WS 2015 Dämonen Fabelwesen Monstren DÄMONEN, MONSTREN, FABELWESEN PD DR. CHRISTA TUCZAY VO WS 2015/2016 Inhalt I. Einleitung.................................................................................................................................. 2 II. Monstren ................................................................................................................................... 4 A. Monstren der Antike und des Mittelalters .................................................................. 5 B. Antike Beschreibungen von Wundervölkern und ihre Tradierung in das christliche Mittelalter .............................................................................................................. 5 III. IV. C. Die Alexanderdichtung................................................................................................ 10 D. Situierung der Wundervölker im christlichen Kosmos .......................................... 15 E. Monstra Marina – die Meerwunder ........................................................................... 26 F. Die Wilden Menschen .................................................................................................. 30 Fabeltiere und Fabelwesen ................................................................................................... 33 A. Der Drache ..................................................................................................................... 33 B. Der Greif......................................................................................................................... 40 C. Die Manticora ................................................................................................................ 45 D. Das Einhorn in christlichen und mittelalterlichen Quellen .................................... 47 E. Der Phönix ..................................................................................................................... 51 DÄMONEN - Zwischen Göttern und Menschen .............................................................. 54 A. Begriffsklärungen ......................................................................................................... 54 B. Dämonen bei Griechen und Römern ......................................................................... 56 C. Engel und Dämonen in den abrahamitischen Religionen ...................................... 59 V. Lexikon der wichtigsten mittelalterlichen Monstren ....................................................... 68 VI. Bibliographie .......................................................................................................................... 70 1 I. Einleitung Wie der Titel der Vorlesung nahelegt, möchte ich in diesem Semester Dämonen Monstren und Fabelwesen behandeln. Es handelt sich dabei um sehr unterschiedliche Begriffe, die aber oft verwechselt werden. Dämonen sind körperlos, luftig bzw. unterirdisch und unzählig, während Monster körperlich irdisch sind und meist ein menschliches Lebensumfeld haben, Thema der Ethnographie sind von der Naturkunde erforscht werden und es nur eine beschränkte Anzahl an Wunderrassen gab. Diese Verwechslung von Dämonen und Monstren ist bis in die Gegenwart fast durchgängig ein Problem der Forschung. Aber selbst wenn aus heutiger Sicht der mittelalterlichen Bildwerke eine genaue Zuordnung nicht immer möglich ist, so besteht doch ein ganz großer und fundamentaler Unterschied zwischen den beiden Arten von Wesen. Wundervölker sind reale, physisch erfahrbare Wesen, die als Bewohner der fernen Gebiete der Erde zuerst in den Bereich der Geographie und Ethnographie, also der mittelalterlichen Naturkunde gehören und nur an zweiter Stelle aufgrund ihrer