstrengungen“ schreibt die
EZB ihre extrem lockere Geldpolitik fort. Damit erhöht sie den Druck auf den Euro-Kurs und erschwert der
US-Notenbank Fed die seit langem angekündigte Zinswende. Eine Normalisierung der Geldpolitik und ein
Ende der Verzerrungen auf den Finanzmärkten rücken in immer weitere Ferne.
Damit bleibt die Frage: Was wollen und können die Zentralbanken eigentlich noch tun, wenn die nächste
Wirtschaftskrise ausbricht?
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