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Sprachgeschichte
Wintersemester 2015/2016 bei A. Lenz
Inhalt und Struktur der Vorlesung
1.
Organisatorisches und Einleitendes
Block I
2.
3.
4.
5.
6.
Chronologischer Abriss der Sprachgeschichte des Deutschen
Block II
7.
Prinzipien des Sprachwandels*
8.
Zusammenfassung und Ausblick
•
Indoeuropäisch und Germanisch
•
Althochdeutsch
•
Mittelhochdeutsch
•
Frühneuhochdeutsch
•
Neuhochdeutsch
•
Prinzipien phonologischen Wandels
* Block II hat noch zwei weitere Punkte beinhaltet, die dann nachträglich entfernt wurden, da die Zeit nicht ausgereicht hat
1. Prüfungstermin: 26. Jänner 2016
Prüfungsstoff: Folien und Literatur
eventuelle Fragen:
•
Text einordnen können Ahd, Mhd, Fnhd (möglichst genau) und begründen
•
Ablautreihen anwenden können
Alle von mir verwendeten Tabellen u.ä. sind aus den Folien der Vortragenden kopiert!
1
Inhaltsverzeichnis
1. Einheit.....................................................................................................................................................4
Einleitendes......................................................................................................................................................4
Synchronie und Diachronie..........................................................................................................................4
Veränderung, Entwicklung, Wandel.............................................................................................................4
Variation und Wandel..................................................................................................................................5
Zur Dynamik von Sprache............................................................................................................................5
Sprachliche Ebenen.....................................................................................................................................6
Sprache als „dynamisches“ System..............................................................................................................6
„Zwiebelmodell“ der sprachlichen Ebenen..................................................................................................7
2. Einheit.....................................................................................................................................................7
Indoeuropäisch/-germanisch............................................................................................................................7
Archetypus...................................................................................................................................................7
Sprachtypologie...........................................................................................................................................7
Germanisch.......................................................................................................................................................8
Akzent..........................................................................................................................................................8
3. Einheit.....................................................................................................................................................8
Akzentwandel..............................................................................................................................................8
1. ( = Germanische ) Lautverschiebung........................................................................................................8
Verner(sche)s Gesetz...................................................................................................................................9
4. Einheit.....................................................................................................................................................9
Althochdeutsch.................................................................................................................................................9
2. (hochdeutsche) Lautverschiebung.........................................................................................................10
Tenues – Spirantenwandel.........................................................................................................................10
Tenues – Affrikatenwandel........................................................................................................................10
Mediae – Tenueswandel............................................................................................................................10
i-Umlaut.....................................................................................................................................................10
5. Einheit...................................................................................................................................................11
Exkurs: Diachrone Phonologie...................................................................................................................11
Lautwandel vs Lautwechsel.......................................................................................................................11
Assimilation vs Dissimilation......................................................................................................................11
Primärumlaut.............................................................................................................................................12
Phonologischer Wandel.............................................................................................................................12
6. Einheit...................................................................................................................................................13
„Sogenannter Rückumlaut“.......................................................................................................................13
Mittelhochdeutsch..........................................................................................................................................13
Vokalsystem des Mhd................................................................................................................................13
Charakteristika des Mhd............................................................................................................................14
7. Einheit...................................................................................................................................................14
Mhd Verbkonjugation................................................................................................................................14
Exkurs: starke vs schwache Verben............................................................................................................14
Ablaut........................................................................................................................................................14
Ablaut: Abstufungen..................................................................................................................................15
Ablaut im Indogermanischen und Germanischen......................................................................................15
Ablaut im Mhd...........................................................................................................................................15
Stammformen............................................................................................................................................15
2
Ablautreihen..............................................................................................................................................16
„Mischverben“ bringen und beginnen.......................................................................................................17
„Präterito-Präsentien“...............................................................................................................................17
Mhd wellen................................................................................................................................................18
Mhd. Verbkonjugation (Wiederholung und Zusammenschau)..................................................................18
„Wurzelverben“.........................................................................................................................................18
Athematisch: Wurzelverb tuon..................................................................................................................19
Athematisch: Wurzelverb sîn.....................................................................................................................19
Auslautverhärtung.....................................................................................................................................20
8. Einheit...................................................................................................................................................20
Frühmittelhochdeutsch.............................................................................................................................20
Klassisches Mittelhochdeutsch..................................................................................................................20
1150-1250.................................................................................................................................................20
Spätmittelhochdeutsch..............................................................................................................................20
1250-1350.................................................................................................................................................20
Frühneuhochdeutsch......................................................................................................................................21
Extralinguistische Prozesse........................................................................................................................21
Linguistische Prozesse................................................................................................................................21
9. Einheit...................................................................................................................................................22
Neuhochdeutsch.............................................................................................................................................23
Standardisierung des Neuhochdeutschen.................................................................................................23
Charakteristika des Neuhochdeutschen....................................................................................................24
10. Einheit.................................................................................................................................................24
Block II - Prinzipien des Sprachwandels: Prinzipien phonologischen Wandels................................................24
Das Ahd. als Silbensprache........................................................................................................................25
„Erleichterung“..........................................................................................................................................25
Silben- und Wortsprachen.........................................................................................................................26
Silbensprache............................................................................................................................................26
11. Einheit.................................................................................................................................................27
Silben- vs Wortsprache..............................................................................................................................27
Das Ahd. als Silbensprache................................................................................................................27
3
1. Einheit
Einleitendes
Synchronie und Diachronie
Sicher wäre es für alle Wissenschaften wichtig,
die Achsen sorgfältig zu bezeichnen, auf welchen
die Dinge liegen, mit denen sie sich befassen;
man müßte überall gemäß der nebenstehenden
Figur unterscheiden: 1. die Achse der Gleichzeitigkeit (AB), welche Beziehungen
nachweist, die zwischen gleichzeitig bestehenden Dingen obwalten und bei denen jede
Einwirkung der Zeit ausgeschlossen ist, und 2. die Achse der Aufeinanderfolge (CD), auf
welcher man stets nur eine Sache für sich allein betrachten kann, auf der jedoch alle die
Dinge der ersten Achse mit ihren Veränderungen gelagert sind.
