Referat Dr. Klara Obermüller, Symposium Spital Männedorf, 17

Symposium Spital Männedorf, 17.6.2016
Umsorgt, nicht versorgt – Wie ich mir das Leben im hohen Alter vorstelle
von
Klara Obermüller
Wenn man die Leute fragt, wie sie ihren letzten Lebensabschnitt zu verbringen
wünschen, dann antworten viele (nicht alle): selbstbestimmt und, wenn immer
möglich, in den eigenen vier Wänden. Ich kann diese Vorstellung gut nachvollziehen.
Auch ich möchte bis an mein Lebensende autonom bleiben. Auch ich liebe meine
Wohnung mit ihren Büchern und Bildern und möchte sie so lang, als es nur geht,
behalten. Allerdings nicht um jeden Preis.
Ich habe bei meiner Mutter gesehen, wie es ist, wenn ein alter Mensch sich mit
Händen und Füssen dagegen wehrt, die eigene Wohnung aufzugeben und in ein
Heim zu gehen. Meine Mutter war schon kränklich gewesen, bevor mein Vater starb.
Nach seinem Tod aber konnte sie das Haus nicht mehr ohne fremde Hilfe verlassen.
Sie ass kaum mehr, sass nur noch rum, fühlte sich nutzlos und grämte sich. Besuch
bekam sie nur selten. Sie war nie sehr gesellig gewesen. Jetzt fehlten die
Freundschaften, die sie nie gepflegt hatte. Ich als ihre einzige Tochter besuchte sie
regelmässig und rief sie täglich mehrmals an. Gegen ihre fortschreitende Isolation
jedoch war ich machtlos. Die Einsamkeit machte ihr mehr zu schaffen als all ihre
körperlichen Leiden. Meine Mutter ist an den Folgen einer Operation im Spital
gestorben. Der Eintritt in ein Heim blieb ihr erspart.
Ganz anders war es bei meiner Schwiegermutter. Bei ihr war ein Umzug ins
Altersheim infolge eines schweren Sturzes und einer zunehmenden
Makuladegeneration unumgänglich geworden. Sie sträubte sich ein bisschen,
schickte sich aber bald ins Unvermeidliche. Das Altersheim befand sich in ihrem
vertrauten Quartier. Trotz ihrer Sehbehinderung fand sie sich rasch in dem Haus
zurecht. Im Zimmer standen ihre eigenen Möbel, und sie hatte Gesellschaft. Da sie
geistig noch absolut auf der Höhe war, kümmerte sie sich um hilflose
Mitbewohnerinnen und hörte den Schwestern zu, wenn sie Liebeskummer hatten.
Meine Schwiegermutter lebte nach den ersten Monaten im Heim richtiggehend auf.
Und als sie im hohen Alter an Krebs erkrankte, wurde sie auf die Pflegeabteilung
verlegt, wo sie in vertrauter Umgebung sterben durfte.
Ich erzähle Ihnen dies, weil es solche Erfahrungen sind, die meine eigenen
Vorstellungen vom Lebensende geprägt haben. Selbstbestimmt, ja, in den eigenen
vier Wänden, ja. Was aber ist, wenn eine Erkrankung der Selbstbestimmung
Grenzen setzt und der Verbleib in der eigenen Wohnung nur um den Preis
zunehmender Isolation zu haben ist?
Schon jetzt fragen sich mein Mann und ich manchmal, wie es wohl sein wird, wenn
wir eines Tages hilfsbedürftig und gebrechlich sein sollten. Wer betreut uns dann?
Wo finden wir Aufnahme und Unterstützung? Wir haben keine Kinder, auf die wir
bauen könnten. Wir haben nur uns. Und eines fernen Tages nicht einmal mehr dies.
Angesichts all dieser offenen Fragen kann man die Hände in den Schoss legen und
einfach abwarten, was auf einen zukommt. Mein Mann und ich sind einen anderen
Weg gegangen. Wir haben vor vier Jahren unsere grosse Maisonette-Wohnung
aufgegeben und uns ein kleineres, altersgerechteres Logis gesucht. Der Wechsel
war nicht einfach. Wir mussten von vielem Abschied nehmen. Am Ende aber war es
befreiend – und eine gute Vorbereitung auf die vielen Abschiede, die uns mit
Sicherheit noch bevorstehen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir uns in ein paar
Jahren noch einmal verkleinern und dann vielleicht in eine Alterswohnung mit
angeschlossener Pflegeeinrichtung ziehen, wo wir notfalls auch Unterstützung finden
und fremde Hilfe in Anspruch nehmen könnten. Und wo eins von uns beiden – auch
dies gilt es zu bedenken – notfalls auch alleine wohnen bleiben könnte.