Deformationen, so wie etwa reale Tiere, auch zur allegorischen Interpretation herangezogen werden. Trotz vereinzelter Gefährlichkeit der Wesen für den Menschen wie etwa den Hundsköpfigen, sind sie im Prinzip wertneutrale beseelte irdische Wesen. Ganz im Unterschied zu den Dämonen, die übernatürliche Wesen sind, schon aufgrund ihrer Natur als gefallene Engel nicht körperlich, sondern geistige Natur haben und wegen ihrer Gegnerschaft zu den wahren, nicht gefallenen Engeln als böse gelten müssen und den Menschen feindlich gegenüberstehen und diesen schaden. Ihre Wohnung sind nicht reale Bereiche der Erde, sondern das Jenseits, wo sie gemeinsam mit Satan die Hölle bewohnen. Es ist ihre Aufgabe als Erfüllungsgehilfen des Teufels, die Menschen im Diesseits vom rechten Weg abzubringen und ihnen noch physischen Schaden in Form von Krankheiten oder Naturkatastrophen zuzufügen und Im Jenseits dann die menschlichen Seelen im Fegfeuer und in der Hölle zu quälen. Im Gegensatz dazu stehen die Monstren die wegen ihres Verweischarakters in den allegorischen Deutungen den Menschen helfen, ihre Verfehlungen einzusehen, sie also zur Umkehr mahnen und zur Besserung anregen sollen. Darüber hinaus sind sie der Beweis für die vollkommene und vielfältige Schöpfung Gottes und seiner Allmacht. Die menschlichen Monster gehören zu den Menschen und werden auch von den mittelalterlichen Autoren als solche verstanden, wenn auch KONRAD VON MEGENBERG in seinem Puoch von den naturleichen dingen um 1350 bestrebt war, diese noch genauer zu definieren. Nu sprich ich Megenbergaer, daz die wundermensche zaierlei sind: etleich sing gesêlet und etleich niht. Die gesêlten wundermensche haiz ich die ain menschleich sêl habent und die doch geprechen habent. Die ungesêlten haiz ich die tswaz ain menschleich s gestalt haben an dem lei und doch kain menschleich sêl haben. Die gesêlten wundermenschen sind zaierlai. Etliech habent geprechen an dem leib und etleich an der sêl werk, un die koment paideu von Adam und von sine sünden, wanich glaub daz: hiet der eêrst mensch niht gesünt, all menschen wæren ân geprechen geboren. 2 Diese Definition des Klerikers und Naturphilosophen schließt eine enorm große Vielfalt und Masse dessen ein, was man im Mittelalter als Monstren bezeichnete: Also sowohl Menschen, die an körperlichen oder auch psychischen Abnormitäten litten, als auch solche fast menschlichen oder menschenähnlichen Wesen, die aber eine Mischnatur besitzen und dem Tierreich angehören. Zu diesen zählt Konrad sicherlich auch Zentauren, Sirenen und viele Wasserbewohner, oder vielleicht sogar die Hundsköpfigen und Kranichschnäbler. Monstrosität ist also eine Frage des Grades der Abweichung und der subjektiven Einschätzung. 3 II. Monstren 4 A. Monstren der Antike und des Mittelalters Die Geschichte der Wundervölker in der europäischen Kultur ist so lang wie die Geschichte dieser Kultur selbst, auch wenn nur die im Mittelalter als Monstren bezeichneten menschlichen Monstrosität heranzieht und die mythologischen Fabelwesen wie Zerberus und Hydra, weglässt, weil sie im Mittelalter ebenso wie die Sphinx oder der Minotaurus eine sehr untergeordnete Rolle spielten. Einzelne andere mythologische Mischwesen, wie die Sirene, Zentauren und Satyrn spielten allerdings eine prominentere Rolle unter ihnen. Schon bei der berühmtesten aller frühen griechischen Dichtungen, der Odyssee des Homer im 8. Jahrhundert vor Chr. zählt die Begegnung des Helden mit den Monstren zu den wichtigen Motiven in der Heldenbiographie und auch in der Ilias werden Wunderwesen erwähnt. Von da an gehören die Kämpfe mit den Monstren als Vertreter des Fremden zum Standard-Motiv-Inventar der europäischen Literaturgeschichte und dies ganz unabhängig vom