2
(Saussure 1967: 94)
Um aber diesen Gegensatz und diese Kreuzung der auf den gleichen Gegenstand bezüglichen
Erscheinungen von zweierlei Art noch deutlicher hervorzuheben, ziehe ich es vor, von
synchronischer und diachronischer Sprachwissenschaft zu sprechen. Synchronisch ist alles, was
sich auf die statische Seite unserer Wissenschaft bezieht; diachronisch alles, was mit den
Entwicklungsvorgängen zusammenhängt. Ebenso sollen Synchronie und Diachronie einen
Sprachzustand bzw. eine Entwicklungsphase bezeichnen.
(Saussure 21967: 95f.)
Veränderung, Entwicklung, Wandel
Veränderung
- Differenz zwischen Vor- und Nachzustand in der Zeit
- „beobachtbare Oberflächenphänomene“
- „Veränderungen können allein nach Zahl und Art festgestellt, nicht aber erklärt
werden. Folglich bedeutet „Veränderung“ eine quantitative Kategorie, die dem
5
dynamischen Charakter von Sprache nicht gerecht werden kann.“ (Wolff 2004: 28)
- quantitative Kategorie
4
Entwicklung
- „Vorstellung von einem kontinuierlichen, zielgerichteten Ablauf […] (Evolution)bund zugleich
5
dessen Wertung (Dekadenztheorie oder Prozeßtheorie)“ (Wolff 2004: 28)
- teleologisch Kategorie
Wandel
- geordnete „Vielfalt der ständig verlaufenden Prozesse der Umgestaltung, des
Verlusts und der Neubildung sprachlicher Elemente“ (Lewandowski 1990: 1077)
implizite Voraussetzungen:
- inhärente Dynamik
- Kontinuität in einem stabilen Grundbestand
- Interpretationsoffenheit
- funktionelle Annahme bei Erklärung
pragmatische Kategorie
5
(vgl. Wolff 2004: 28) 11
Variation und Wandel
Variation
Koexistenz sprachlicher Alternativen (Varianten)
x Variation führt nicht automatisch zu Sprachwandel
„langandauernde Variabilität“ (s. Haas 1978: 78, Coseriu 1974: 67f.)
x Weinreich/Labov/Herzog (1968: 188): “Not all variability and heterogeneity in language
structure involves change; but all change involves variability and heterogeneity.”
x Sprachvariation ist Bedingung und Indikator für Sprachwandel
x Variante A > Variante A/B > Variante B
x „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“
Zur Dynamik von Sprache
„Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem
Augenblicke Vorübergehendes. […] Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit
(Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich
ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulierten Laut zum Ausdruck des Gedanken
fähig zu machen. […]“
5
3
(von Humboldt 1963: 418f. u. 430 )
„Wer die Gegenwartssprache verstehen will, sollte sie auch als GEWORDENES zu
erfassen suchen, ihr Werden verfolgen, um so hinter ihre Bewegkräfte und
Strukturgesetze zu kommen, die auch in der Gegenwart, gegebenenfalls in anderer
Relevanz und Zielrichtung, noch aktiv sein können.“
(Schweikle 2002: IX)
„Die Universalität des Wandels scheint zunächst einmal eine empirische Feststellung zu sein. Für
die Notwendigkeit des Wandels müssen die Argumente erst noch gefunden werden. “
3
(Keller 2003: 9)
Sprache als immerwährender Prozess, wobei die sprachlichen Ebenen in unterschiedlicher
Intensität und Geschwindigkeit Dynamik zeigen
Sprachliche Ebenen
Phonetik/Phonologie/Prosodie:
z. B. Nhd. Diphthongierung (segmentell) oder Wandel vom freien idgerm. Wortakzent
zum festen germ. Initialakzent (suprasegmentell) [z. B. Róma, Románus, Romanórum]
Morphologie:
z. B. Entstehung und Ausbau der schwachen Konjugation
Syntax:
z. B. von synthetischem zu analytischem Sprachbau
Graphie:
z. B. orthoepischer und orthographischer Wandel
Lexik:
z. B. Wortbildungen, Entlehnungen, Wortbedeutungswandel
Pragmatik:
z. B. Veränderungen im Bereich der Anredeforme(l)n
Textebene:
z. B. Textsortenwandel, Wandel von Stilelementen
Sprache als „dynamisches“ System
„Die tatsächliche Synchronie ist dynamisch.“ (Jakobson 1962: 53)
Vorsicht mit Epochenbezeichnungen! (immerwährend impliziert keine starren Grenzen,
sondern Variabilität und fließende Übergänge)
Es gibt eine Vielzahl an Periodisierungsmodellen!
6
„Zwiebelmodell“ der sprachlichen Ebenen
2. Einheit
Indoeuropäisch/-germanisch
3000 – 1000 v. Chr.
Franz Bopp – Vergleich Grammatik von Sanskrit (alte, indische Sprache) und europäische Sprachen
Rasmus Rask – Altnordisch mit Slawisch, Latein & Griechisch
Archetypus
Indogermanisch (Idg) ist eine alte, steinzeitliche Sprache → NICHT „Ursprache“
gibt keinen Grund für diese Annahme
aus Idg → Slawisch, Keltisch, Indoiranisch
keine Schrift, keine bezeugte Sprache, Raum: Island/ Irland bis Indien (daher Indoeuropäisch –
Geografie)
grammatische Gemeinsamkeiten → flektierende Sprache, synthetischer Sprachbau, starker Ablaut,
„freier“ Wortakzent
lexikalische Gemeinsamkeiten → Körperteile, Namen, …
Sprachtypologie
synthetische Sprachen → zahlreiche Morpheme
7
analytische Sprachen → Morpheme durch Einzelwörter
flektierend – Formveränderung innerhalb des Wortstammes, Formveränderung durch Endsilben
Idg Präsensbildung → Thematisch
Germanen → 2000 v. Chr., Fundstücke: bronzene Griffzungenschwerter,
500 v. Chr. Sprachliche Gemeinsamkeiten gefestigt
Germanisch
1000 v. Chr. - 500 n. Chr.