Der Gedanke, von andern Menschen abhängig zu sein, hat zunächst etwas
Bedrückendes. Wir haben im Laufe unseres Lebens gelernt, für uns alleine zu
sorgen. Wir sind darauf getrimmt, über alles und jedes zu verfügen – auch über das
Leben selbst. Bei Krankheit und im hohen Alter stösst diese Verfügungsgewalt
jedoch unweigerlich an ihre Grenzen, und wir erleben, was es heisst, auf andere
angewiesen zu sein. Hilfe anzunehmen, ist nicht immer einfach, ich weiss. Aber man
kann es üben im Wissen, dass wir alle am Ende unseres Lebens wieder zu dem
hilfsbedürftigen Wesen werden, das wir an dessen Beginn schon einmal waren.
Umgehen lässt sich diese Erfahrung des Angewiesenseins auf andere nur durch
einen plötzlichen Tod oder durch Inanspruchnahme einer Organisation, die dem
Prozess des Sterbens ein vorzeitiges Ende setzt. Im Gegensatz zu vielen meiner
Freunde und Bekannten bin ich nicht Mitglied bei Exit und habe auch nicht im Sinn,
es zu werden. Es sind nicht religiöse Gründe, die mich davon abhalten, den Zeitpunkt
meines Todes selbst bestimmen zu wollen. Ich möchte nur einfach mein Leben sich
vollenden lassen, wie es begonnen hat: ohne mein Dazutun. Ich möchte es nicht
abwürgen, ich möchte es aber auch nicht künstlich verlängern. Darum setze ich auf
palliative Pflege und hoffe, dass mir dereinst in einer solchen Einrichtung ein Sterben
in Würde möglich gemacht wird.
Als ich den Organisatoren dieser Tagung vor Wochen den Titel meines Referates
bekannt geben musste, war mir noch nicht ganz klar, wie ich das Thema angehen
würde. Auf die Formel „Umsorgt, nicht versorgt“ bin ich schliesslich gekommen, weil
sie in aller Kürze auf den Begriff bringt, was mir wichtig ist. In jedem der beiden
Partizipien „umsorgt“ und „versorgt“ steckt das Wort Sorge: einmal im Sinne von sich
kümmern um jemanden, das andere Mal im Sinne von beiseite schaffen. Der Begriff
„umsorgen“ hüllt ein, der Begriff „versorgen“ grenzt aus. Lange Zeit wurden
Menschen versorgt, die von der Gesellschaft aus irgendeinem Grund als störend
empfunden wurden. Man versorgte Kinder, deren Eltern als asozial galten, man
versorgte Psychischkranke, die durch abweichendes Verhalten auffielen, man
versorgte Straffällige, die eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellten. Und man
versorgte Alte, die hilflos geworden waren und der Gemeinschaft zur Last fielen.
Hinter dem Konzept des Versorgens steckt etwas Bevormundendes. Wer versorgt
ist, hat zwar ein Dach über dem Kopf, eine geheizte Stube und in der Regel genug
zu essen. Das Recht jedoch, über sich selbst zu bestimmen, hat er verwirkt. Ganz
anders ergeht es denjenigen, die umsorgt werden. Sie sind nicht nur gut aufgehoben,
sie haben auch Menschen um sich, die sich um sie kümmern, ohne sich über ihre
Bedürfnisse hinwegzusetzen. Es mögen feine Unterschiede sein, aber sie scheinen
mir wesentlich, wenn es um die Betreuung alter Menschen in unserer Gesellschaft
geht.
