Reiseblatt SE IT E R 6 · D O N N E R S TAG , 1 7 . SE P T E M B E R 2 0 1 5 · N R . 2 1 6 Meerschwein, Carta marina, 1572 F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G Roider, Island-Karte des Ortelius in der Ausgabe des Theatrum orbis terrarum, 1598 Das Gruselkabinett der Weltmeere Fischkentaur, Theatrum orbis terrarum, 1571 Fischkentauren, Wasserdrachen, Schlangenungeheuer: Das Bestiarium auf frühen Seefahrerkarten ist so phantasievoll wie furchteinflößend. Doch warum gaben sich die Kartographen solche Mühe mit den Monstern? Von Jakob Strobel y Serra ünfundneunzig Prozent der Weltmeere sind noch immer unerforscht. Niemand kann auch nur ahnen, welche Kreaturen sich in den Weiten der Ozeane verbergen. Und welche Hybris wäre es, zu glauben, dass seltsame Wesen wie der Vampyroteuthis infernalis – der „Vampirtintenfisch aus der Hölle“ – keine noch seltsamere Verwandtschaft in ein paar tausend Metern Tiefe hätten. Und vielleicht werden Forscher irgendwann sogar eines jener Monster aus der finsteren Unergründlichkeit fischen, vor denen sich alle christlichen und sonstgläubigen Seefahrer seit Anbeginn der Zeiten fürchten. Den Darstellungen solcher Schreckensgestalten auf den wichtigsten europäischen Karten vom zehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert ist nun ein Bildband gewidmet. Doch so erstaunlich das Bestiarium auch ist, das der Kartograph Chet Van Duzer versammelt, so wenig geht es ihm darum, es als Abstrusitätenkabinett voller Jahrmarktsensationen darzustellen. Vielmehr katalogisiert er die Ungeheuer frei von jeder Sensationslust mit unerschütterlicher akademischer Nüchternheit, als sei er Zoologe. Es war bei weitem nicht nur die menschliche Urangst vor der unbekannten Tiefe, die fast alle Kartographen des Mittelalters und der frühen Neuzeit ihre Werke mit Monstern illustrieren ließ. Sie folgten auch einer Theorie von Plinius, der jedem Landlebewesen eine Entsprechung im Meer zuwies; also musste es dort von schwimmenden Elefanten, Löwen oder Widdern nur so wimmeln. Ebenso populär war die Auffassung des Theologen und Astronomen Nikolaus von Kues, der im fünfzehnten Jahrhundert befand: So, wie Gott die Welt erschuf, erschafft der Kartograph ein Bild der Welt. Und da auch Ungeheuer zur Vielfalt der göttlichen Schöpfung gehören, müssen sie vom Kartographen dargestellt werden. Ganz nebenbei konnte der Zeichner so seinen Machtanspruch untermauern: Er zeigt dem Betrachter Wesen, die kaum ein Mensch jemals zu Gesicht bekommen hat. Der weise Kartograph aber kennt sie alle. Natürlich ging es im Mittelalter auch um das Einflößen von Furcht. Die Menschen sollten dort bleiben, wo sie waren, und die Welt so belassen, wie sie war, sie sollten also Gottes großen Plan nicht hinterfragen. Deswegen waren vor al- F Ziphius, Carta marina, 1572 Meerjungfrauen, Hortus Sanitatis, 1491 Murex, Hortus Sanitatis, 1491 Walfisch, Carta Marina, 1539 lem die Randmeere zur Abschreckung von den grässlichsten aller Ungetüme bewohnt. Auf manchen Karten ist die Erde sogar von einer riesigen Schlange umgeben, die sich selbst in den Schwanz beißt. Man kann das ganze Brimborium um die Bestien allerdings auch ganz banal betrachten – als Taktik der Verkaufsförderung: Je größer der Gruseleffekt und die Dekorationsfülle, umso