Quellen recht schwach belegt → Ostgermanen - Bibelübersetzung
Runenschrift, Lehnwortschatz
•
•
•
•
•
Akzentwandel → freier idg Wortakzent zu festen germ. Initalakzent
1. Lautverschiebung
Vereinfachung des indoeuropäischen Endungssystems
Herausbildung schwacher Verben
Systematisierung des Ablauts bei starken Verben
Akzent
a) dynamischer Akzent – Tonstärke & -dauer durch Atemdruck modifiziert
b) musikalischer Akzent – Tonhöhe durch Spannung der Stimmbänder modifiziert
Germanisch: dynamischer Akzent
3. Einheit
Akzentwandel
Idg – flexionsbedingter Akzent (je nach Form auf versch. Silben)
Germ. - Initalakzent (Akzent auf 1. Silbe)
1. ( = Germanische ) Lautverschiebung
Idg vs Germ. → Systematische Differenzen im Konsonantismus
veränderte Artikulationsgewohnheiten
• Reibelaut → Frikativ, Spirant
• Verschlusslaut → Explosiv
• Kombination Verschlusslaut + Reibelaut → Affrikate
Idg
1. Tenues (p/t/k)
→
Germ.
Spirantes (f/p1/z(ch))
8
2. Mediae (b/d/g)
Tenues (p/t/k)
3. Mediae aspiratae (bh/dh/gh)
stimmhafte Spiranten (b(w)/d(the)/g)
betrifft ALLE idg Verschlusslaute, neue Reibelaute im Germ. hinzu, abgeschlossen vor Römer &
Germanen Kontakt
Tenuesverschiebung nicht bei sp, st, sk
Tenuesverschiebung pt, kt nur erster Teil verschoben
Verner(sche)s Gesetz
(Grammatikalischer Wechsel)
→ bestimmt die Ausnahmen
d – t schneiden – geschnitten
h – g ziehen – gezogen
f – b Hefe – heben
s – r Frost – frieren
Lautwandel nach 1. LV (vor Akzentwandel)
Wenn Tenuis in stimmhafter Umgebung und Hauptwortakzent nicht unmittelbar vorab,
dann wurden die (neuen) stimmlosen Spiranten stimmhaft
→ stimmhafter alveolaren Frikativus
4. Einheit
Althochdeutsch
ca. 750 -1050
6/7 Jhd - Auseinanderdriften der germ. Sprachen
Quellen:
•
Evangelienbuch, 870, Otfrid v. Weissenburg
•
Tatian, Bergpredigt, 830, St. Gallen
•
Hildebrandslied, 830
•
Isidor, Ende 8. Jhd, Latein & Ahd
9
•
Abrogans, Übersetzung Latein – Ahd, 2. Hälfte 8. Jhd (erstes Wort Abrogans)
Überblick:
•
2. Lautverschiebung
•
i-Umlaut
•
Artikel und Subjektpronomina
•
Neuerungen: Affrikaten
•
Charakteristika: immer noch volle Endsilbenvokale, tendenziell synthetischer Sprachbau,
Formenreichtum
2. (hochdeutsche) Lautverschiebung
Ungefähr 500 n. Chr. in Alpen
Hat sich unregelmäßig über mehrere Jahrhunderte nach Norden bis zur Benrather-Linie (machen
-maken) ausgebreitet
Ausschließlich germanische Verschlusslaute sind betroffen
Tenues – Spirantenwandel
Tenues – Affrikatenwandel
Nach Vokal
Im Anlaut, nach Konsonant
Germanisch →
Ahd
p/ t/ k
ff/ zz/ hh
skip
dat
scif
daz
Germanisch
p(p) /t(t) /k(k)
→
Ahd
pf/ tz/ kch
t zu tz → NICHT bei tr, ht, ft, st, überall
k zu kch → heute nur Oberdeuten, NICHT bei sk
p zu pf → unterbleibt bei sp
Mediae – Tenueswandel
Germanisch → Ahd
b/ d/ g
p/ t/ k
i-Umlaut
750 n. Chr.
Kombinatorischer Lautwandel, der auf regressiver, partieller Fernassimilation beruht
i oder j in Folgesilbe
10
„dunkle Vokale“ (a, o, u), zunächst kurzes a (Primärumlaut)
Westg.