religiösen Kontext bzw. von der religiösen Deutung dieser. Bei Homer ist es noch der körperliche oder geistige Mangel, die ihre Andersartigkeit ausmacht, denn weder bei den so Lotusessern, die nicht die Lotusblüten aßen, sondern die dattelähnliche Frucht eines Ziziphus-Lotus, die bis heute gegessen wird, noch bei den stutenmichtrinkenden Nomaden der nordasiatischen Völker, die Zeus mit Staunen betrachtete, findet sich negative Wertungen. Die Pferdemelker beispielsweise werden als besonders gerechtes und aufrechtes Volk beschreiben.. B. Antike Beschreibungen von Wundervölkern und ihre Tradierung in das christliche Mittelalter Die ältesten erhaltenen Nachrichten über die indischen Wundervölker stammen aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Der griechische Historiker Ktesias von Knidos, der bei der Schlacht von Kunaxa in persische Kriegsgefangenschaft geraten und später zum Leibarzt des Großkönigs Artaxerxes Mnemon avanciert war, verfasste nach seiner Heimkehr mehrere Schriften, in denen er seine Kenntnisse des Orients festhielt. Seine Indische Geschichte ist nur bruchstückhaft überliefert, konnte aber in einer verkürzten Fassung, die der Patriarch von Konstantinopel Photios im 9. Jahrhundert anfertigte, überdauern. Alle drei Schriften des Ktesias sind nur fragmentarisch erhalten. Es handelt sich um eine Persische Geschichte, die bis zum Jahr 398 reicht und als Quelle für die Verhältnisse am Königshof bedeutend ist, einen Periodos und die Indische Geschichte. Ktesias berichtet von vielerlei seltsamen Wesen: von dem mit giftigen Stacheln versehenen, angriffsfreudigen indischen Untier marticora, einer Bestie mit von dem Vogel dicairon, der seine Exkremente vorsorglich verscharrt, weil diese so giftig sind, daß jeder, der sie versehentlich zu sich nimmt, in tiefen Schlaf fällt und bei Sonnenuntergang desselben Tages sein Leben enden muss. Aber nicht allein die Tierwelt wird geschildert, auch die indische Ethnographie erfährt durch Ktesias einige Bereicherungen. So beschreibt er beispielsweise die schwarzhäutigen und äußerst kleinwüchsigen Pygmäen, deren männliche Angehörige ein im Verhältnis zu 5 ihrer Körpergröße überproportioniertes Geschlechtsteil besitzen, das ihnen bis zu den Fesseln reicht. Interessantes weiß Ktesias auch von dem Volk der Achtfingrigen mitzuteilen: diese kommen mit schneeweißem Haar zur Welt, ergrauen ab dem dreißigsten Lebensjahr, und mit sechzig Jahren ist ihr Haar vollkommen schwarz. Äußerst detaillierte Angaben macht der Autor zum Volk der Hundsköpfigen, die keiner menschlichen Sprache mächtig sind und gleichwohl einträglichen Handel mit den Indern treiben, denen sie den begehrten, aus Früchten gewonnenen Ambra verkaufen. Das ungefähr 120.000 Angehörige zählende Kynokephalenvolk zeichnet sich Ktesias zufolge durch seine Geschicklichkeit in der Jagd und ein überaus stark entwickeltes Gerechtigkeitsempfinden aus, dem sein Gefühl für Reinlichkeit allerdings nicht entspricht: denn während die weiblichen Kynokephalen sich nur einmal im Monat waschen, bevorzugen die hundsköpfigen Herren eine Art Katzenwäsche, die einzig und allein im gelegentlichen Befeuchten der Hände besteht. Der zweite bedeutsame, nur in Auszügen erhaltene antike Bericht über Indien datiert aus demselben Jahrhundert und ist dem aus Kleinasien stammenden Gelehrten Megasthenes zu verdanken. Nachdem Seleukos I. Nikator, der das Erbe der persischen Kerngebiete aus dem Reich Alexanders des Großen angetreten hatte, entsandte er Megasthenes an den Hof des indischen Königs Candragupta im heutigen Patna am Ganges. Megasthenes’ umfangreicher Bericht gilt noch heute als wichtigste Quelle für die Kenntnis der Zeit. Es werden Angaben sowohl zur Geographie als auch zu den sozialen