teurer ließ sich eine Karte an den Fürsten oder König bringen. Das waren Gründe genug für die Kartographen, sich alle Mühe beim Bevölkern ihrer Werke mit den phantasievollsten Schrecklichkeiten zu geben. Sie erfanden Mischwesen aus Schlange und Echse, Schwein und Hund, Elefant und Walross, Fisch und Vogel, dachten sich fliegende Schildkröten oder Monster mit überdimensionalen Kalmaren-Fangarmen aus, verzierten ihre Fabelwesen mit Teufelshörnern, Hasenohren, Reißzähnen, Riesenstacheln und Dreizacken, als seien es missratene Kinder Poseidons. Immer wieder tauchen Sirenen mit Spiegel und Kamm als Zeichen der Eitelkeit auf, flankiert von Drachen, Fischkentauren, Einhörnern und Leviathanen. Selbst Meermönche und Meerbischöfe machen die Ozeane unsicher, während Riesenhummer mühelos Menschen mit ihren Scheren zerschneiden. Ein Monstrum besteht sogar nur aus einem einzigen angsterfüllten Gesicht, das an einen stark verfrühten, aquatischen Edvard Munch erinnert. Besonders gern wurden Wale mit zwei rohrähnlichen Öffnungen am Hinterkopf für ihre Wasserfontänen dargestellt, seit der biblischen Jonas-Geschichte die Symbolgestalten für Riesenfische schlechthin. Abenteuerliche Legenden über diese monumentalen Meeressäuger wurden nicht nur als Seemannsgarn gesponnen, sondern auch auf Karten schriftlich dokumentiert, etwa vom katalanischen Kartographen Mecia de Viladestes im Jahr 1413: „Im Indischen Ozean gibt es Wale, die so groß sind, dass sie wie Inseln erscheinen. Und oft sind sie so mit Erde bedeckt, dass sogar Pflanzen auf ihrem Rücken wachsen. Manchmal landen Männer, die zur See fahren, auf diesen Walen, die dann, sobald sie die Bewegung der Menschen auf ihrem Rücken verspüren, eilig in die Tiefe abtauchen. So sind die Männer ertrunken.“ Im Lauf des sechzehnten Jahrhunderts verloren die Meerestiere ihren Schrecken und wurden immer realistischer gezeichnet. Vasco da Gama, Christoph Kolumbus und die anderen Entdecker hatten die Ozeane von ihrem mythologischen Ballast befreit, so dass aus fürchterlichen Einhörnern der Meere Schwertfische und aus inselgroßen Gigantenfischen Pottwale werden konnten. Die Ungeheuer auf den Karten dienten jetzt eher der Heroisierung wagemutiger Seefahrer, die sich selbst von den größten Gefahren nicht abschrecken ließen – selbst von solchen Wesen nicht, von denen eine Handschrift zu einer Mailänder Karte aus dem späten sechzehnten Jahrhunderts berichtet: „Im Ozean hier erscheinen häufig einige Fische in einer solch fremdartigen Menschengestalt, dass sie, wenn sie aus dem Wasser aufsteigen, die höchsten Masten der Schiffe überragen, weshalb kein noch so mutiger Bootsmann nicht ob ihrer Ungeheuerlichkeit entsetzt wäre, während sie sich, fürchterlich schreiend und Wellentäler machend, mit ihren Armen in Form großer, fünfundzwanzig Handbreit langer Baumstämme bewegen.“ Es ist höchste Zeit, dass uns die Meeresbiologen solch einen Menschenmonsterfisch präsentieren. Sirene, Hortus Sanitatis, 1491 Walungeheuer mit Vogelgesicht, Europae descriptio emendata, 1572 „Seeungeheuer und Monsterfische“ von Chet Van Duzer. Philipp von Zabern Verlag, Darmstadt 2015. 144 Seiten, zahlreiche Karten. Gebunden, 39,95 Euro. Walross, Island-Karte des Ortelius, ohne Datum
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