satjan
→
Ahd
setzen
5. Einheit
Exkurs: Diachrone Phonologie
Lautwandel vs Lautwechsel
Lautwandel → Änderung unter diachroner Perspektive
→ spontaner (unbedingter) Lautwandel: unabhängig vom Kontext
→ kombinatorischer (bedingter) Lautwandel: anhängig von Umgebung
→ Phonetischer Wandel: Lautwandel, der nur phonetische Realisierung von Phonemen
betrifft
Lautwechsel → Änderung / Wechsel von Lauten innerhalb eines Morphems – synchrone
Perspektive
Bedingungen: lautliche Umgebung
Assimilation vs Dissimilation
Assimilation: Angleichung zweier oder mehrerer Laute auf lautliche Merkmale
a) Stellung
→ progressive Assimilation: nachfolgendes Segment wird an vorangehendes angepasst
→ regressive Assimilation: vorangehendes Segment wird an folgendes angepasst
b) Grad
→ partielle Assimilation: Segmente angepasst, aber bleiben unterschiedlich
→ totale Assimilation: Segmente durch Angleichung phonetisch identisch
c) Entfernung der Laute
→ Kontaktassimilation: unmittelbarer Kontakt
→ Fernassimilation: nicht unmittelbarer Kontakt
Dissimilation: von ähnlichen zu unähnlichen (lat. Venenum – itl. Veleno; Gift)
11
Primärumlaut
= Lautwandel von Ahd kurz a zu e, falls in der Folgesilbe ein i oder j vorhanden war
allen westger. Sprachen
Mitte 8. Jhd in die Schrift, Abschluss im 9. Jhd
Bsp.:
gast vs gesti
Hinderung:
Gesamtalthochdeutsch: zwischen a und i bzw. j der Folgesilbe Konsonantenverbindungen (ht, hs,
hh, rh)
Oberdeutsch: bei Konsonantenverbindungen (l+K, r+K, germ. h, ahd. h (germ. k)
Sekundärumlaut
= Umlautung aller dunklen Vokale, die vom Primärumlaut nicht erfasst wurden
auch, wenn umlautbewirkender Vokal nicht unmittelbar in der Folgesilbe
erst im Mhd verschriftlicht (ca. 11. Jhd), Umlautung überwiegend Ahd (8./9. Jhd)
→ NEUE PHONEME
Fortsetzung Exkurs: Diachrone Phonologie
Phonologischer Wandel
Phonetischer Wandel, d. h. Änderung der Aussprache (phonetische Realisierung von
Lauten) kann das Phonemsystem betreffen, muss aber nicht. Im letzteren Falle ist er als
außerphonologisch (rein phonetisch) zu klassifizieren, im ersten Falle als Phonemwandel
(phonologischer Lautwandel).
Ein phonologischer Lautwandel (Phonemwandel) ist gekennzeichnet
durch Veränderung des Phonemsystems. Dies kann durch Verminderung
oder Vermehrung der Anzahl der Phoneme geschehen oder aber durch
Veränderung ihrer Beziehungen zueinander.
Demnach können drei Typen von phonologischem Lautwandel als die wichtigsten
unterschieden werden:
•
•
•
Phonemverschiebung (Umphonologisierung)
Veränderung der Relation
Phonemspaltung (Variantenphonologisierung)
ein Phonem in mehrere neu
Phonemverschmelzung (Phonemzusammenfall)
weniger Phoneme
12
6. Einheit
„Sogenannter Rückumlaut“
Phänomen: umlautlose Präteritumformen stehen umgelauteten Präsensformen gegenüber
z.B. brennen - brannte
kennen - kannte
Erklärung: lang- und mehrsilbige jan - Verben wurden nur im Präsens umgelautet
→ keine Umlautung im Präteritum
z.B. got. brannjan (Präs) – brannida (Präteritum)
z.B
kurzsilbige jan – Verben: länger i-Erhalt → Umlaut Präteritum
Ahd nerian – nerita
Bezeichnung (J. Grimm) irreführend → nie Umlaut im Präteritum
Mittelhochdeutsch
1050 – 1350 n. Chr.
Frühmittelhochdeutsch 1050 - 1170
Klass. Mittelhochdeutsch 1170 - 1250
Spätmittelhochdeutsch 1250 – 1350
Erstmals Standardsprache → Rittertum (Hartmann v. Aue, Eschenbach,…)
Normalisiertes Mhd → Karl Lachmann: viele verschiedene Formen eines Wortes auf ein einziges
zusammengefasst
Vokalsystem des Mhd
3 kurze e-Laute (geschlossenes e= Primäruml.; offenes germ. Ë; sehr offenes ä = Sekundäruml.)
Wichtig:
- Einfache kurze Vokalzeichen (ohne “Dach”) werden auch kurz gesprochen! (z.B. tac, klagen,
loben, tugent, gëben)
- Aussprache der steigenden Diphthonge: 1. Komponente geschlossener als im Nhd.
- /ü:/ = <iu>, /ö:/ = <oe>, /ä:/ = <æ>
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Charakteristika des Mhd
•
•
•
•
•
Endreim löst Stabreim ab
Abschwächung voller Vokale in Nebensilben
Auslautverhärtung: im Auslaut und vor stimmlosen Konsonanten
verschriftlichter Sekundärumlaut
Palatalisierung des s vor c/k (11. Jh.) bzw. vor l, m, n, v, nach r und im Anl. vor t und p (ab
13. Jh.) // (am konsequentesten im süddeutschen Raum, s. etwa Kasten, Kasper)
7. Einheit
Mhd Verbkonjugation
Exkurs: starke vs schwache Verben
Starke Verben:
• aus idg „Grundtätigkeiten des Lebens“ (z.B. essen, schlafen, laufen, sterben)
• Präteritum wird durch Wurzelvokal (=Ablaut) gebildet
schwache Verben:
• seit germ. Zeit (meist Ableitungen wie Kausative)
• Präteritum durch Suffix -t (keine „innere Flexion“)
• Besonderheit der germanischen Sprachen
Ablaut
“Unter Ablaut versteht man den regelmäßigen Wechsel von Vokalen in etymologisch verwandten
Wörtern (Wurzelablaut) oder Wortteilen (Suffixablaut). Er beruht auf den Betonungsverhältnissen
im Idg. [...]. Musikalischer Akzent, d.h. unterschiedliche Tonhöhe, führte zur Herausbildung
unterschiedlicher Vokalqualitäten [...]; dynamischer Akzent, d. h. unterschiedliche Dauer, führte zur
Herausbildung unterschiedlicher Vokalquantitäten [...].”