und kulturellen Gegebenheiten des Landes gemacht; Handel und Handelsgüter sind ebenso Gegenstand der Betrachtung wie geschichtliche Ereignisse und religiöse Riten. Der Autor bespricht auch die sagenhaften Völker und Tiere Indiens und er erweitert das bereits bestehende Inventar der Wundervölker um neue Spezies. Genannt werden die Opisthodaktyloi, deren Zehen nach hinten gedreht sind und die später mit den Antipoden verschmolzen werden, die Astomoi, wilde Menschen ohne Mund, die vom Geruch gebratenen Fleisches und dem Duft von Früchten und Blumen leben; die Arrinoi, Menschen ohne Nasenlöcher, bei denen der obere Teil des Mundes weit über die Unterlippe ragt; ferner die schnellfüßigen Okypodes und die langschenkligen Makroskeleis, die spitzköpfigen Pane sowie Menschen mit Hundeohren oder einem einzigen Auge auf der Stirn. Die Berichte von Ktesias und Megasthenes - und somit auch die von ihnen referierten Vorstellungen der in Indien siedelnden Wundervölker – dominierten lange Zeit das Wissen über die fernen Weltgegenden im Osten, denn in den folgenden drei Jahrhunderten erschwerte die Abspaltung Baktriens und Parthiens vom Seleukidenreich (um 250 v. Chr.) und der Untergang der Maurya-Dynastie (um 185 v. Chr.) den Landweg nach Indien. Allerdings meldeten sich auch kritische Stimmen zu Wort. Gegen Anfang des 1. Jahrhunderts n. Chr. verwarf beispielsweise der griechische Geograph Strabo in seiner siebzehn Bücher umfassenden Geographia den Glauben an die Existenz der indischen Wunder, indem er neben Megasthenes einen gewissen Deimachos, der seinerseits Gesandter am indischen Hof gewesen war und dessen Werk heute verloren ist, mit spöttischen Worten bedenkt: 6 Im Allgemeinen waren die Männer, die bisher über Indien berichtet haben, eine Bande von Lügnern. Deimachos nimmt den ersten Rang in dieser Liste ein, Megasthenes folgt als nächster, während es Onesikritos und Nearchos zusammen mit anderen derselben Gattung fertigbekommen, ein paar Worte der Wahrheit zu stammeln (...). Sie erfanden Geschichten über Menschen, die so große Ohren hatten, daß sie darin eingewickelt schlafen konnten, über Menschen ohne Münder, ohne Nasen, mit nur einem Auge, mit Spinnenbeinen und mit nach hinten gebogenen Zehen (...). Weder Strabos Kritik noch die einiger anderer Autoren seiner Zeit beruhte auf genaueren Kenntnissen, da das Wissen über das ferne Indien sich in den letzten drei Jahrhunderten kaum verändert hatte. Auch Strabo musste sich daher bei seinen Ausführungen zu diesem Thema fast ausschließlich auf das von Megasthenes überlieferte Material stützen. Bei der Ausarbeitung der einzelnen Teile des Werkes zog Strabo eine Auswahl unterschiedlicher Handbücher heran, wobei er oftmals stark voneinander abweichende Autoren in ein und demselben Kapitel kompilierte. Der uneinheitliche Eindruck wird jedoch durch Strabos Kritik an den Quellen und seine ständige Bemühung, Augenzeugnisse heranzuziehen, abgeschwächt. Die Geographia beschäftigt sich - trotz des Titels - weniger mit der Geographie (denn auf diesem Gebiet gilt Homer Strabo als Autorität) als mit historischen, mythologischen, literarischen und naturkundlichen Gegebenheiten. Die geo- und ethnographische Sicht des Abendlands wurde vor allem durch die Werke römischer Kompilatoren geprägt, die gewissenhaft die verschiedenen Informationen über die Beschaffenheit der Erde und deren Bewohner aus den ihnen zur Verfügung stehenden Quellen zusammengetragen hatten. Zu diesen zählt an prominenter Stelle Pomponius Mela. Seine 43/44 n. Chr. entstandene geo- und ethnographische Beschreibung der Welt, die vermutlich De chorographia betitelt war, schildert vor allem die Küstenregionen der bekannten Erdteile, sie enthält aber auch Informationen