Was heisst das nun für mich persönlich? Im Moment können mein Mann und ich
noch gut für uns selber sorgen und uns gegenseitig unterstützen, wenn es mal nötig
ist. Für den Fall aber, dass ich allein zurückbleiben und auf fremde Hilfe angewiesen
sein sollte, weil meine körperlichen oder auch meine geistigen Kräfte mich verlassen
haben, wünsche ich mir ein sorgendes Umfeld, das mich auffängt und mir im
Rahmen der gebotenen Möglichkeiten erlaubt, ich selbst zu bleiben. Eine zeitlang
mag das mit Hilfe von Betreuungsdiensten im eigenen Haushalt möglich sein. Wenn
aber auch das nicht mehr geht, hoffe ich, in einem Alters- oder Pflegeheim Aufnahme
zu finden, das es mir erlaubt, mein Leben so weit als möglich nach eigenen
Vorstellungen und Wünschen weiterzuführen. Das muss keine luxuriöse
Seniorenresidenz sein. Ich weiss, dass ich mir eine solche nicht leisten kann. Es
reicht mir ein Zimmer in einem kommunalen Alters- oder Pflegezentrum, das ich mit
ein paar Möbeln und Büchern und dem einen oder anderen Bild zu meinem eigenen
machen kann. Dorthin möchte ich mich zurückziehen können, wenn ich für mich sein
will. Dort möchte ich aber auch die Kraft schöpfen, die ich brauche, um Anteil
nehmen zu können am Leben anderer.
Wichtiger als Komfort sind mir Menschen – Ärzte, Pflegepersonal –, die mich auch
noch im hohen Alter als Individuum mit spezifischen Erfahrungen, Kompetenzen und
Interessen wahrnehmen und bei meiner Betreuung auf diese biographischen
Besonderheiten auch eingehen. Zu meiner Bographie gehört die Liebe zur Literatur
ebenso wie das Interesse an klassischer Musik und bildender Kunst. Ich wünschte
mir, dass sie auch in der letzten Phase meines Lebens eine Rolle spielen und ich
Menschen um mich habe, die diese Vorlieben mit mir teilen.
Aus der unlängst von der Universität Heidelberg durchgeführten Hochaltrigkeitsstudie
wissen wir, dass Menschen sich auch im hohen Alter nichts mehr wünschen, als am
Leben anderer Anteil nehmen und sich um das Wohlergehen anderer, insbesondere
der Angehörigen nachfolgender Generationen, kümmern zu können. Und wir wissen
auch, dass sie sich umgekehrt vor nichts so sehr fürchten wie vor der Vereinsamung
und dem Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Ich kann ich diese Wünsche bzw.
Ängste gut nachvollziehen. Mir macht jetzt schon der Gedanke zu schaffen, dass
sich eines Tages niemand mehr für mich interessiert und keine jüngeren Kollegen
mehr da sind, die ab und zu noch etwas von mir wissen wollen. Jemand sein, auch
für andere, scheint mir ein menschliches Grundbedürfnis zu sein, das nicht einfach
verschwindet, nur weil der Körper klapperig oder der Kopf vergesslich geworden ist.
Manchmal denke ich sogar, es sei wichtiger als die viel beschworene
Selbstbestimmung, die angesichts fortschreitender Gebrechlichkeit ohnehin illusionär
zu werden droht.
Wenn ich das sage, habe ich das Beispiel einer alten Bekannten meiner Eltern vor
Augen, die geistig fit, aber körperlich schwerst behindert, ihre letzten Jahre im viel zu
kleinen Doppelzimmer eines Zürcher Pflegezentrums verbrachte und dort, allen
Einschränkungen zum Trotz, auf ihren Bedürfnissen und Interessen mit zähem
Eigensinn beharrte. Auf einem schmalen Regal rund ums Bett standen die wenigen
ihr noch verbliebenen Bücher und Hörkassetten, und in einem winzigen
Kühlschrank verwahrte sie – gegen den erklärten Widerstand der Pflegleitung – jene
Champagner-Fläschchen, mit denen sie ihre Gäste zu bewirten pflegte. Ich gedenke
dieser lebenszugewandten alten Frau, die bis zuletzt an allem Anteil nahm und nie
jammerte, mit grosser Bewunderung. Sie sass im Rollstuhl, ihr Kopf schaute kaum
mehr über die Lehne hinaus, aber ihre Augen blitzten, und sie bot ein Bild
selbstbestimmten Lebens, obwohl sie für die einfachsten Handreichungen auf fremde
Hilfe angewiesen war.
Mir ist diese Frau mit zunehmendem Alter immer mehr zum Vorbild geworden. Diese
Haltung, diese Würde, diese Gelassenheit auch – ich wünschte mir, es ihr gleich zu
tun. Ich wünschte mir dann aber auch ein pflegendes, betreuendes, sorgendes
Umfeld, das mich, selbst wenn ich gebrechlich oder gar dement geworden sein sollte,
noch immer als die Person wahrnimmt, die ich einmal gewesen bin.