(Schmidt 92004: 252)
Musikalischer Akzent: unterschiedliche Tonhöhe, führte zur Herausbildung unterschiedlicher
Vokalqualitäten
Dynamischer Akzent: unterschiedliche Dauer, führte zur Herausbildung unterschiedlicher
Vokalquantitäten
→ quantitativer und qualitativer Ablaut
14
Ablaut: Abstufungen
Quantitativer Ablaut („Abstufung“)
Ursprünglich 4 Stufen:
•
a) Vollstufe (Vokal stand an starkbetonter Stelle, durch qualitativen Ablaut 1. und 2. Volls.)
•
b) Dehnstufe (Vokal der Vollstufe gedehnt)
•
c) Reduktionsstufe (Vokal an schwachbetonter Stelle)
•
d) Schwand- und Nullstufe (Vokalschwund)
Qualitativer Ablaut (“Abtönung”)
Quantitativer und qualitativer Lautwechsel wurden für Konjugation starker Verben und für
Derivation bedeutsam
Ablaut im Indogermanischen und Germanischen
Idg
Es finden sich schon regelmäßige Vokalwechsel in etymologisch verwandten Wörtern/Wortteilen
Germ.
Ablaut wird systematisch für Konjugation der starken Verben und für Wortbildung (Ableitungen aus
Tempusstämmen) genutzt
→ Tempusformen durch Vokalwechsel (“innere Flexion”) und nicht durch Suffixe. Unterscheidung
von 7 Ablautreihen, die heute nur noch bedingt nachzuvollziehen sind
Ablaut im Mhd
Obwohl aufgrund verschiedener Lautwandelprozesse die Unterschiede zwischen qualitativem und
quantitativem Akzent nicht oder nur schwer zu erkennen sind, ist der Ablaut immer noch ein
wichtiges Mittel der Konjugation
Stammformen
1. Stammform (Präsensstammform)
→ Präsens (Ind. + Konj.) + Imperativ = Infinitivstammvokal
(Abweichungen: 1./2./3. Präs. Ind. + Imp. Sg. = Alternanzen, z. B. Umlaut!
→ mitunter Angabe von 2 Stammformen)
15
2. Stammform
→ Sg. Prät.Ind. für 1.+3. Person
3. Stammform (gegebenenfalls gramm. Wechsel!)
→ Pl. Prät.Ind. + 2.Sg. Prät.Ind. (gegebenenfalls Umlautung) + Konj. Prät.
4. Stammform
→ Part. Prät.
Ablautreihen
16
„Mischverben“ bringen und beginnen
- im Präsens: regelmäßig starke Flexion (Klasse IIIa)
- im Präteritum: zum Teil stark, zum Teil schwach
→ bringen – bringe – brâhte – (ge)brâht (mitunter branc – brungen)
→ beginnen – beginne – began/begunde – begunnen (Mhd begunst/begonst)
„Präterito-Präsentien“
Phänomen: Starke Verben, die Formen des Präteritums aufweisen, aber präsentische Bedeutung
haben (in Pl. Präs. ist Umlaut eingedrungen). Neues Prät. wird schwach gebildet
Erklärung: Ursprüngliches Präsens ist verloren gegangen und Präteritalform hat Präsensbedeutung
angenommen
Ablautreihe
1. Sg. Präs.
1. Pl. Präs. (Inf.)
1. Sg. Prät.
nhd. Inf.
Ia
weiz
wizzen
wisse, wesse,
wiste, weste
wissen
IIa
touc
tugen, tügen
tohte
taugen
IIIa
kan
kunnen, künnen,
gunnen, günnen
kunde, konde,
gunde, gonde
können
gönnen
dorfte
(be-)dürfen
(ge-)tar
durfen, dürfen
turren, türren
(ge-)torste
wagen
IV
sal, sol
suln, süln
solde, solte
sollen
V
mac
mugen, mügen,
magen, megen
mahte, mohte
vermögen
VI
muoz
muozen, müezen
muose, muoste
müssen
gan
IIIb
darf
→ Zuordnung zu den ersten 6 Ablautreihen der starken Verben ist möglich.
Ausnahme: Formen der 4./5. Ablautreihe haben im Pl. ein /u/ (Bsp. suln, mugen)
17
Mhd wellen
•
•
Besonderheiten in Formenbildung beruhen auf Modusverschiebung
„Seit alters wird der Ind. Präs. dieses Verbs durch Optativformen gebildet, weil die
Wunschform in der Rede vorherrschte […]. Zu dem neuen Ind. ist dann wieder ein Konj.
gebildet worden, ebenso ein sw. Prät.“
23
(Paul 1989: 267)
Mhd. Verbkonjugation (Wiederholung und Zusammenschau)
•
•
•
•
•
•
•
starke Verben: siehe „Ablautreihen“
schwache Verben mit „sog. Rückumlaut“: z. B. brennen
„Mischverben“: z. B. bringen
„Präterito-Präsentien“: z. B. kunnen, suln
Sonderfall wellen
„Wurzelverben“: s.u.
„ganz normale“ schwache Verben
„Wurzelverben“
Thematisch vs athematisch
thematisch → (gewöhnliche) Form der idg Präsensbildung mit einem Thema zwischen Wurzel und
Endung
athematisch → Im Gegensatz dazu bilden die Wurzelverben ihr Präsens ohne Thema. Dabei tritt
die Endung unvermittelt an die Wurzel – die Formen bestehen also nur aus Wurzel und Endung
und sind entsprechend kürzer
Der thematisch gebildeten 2. Pl. Ind. Präs. idg. *nem-e-te > mhd. nëmet steht so
athematisch idg. *dô-te > mhd. tuot gegenüber
Allgemein zu bemerken ist noch, dass alle Wurzelverben die 1. Sg. Ind. Präs. Mhd mit der Endung
-n (aus germ. -m < idg. *-mi) bilden, was sich noch erhalten hat in nhd. ich bin. Man spricht daher
auch von -mi-Verben)
Wortform
idg. *nemete (2. Pl. Ind. Präs. ‚ihr nehmt’)
Stamm
Affix (z.B. Personalendung)
*nem-e-
*-te (2. Pl.)