über das Hinterland und dessen Bewohner. Mela beruft sich zum Teil auf ältere Quellen wie Homer und weiß von vielen wundersamen Völkern zu berichten, die sich unverkennbar in den Gegenden Afrikas und Asiens konzentrieren. Während sich Mela bei einigen dieser Völker mit einer kurzen Beschreibung ihrer physischen Abnormität begnügt, interessieren ihn bei anderen Völkern insbesondere deren ungewöhnliche Essgewohnheiten. Einige dieser kulinarischen Gepflogenheiten lassen sich deutlich auf eine spezifische Missbildung zurückführen, so etwa wenn die Angehörigen eines Volkes dazu gezwungen sind, sich durch eine Röhre unterhalb der Nase mit flüssiger Nahrung zu versorgen, da ihre Lippen zusammengewachsen sind. Die Essgewohnheiten der schlangenverzehrenden Troglodyten hingegen scheinen sich auch auf ihre Sprache und Fortbewegung auszuwirken, denn: „sie zischen eher als daß sie sprechen; sie kriechen in Höhlen und nähren sich von Schlangen“. Auch die Ophiophagen (=Schlangenesser), die ehemals neben den Pygmäen siedelten (bis dieses extrem kleinwüchsige Volk schließlich endgültig von seinen Erzfeinden, den Kranichen, ausgerottet wurde), schätzen Schlangenfleisch, während die Chelonophagen (=Schildkötenesser) Schildkröten bevorzugen. Bedrohliche kulinarische Vorlieben finden sich vor allem im hohen Norden und unter den 7 skythischen Völkern: die Anthropophagen fressen - wie ihr Name verrät – Menschen, die Neuren pflegen sich zu bestimmten Zeiten in Wölfe zu verwandeln, während die Androphagen ausschließlich das Fleisch von Männern verzehren. Wie aus dieser kurzen Aufzählung hervorgeht, hat Pomponius Mela in seiner Beschreibung der Welt neben den monströsen Völkern, die bereits durch äußere Abnormitäten als solche erkennbar sind, auch „populi“ aufgenommen, die sich durch ungewöhnliche Nahrungspräferenzen auszeichnen. Auch in der von Plinius dem Älteren kompilierten Naturalis historia – einem enzyklopädischen Monumentalwerk in 37 Bänden, das aus hunderten von griechischen und römischen Fachschriftstellern zusammengetragen und im Jahr 77 n. Chr. beendet wurde – beginnt die Aufzählung wunderlicher Völkerschaften mit den Skythen und der unter ihnen angeblich weitverbreiteten Vorliebe für die Anthropophagie. Neben den Skythen siedeln bei Plinius die Arimaspen, eines der ältesten Wundervölker überhaupt. Die einäugigen Arimaspen lebten diesem poetischen Reisebericht zufolge in beständiger Fehde mit den „gryps“, den Greifen, die das Gold, welches sie in großen Mengen aus den Erzgruben im Norden scharrten, mit selbstsüchtigem Geiz bewachten und den Einäugigen nichts davon abgeben wollten, so daß letztere sich genötigt sahen, das edle Metall durch listige Diebstähle zu entwenden. Im deutschsprachigen Raum fanden die Arimaspen während des Mittelalters weite Verbreitung durch das vermutlich gegen Ende des 12. Jahrhunderts entstandene sogenannte Spielmannsepos Herzog Ernst. Der Protagonist, der aufgrund höfischer Intrigen vor dem Zorn seines kaiserlichen Stiefvaters fliehen und in die Fremde ziehen muss, rüstet zunächst zu einem Kreuzzug, wird dann aber auf die exotische Insel Grippia verschlagen. Dort lebt das Volk der Kranichmenschen, das gerade die Hochzeit seines Königs mit einer aus Indien entführten Prinzessin begehen will. Herzog Ernst versucht, die unglückliche Königstochter gewaltsam aus der Hand der Vogelköpfigen zu befreien, und diese verspricht dem Helden, ihn nach ihrer Rettung zu ihrem Gemahl und König von Indien zu machen, doch stirbt sie an den Verletzungen, die ihr die Kranichmenschen mit ihren Schnäbeln zufügen. Während seiner mannigfaltigen aventiuren, die ihn immer weiter gen Osten führen, trifft Herzog Ernst noch auf zahlreiche andere Wundervölker, entwickelt jedoch