Conrad von Soest, Anbetung der Könige, Marienaltar in der

Conrad von Soest, Anbetung der Könige, Marienaltar in der
Marienkirche Dortmund, um 1420.
Das Bild versetzt uns in einen reich geschmückten Thronsaal. Die Vertreter der ganzen
Menschheit, drei Könige – ein junger, ein alter und einer mittleren Alters – beten den neu
geborenen Heiland der Welt an. Zwei Könige – der alte und der mittleren Alters – knien auf
den seitlichen Stufen des Thrones, der junge steht daneben, assistiert von seinem Knappen.
Maria sitzt als himmlische Königin in der Mitte des Throns, dessen gerundete Mittelstufe
hervortritt. Das Jesuskind ruht halb aufgerichtet auf ihrem Schoß.
Der Hintergrund in Gold: Durch den Goldgrund schimmert eine Struktur, die geflügelte
Wesen mehr ahnen als erkennen lässt. In den Goldgrund hinein ragt Marias Heiligenschein.
Über der Gottesmutter schweben drei Engel auf einer dunkelblauen Wolke herab, mit
liebevoll achtsamem Blick ihr zugewandt.
Der Thronsaal ist mit einer roten Stofftapete bespannt, die reiche Goldornamente aufweist:
Sterne und eine komplizierte Form, die aus einem kräftigen, von wilden Fabeltieren
flankierten Unterbau, einer m-förmigen Vase oder Urne („m“ wie Maria) und einer darüber
ausufernden arabesken Pflanzenkomposition (aus Lilien) mit einem inneren
Fruchtbarkeitskern besteht. Stern, Lilie, Wildtiere und Fruchtkern sind marianische Symbole.
Sie unterstreichen die Menschwerdung des Gottessohnes.
Eine ähnliche Pflanzenkomposition aus Lilien (ohne die „m“-Vase und das wilde Fabeltier)
findet sich auch als Ornament auf dem reich durchwirkten Hermelinmantel des alten Königs.
Sie wechselt sich mit jeweils zwei blauen Drachen und einem weißen Greifvogel ab. Auch
dies symbolische Hinweise auf Christus und Maria. Der Mantel des Königs mittleren Alters
trägt als besonderes Symbol Mariens einen „Hortus conclusus“ (verschlossener Garten) – ein
Motiv, das aus dem Hohelied stammt und dort weibliche Keuschheit bedeutet: zu sehen sind
hier ein sich S-förmig in die Höhe rankender Baum, ein wildes Fabeltier, das sich auf seine
Hinterhufe erhoben hat und an dem Baum hochzuspringen scheint, und eine mit Latten
umschlossene Kreisfläche – besonders sinnfälliger Hinweis auf die in der geistigen
Vereinigung mit Christus geschehene Bändigung der Leidenschaften der menschlichen Natur.
Auch der junge König ist mit marianischen Symbolen geschmückt: An der Seite trägt er ein
elfenbeinernes Jagdhorn, eine Anspielung auf die Einhornjagd, in der mittelalterlichen Kunst
ein Bild für die Menschwerdung. Das Umhängegurt, an dem es hängt, ist mit lauter „m“s
bestickt. Die große Mantelschließe trägt ebenfalls ein großes weißes eingewirktes „m“ mit
seitlichen Flügelornamenten. Sie wird allerdings weitgehend verdeckt durch ein goldenes,
oben mit Zinnen versehenes Ziborium, das der junge König in der Hand hält. Die Zinnen
weisen auf das himm-lische Jerusalem: In ihm kommt das göttliche Heilsgeschehen, dessen
geheimnisvolle Mitte hier aufscheint, zur Vollendung und zum Ziel.
In stiller Andacht versunken, schaut Maria auf das in ihrem Schoß hingelagerte Christuskind.
Auffällig ist seine Körperhaltung. Während es in unauslotbare Fernen blickt, sind seine Beine
merkwürdig überkreuzt. Auch die Ärmchen zeigen eine überkreuzte Haltung.
Dieses Motiv der überkreuzten Beine wird zusätzlich betont: Eine dezente, aber deutliche
Hervorhebung erfährt es durch ein etwas lässig umgeschlagenes Stück von Marias Mantel, auf
dem ihr Arm liegt. Dieses Mantelstück bildet ein nicht ganz ausgeführtes dunkelgrünes Oval,
das für die überkreuzten Beine einen Rahmen bildet. Man kann dieses Oval auch als liegende
Mandorla deuten. Auch die andere Überkreuzkomposition, der Arme, ist kontrastiert durch
ein ähnliches dreieckiges Mantelstück.
Ein Fuß des Christuskindes wird vom alten König, eine Hand vom König mittleren Alters
anbetend geküsst, wobei beide mit jeweils einer Hand die Stelle, wo Beine und Arme
gekreuzt sind, mit unbeschreiblicher Zartheit berühren. Auch Marias schön geformte Hände
bergen liebkosend und unterfangen die beiden Überkreuzkompositionen.
Im Spiel der sechs Hände, zwei Füße und zwei Lippenpaare vollzieht sich nicht nur die innig
fließende Anbetung des himmlischen Kindes durch die Vertreter der Menschheit, sondern es
offenbart sich in diesem Vollzug das Geheimnis des zukünftigen Heilsgeschehens: Im Gestus
des sich der anbetenden Menschheit zuwendenden Heilands wird das Kreuz sichtbar. Mit tief
berührtem Blick nehmen die beiden Könige diese Erkenntnis auf, die mehr ein innewerdendes
Gewahren ist. Ihre Kronen haben sie auf den Stufen des Thrones bzw. in den Händen des
begleitenden rot gewandeten Knappen niedergelegt.
An diesem Bild beeindruckt mich die Innigkeit der Anbetung des Christuskindes durch die
Vertreter der Menschheit, die Stille des Geschehens und die Warmherzigkeit der
Christusbeziehung aller Personen. Am meisten berührt mich, dass gerade in der strahlenden
Pracht die Tiefe der Hingabe des Sohnes Gottes in seinem Leiden und Sterben zum Ausdruck
kommt. Der Vers von Paul Gerhardt kommt mir in den Sinn:
„Er nimmt auf sich, was auf Erden
wir getan, gibt sich dran,
unser Lamm zu werden,
unser Lamm, das für uns stirbet
und bei Gott für den Tod
Gnad und Fried erwirbet.“
Udo Hofmann