Wurzel
Thema (Stammbildungselement)
*nem-
-e
18
Beispiel: Mhd (ir) nëmet (2. Pl. Ind. Präs.) < idg. *nemete
- Personalendung für die 2.Pl.: *-te (*-si für 2.Sg. oder *-ti für 3.Sg.)
- Wurzel *nem- (Grundmorphem mit eigentlicher lexikalischer Information).
Die Wurzel steckt in allen Flexionsformen des Verbs (im Ablaut gedehnt als *nām- > ahd.
nâm-, abgeschwächt als nøm- > ahd. num- und abgetönt als *nom- > ahd. nam-), aber auch
in Substantivableitungen wie nhd. (Auf-)nahm-e oder (Ver-)nun-ft (ahd. -num-ft). Sie ist
gemeinsames Element der idg. Wortfamilie *nem- Thema: zwischen Wurzel *nem- und Endung *-te. Das Thema bildet in allen idg.
Präsensformen des Verbs (mitunter auch ablautend als -o-) zusammen mit der Wurzel eine
Einheit: Stamm *nem-e- (bzw. im Ablaut abgetönt: nem+o-).
→ Thema (Themata) = Stammbildungselement
Athematisch: Wurzelverb tuon
Indikativ
Konjunktiv
tuon
tuon
tuo
tuon
tuost
tuot
tuost
tuot
tuot
tuont
tuo
tuont
tëte
tâten
taete
taeten
taete
tâtet
taetest
taetet
tëte
tâten
taete
taeten
Athematisch: Wurzelverb sîn
Indikativ
Konjunktiv
bin
birn, sîn
sî, wëse
sîn, wësen
bist
birt, sît
sîst, wësest
sît, wëset
bit
sint
sî, wëse
sîn, wësen
was
wâren
waere
waeren
waere
wâret
waerest
waeret
was
wâren
waere
waeren
19
Auslautverhärtung
•
/b/, /d/, /g/ > im Wortauslaut /p/,/t/, /k/
•
Mhd. wechseln im Flexionsparadigma desselben Wortes/Stammes
die stimmhaften Plosive /b/, /d/, /g/ mit den stimmlosen Plosiven
/p/, /t/, /c/ in Abhängigkeit davon, ob sie im Wortinneren oder
auslautend (Wort- oder Silbenauslaut) vor -t stehen
•
Zeitliche Einordnung: beim Übergang von Ahd. zu Mhd.;
•
bis heute vorhanden, allerdings nur in der Lautung (!), denn siehe
nhd. Graphiekonventionen (etymologische Schreibung, sog. „Analogieausgleich“)
•
nhd. <Hund>/<Hund(e)s>, <Tag>/<Tages>, <Lob>/ <Lobes > vs. mhd. <hunt>/<hundes>,
<tac>/<tages>, <lop>/<lobes>
8. Einheit
Frühmittelhochdeutsch
1050 – 1150
- „Ezzolied“ (um 1065)
- „Annolied“ (um 1090)
- „Alexanderroman“ (um 1130)
Klassisches Mittelhochdeutsch
1150-1250
- Hartmann von Aue: „Erec“ (1180/1190), „Der arme Heinrich“ (ca. 1190) u.a.
- Gottfried von Straßburg: „Tristan“ (um 1210)
- Wolfram von Eschenbach: „Parzival“ (um 1200/1210)
- Walther von der Vogelweide (1170-1230): Minnelieder und Sangspruchdichtung
Spätmittelhochdeutsch
1250-1350
- Meister Eckart (1260-1328?): „Mystische Schriften“
- Albrecht von Scharfenberg: „Der jüngere Titurel“ (um 1260/1270)
- Johannes Hadlaub: Minnelieder (vor 1340)
20
Frühneuhochdeutsch
1350 – 1650 n. Chr.
„Zwischen meiner darstellung des mittel- und neuhochdeutschen wird eine lücke empfindlich seyn:
mannigfaltige übergänge und abstufungen hätten sich aus den schriften des vierzehnten so wie der
drei folgenden jahrhunderte sammeln und erläutern laßen; [...] da sich aber keine blühende poesie
gründete, konnten niedersetzungen der sprache, wie sie zur aufstellung eigner perioden nöthig
sind, auch nicht erfolgen. Die schriftsteller dieser zwischenzeit vergröbern stufenweise die frühere
sprachregel und überlassen sich sorglos den einmischungen landschaftlicher gemeiner mundart.“
(Jacob Grimm (1822): Deutsche Grammatik, 2. Aufl.)
Extralinguistische Prozesse
Urbanisierung (seit 13. Jh.) und damit verbunden
• Expansion kommunaler Verwaltungen und Kanzleien → “Kanzleisprachen”,
“Geschäftssprachen”, „Handelssprachen“
•
15. Jh.: Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg
(Mainz), zwei Ablassbriefe als erste Druckwerke aus 1454
•
um 1500: ca. 1100 Druckereien in europäischen Städten → Entstehung von
regionalen/städtischen “Druckersprachen”
Reformation: Bedeutung des Ostmitteldeutschen durch Luthers Bibelübersetzungen und andere
Schriften
• 1522 „Neues Testament“
• 1534 Bibel (Nachdrucke 1535, 1536, 1538)
• 1541 neue, überarbeite Ausgabe
• 1545 Ausgabe „letzter Hand”
Bildung/Wissenschaft:
• Universitätsgründungen (ab 14. Jh.: 1348 Prag, 1365 Wien, 1386 Heidelberg, 1388 Köln,
1392 Erfurt usw.)
• Entstehung neuer Kulturzentren (neben kirchlichen und adligen Zentren wie Klöster,
Fürstenhöfen), vom Bürgertum getragen
Linguistische Prozesse
Fnhd. Diphthongierung
• mîn niuwez hûs > mein neues Haus (ab 12. Jh.)
• allmählicher Phonemzusammenfall mit alten germ. Diphthongen /ei/, /ou/, öu/
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Diphthongierung (Schriftbelege!)
12. Jh.: Südtirol und Kärnten
13. Jh.: Österreich und Bayern
14. Jh.: Ostfranken, Böhmen und Schlesien
15. Jh.: Schwaben und Sachsen
16. Jh.: Ober- und Mittelrheingebiet (partiell)
Fnhd. Monophthongierung
• liebe guete brüeder > liebe gute Brüder (ab 11./12. Jh.)
• mitteldeutsch, aber nicht durchgeführt im Alemann. + Bair.
Fnhd. Diphthongwandel
• mhd. /ei/, /öu/, /ou/ > /ai/, /äu/, /au/ (Senkung des Onsets)
Dehnung in offener Tonsilbe
• “offene Tonsilbe” = vokalisch endend (z. B. Ta-ge)
• “geschlossene Tonsilbe” = konsonantisch endend (z. B. dach-te)
• Dehnung der kurzen mhd. Vokale in offener Silbe (nemen > nehmen), aber nicht in geschlossener
(nim > nimm), zum Nhd. hin teilweise Ausgleich durch Analogie (s. etwa fnhd. tag – tage > nhd.
[ta:k] – [ta:gə])
• niederdt.: Kürze oft erhalten
9. Einheit
Nebensilbenschwund
• Apokope: Schwa-Ausfall im Wortauslaut (z.B. danne > dann, unde > und)
• Synkope: Schwa-Ausfall im Wortinnern (z.B. angest > Angst)
Rundungsprozesse (mitunter !)
• /e/, /i/, /â/ > (mitunter) /ö/, /ü/ /o/ (z.B. helle > Hölle, âne > ohne)
Entrundungsprozesse (mitunter !)
• z. B. mhd. küssen = nhd. küssen (sw. V.) und Kissen (Subst.)
Vokalsenkung vor Nasal
• /u/, /ü/ _Nasal > /o/, /ö/: z. B. sumer > Sommer, künic > König, sunne > Sonne
22
Neuhochdeutsch
1650 – heute
Standardisierung des Neuhochdeutschen
Phase 1
Phase 2
Phase 3
Phase 4
Frühneuhochdeutsch
Älteres
Neuhochdeutsch
Jüngeres
Neuhochdeutsch
Gegenwartsdeutsch
(ab 1350)
(ab 1650)
(ab 1800)
(ab 1945)
Entstehung, erste
Etablierung und Beginn
der Ausbreitung, mit
Schwergewicht im
mitteldeutschen Osten
Ausbreitung und
Festigung über gesamtes deutsches
Sprachgebiet, mit
entscheidender
Normierung
Allgemeine Gültigkeit Öffnung in sozialer,
und weitere
sprechsprachlicher und
Normierung, u.a. in der regionaler Hinsicht
Orthographie
In Anlehnung an:
Stefan Sonderegger (1979): Grundzüge deutscher Sprachgeschichte. Diachronie des Sprachsystems. Diachronie des Sprachsystems. Band 1:
Einführung – Genealogie – Konstanten. Berlin, New York, S. 174.
Neuhochdeutsch (17. Jh.)
München „Ordentliche Wochentliche Post-Zeitungen“, 1659
Auff das 1659. Jahr.
Auß Dantzig/ vom 16. Novembr.
JHre Königl. Mayest. in Polen/ seynd mit dero Hofstatt zu Bromberg angelangt/ woselbst die
Polnisch: vnnd Brandenburgische Ambassadores die Zuruckkunfft deß Frantzösischen Monsieur
Akakia erwarten/ zuvernemmen/ ob die Schweden in den/ zur bevorstehenden Fridenshandlung/
zu Oliva gelegten Orth einwilligen werden: Jnzwischen werden in hiesigen Vorstätten für die
erwartende Herrn darab der Groß-Cantzler berait angelangt/ die Logiamenter bestelt.
Neuhochdeutsch (18. Jh.)
Wiener Zeitung, 1780
Mit k.k. allergnädigster Freyheit.
Mittwochs, den 5. Heumonat 1780.
Lissabon den 23. May.
Voriges Jahr ist erzählt worden, daß zu Palmetta von Kirchenräubern die heilige Geschirre
hinweggeraubet, auch die heilige Hostien und das heilige Oel auf den Boden ausgeschüttet
worden. Diese Bösewichte sind nun zur gebührenden Strafe gezogen worden, sie wurden auf einer
Ochsenhaut, so an einen Pferdschweif gebunden war, zu den Richtplatze hingeschleppet, als ihnen
23
auf der Richtstätte die Hände sollten abgehauen werden; hat der Vorsteher der Gesellschaft der
Barmherzigkeit ihnen die Nachlassung dieser Strafe von ihrer Majestät erbothen. Sie wurden also
aufgehängt, nach ihrem Tod ihnen die Hände abgehauen, die Körper in das Feuer geworfen,
verbrannt, und die Asche in die Luft gestreuet. Der, so bey Ausübung des Kirchenraubes Wache
gehalten, ist aufgehängt, und sein Kopf samt den Händen der übrigen Kirchenräuber nach Palmetta
gebracht worden, um zum Schrecken derley Missethäter öffentlich ausgesetzt zu werden.
Standardisierung des Neuhochdeutschen
„Mit der schrittweisen Etablierung einer überregionalen Ausgleichsvarietät (neuhochdeutsche
Standardsprache), besonders aber durch die Herausbildung einer eigenen Oralisierungsnorm
dieser Varietät, erhielten die Dialekte erst den Gegenpol, der sie als systemisch different und areal
begrenzt ins Bewußtsein treten ließ. […] Der Standardisierungsprozeß des Neuhochdeutschen war
[...] nicht nur die historische Bedingung der Wahrnehmung des Dialektes als arealer Varietät des
Deutschen, sondern er war zugleich Auslöser für die Verlagerung des Domänenspektrums des
Dialektes.“
(Herrgen 2001: 1515)
Charakteristika des Neuhochdeutschen
•
r-Vokalisierung, Entstehung silbischer Konsonanten
•
Abbau des synthetischen Konjunktivs (I und II)
•
Ausbau von würde+Infinitiv
•
fortschreitender Präteritumsschwund
•
weitere Numerusprofilierung und Kasusnivellierung am Substantiv
•
Ausbau und Verbreitung des Rezipientenpassivs
•
seit 1902: Orthographie (zahlreiche Reformen)
•
tiefes, komplexes, leserfreundliches Schriftsystem
(vgl. Nübling [u. A] 32010: 6)
10. Einheit
Block II - Prinzipien des Sprachwandels: Prinzipien
phonologischen Wandels
24
Literatur, vor allem:
- Nübling, Damaris [u. a.] (2010): Historische Sprachwissenschaft des Deutschen. Eine Einführung
in die Prinzipien des Sprachwandels. 3., überarb. Aufl. Tübingen: Narr.
- Schmidt, Wilhelm (2007): Geschichte der deutschen Sprache. Ein Lehrbuch für das
germanistische Studium. 10., verb. und erw. Aufl., erarb. unter der Leitung von Helmut Langner
und Norbert Richard Wolf. Stuttgart: Hirzel.
Das Ahd. als Silbensprache
„Das Deutsche hat in seiner ca. 1500-jährigen Geschichte einen grundsätzlichen Wandel von einer
Silben- zu einer Wortsprache erfahren […]. Während das Ahd. (500-1050) eine klare Silbensprache
ist, bildet sich im Mhd. (1050-1350) eine wortsprachliche Tendenz heraus. Seitdem unterliegt das
phonologische Wort einer ständigen Optimierung, während die phonologische Silbe nach und nach
verschlechtert wird.“
(Nübling [u. a.] 32010: 21)
Subthemen
• i-Umlaut
• 2. Lautverschiebung
→ von mir nicht extra nochmal notiert
„Die Silben in metrischen Bäumen werden nicht zu beliebigen Komplexen zusammengefasst,
sondern zur höheren prosodischen Einheit (metrischer >Fuß<) […]. Der Fuß bildet eine Einheit,
die genau eine betonte (starke) Silbe enthält und darüber hinaus beliebig viele unbetonte
Silben.“
(Meibauer, Jörg [u. a.] (22007): Einführung in die germanistische Linguistik. 2., aktualisierte
Auflage. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 117)
„Eine Silbe ist so gebaut, dass das sonorste Segment (V: Vokal) ihr Zentrum (den sog. Nukleus)
bildet. Die restlichen Segmente (C: Konsonanten) sind so angeordnet, dass sie umso näher am
Vokal stehen, je höher ihre Sonorität ist. Auf diese Weise hat eine Silbe einen kurvenförmigen
Sonoritätsverlauf (Selkirk 1984: 116).“
(Nübling [u. a.], 32010: 15f.)
„Sonorität“: Bündel aus Öffnungsgrad + Schallintensität + Lautstärke
(vgl. Meibauer [u. a.], 22007): 108)
„Erleichterung“
„Die Silbe und das phonologische Wort unterscheiden sich nicht nur durch ihre Größe (die Silbe ist
eine Baustein des phonologischen Wortes). Vielmehr dienen sie den gegensätzlichen Interessen
der Kommunikationsteilnehmer. Der Sprecher ist an einfacher Aussprache interessiert. Daher sind
für ihn einfache (also optimale) silbische Strukturen von Vorteil. Im Gegensatz dazu liegt dem
Hörer viel daran, das Gesagte schnell und ohne größeren Aufwand zu verstehen. Dies ermöglicht
ihm eine Hervorhebung der Inhaltsstruktur, die durch eine klare Signalisierung der Wortgrenzen
25
erreicht wird. Die Silbe dient also der Sprachproduktion, während das phonologische Wort die
Sprachrezeption erleichtert.“
(Nübling [u. a.] 32010: 17)
Silben- und Wortsprachen
„Das Nhd. ist eine Sprache, in der hörerfreundliche Strategien überwiegen, die die
Inhaltsstrukturen exponieren. Man bezeichnet solche Sprachen als Wortsprachen. Wenn hingegen
eine einfache Aussprache im Vordergrund steht, spricht man von Silbensprachen (z. B. Spanisch).
In Wortsprachen wird daher mit verschiedenen phonologischen Mitteln das phonologische Wort
verdeutlicht. Im Gegensatz dazu konzentrieren sich Silbensprachen auf die Verbesserung der
phonologischen Silbe (s. Auer 1994, 2001). Meist geht das eine auf Kosten des anderen.“
(Nübling [u. a.] 32010: 17)
Silbensprache
„[F]ür die Dichotomie „silben- vs. akzentzählend“ [ist] verschiedentlich beansprucht worden, dass
sie stark prädiktiven Wert für andere phonologische Eigenschaften von Einzelsprachen hat, mithin
also über die reine Klassifikation hinausgehend als Grundlage einer typologischen Unterscheidung
dienen kann.“
(Auer 2001: 1391)
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11. Einheit
Silben- vs Wortsprache
(Nübling [u. a.] 32010: 21)
Das Ahd. als Silbensprache
„Das Deutsche hat in seiner ca. 1500-jährigen Geschichte einen grundsätzlichen Wandel von einer
Silben- zu einer Wortsprache erfahren […]. Während das Ahd. (500-1050) eine klare Silbensprache
ist, bildet sich im Mhd. (1050-1350) eine wortsprachliche Tendenz heraus. Seitdem unterliegt das
phonologische Wort einer ständigen Optimierung, während die phonologische Silbe nach und nach
verschlechtert wird.“
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