eine besondere Vorliebe für das alte Volk der „Arimaspî“, da diese zwar nur „ein ouge/ vorn an dem hirne“, dafür aber eine stattliche Anzahl ritterlicher Tugenden aufweisen. Ihrer edlen höfischen Gesinnung wegen bleibt Herzog Ernst bei ihnen und kämpft für sie gegen eine ganze Reihe weniger tugendhafter, aber ebenso monströser Feinde, zu denen das „freislîch volk“ der Riesen, die sich weise dünkenden Langohren sowie auch die „Platthufer“ zählen. Letztere weisen große Ähnlichkeiten zu den - sich in der Sonne mit ihrem einzigen übergroßen Fuß beschattenden – Skiapoden auf, wenngleich die Platthufer mit zwei Riesenfüßen ausgestattet sind, so daß sie im Unterschied zu ihren indischen Artgenossen bei Ermüdung den jeweils anderen Fuß zum Schutz gegen die in ihrer Heimat besonders heftigen Regenfälle einsetzen können. 8 Im Unterschied zu den Arimaspen, die auch bei Plinius im Norden angesiedelt sind, hausen die meisten anderen Wundervölker in südlichen Gefilden, wobei sich „reich an wunderbaren Erscheinungen“ in der Naturalis historia „vor allem Indien und das Gebiet der Aithioper“ erweisen. Das Wunderland Indien zeichnet sich durch eine geradezu monströse Fruchtbarkeit aus: Tiere und Pflanzen werden riesengroß, das Schilfrohr wächst zu solchen Höhen empor, „daß die einzelnen Stücke zwischen zwei Knoten ein Boot abgeben, das manchmal drei Personen tragen kann“. Zahllose wundersame Wesen bevölkern das Gebiet: Gymnosophisten, die auf einem Fuß stehend nachdenklich die Sonne betrachten, Rückwärtsfüßler mit acht Zehen, Monoculi, Brustgesichtler, Satyre, Mundlose, Heuschreckenesser, und vielerlei andere Wundervölker mehr. Für die christlichen Autoren des Mittelalters waren neben Pomponius Mela und Plinius insbesondere die den indischen Wundervölkern gewidmeten Ausführungen des Kompilators Solinus von Bedeutung. In seinen im 3. Jahrhundert entstandenen Collectanea rerum memorabilium übernahm Solinus weite Teile aus Pomponius Melas Bericht sowie auch aus Plinius' Naturalis historia und zollte den monströsen Völkerschaften als besonderen Denk- und Merkwürdigkeiten der Welt erhebliche Aufmerksamkeit. Neben Solinus prägten das Commentum ad Ciceronis Somnium Scipionis des Macrobius, sowie die im 5. Jahrhundert verfasste Enzyklopädie der sieben artes liberales von Martianus Capella maßgeblich das geo- und ethnographische Bild des Mittelalters. Capellas De nuptiis Mercurii et Philologiae schildert das Auftreten der personifizierten Geometrie, die einen erschöpfenden Überblick über die unterschiedlichen Regionen der Welt gibt, wobei eine Fülle geographischer Mythen ausgebreitet und zahlreiche Wundervölker erwähnt werden. Insbesondere im Inneren Afrikas tummeln sich Scharen „weißer Aithioper, Neger und anderer Völker monströser Eigenart“ wie die schlangenverzehrenden Troglodyten, welche neben den fischfressenden Ichthophagen in Äthiopien hausen, Blemmyer, Satyre, Pane, die in wilder Ehe lebenden Garamanten, die kriegsuntüchtigen Gamphasanten, die klugerweise Auseinandersetzungen meiden, die Atlanten, die weder Eigennamen noch Träume besitzen und tagsüber der Sonne fluchen, weil unter ihrer sengenden Hitze die Felder verbrennen, sowie die Augilae, die den Mächten der Unterwelt Verehrung zollen. Die Bewohner Indiens haben ebenfalls befremdliche Sitten: Sie färben sich die Haare, tragen Juwelen, halten es für eine Auszeichnung, auf Elefanten zu reiten, und sind zudem stolz darauf, sich um die Beisetzung ihrer sterblichen Überreste keine Sorgen zu machen; physisch abnorm sind sie allerdings nicht. In den Bergen ihres Landes leben jedoch kleinwüchsige Pygmäen, und auf Ceylon ist ein Riesengeschlecht anzutreffen, das keinen Kontakt zur Außenwelt pflegt und interessanterweise den Bezwinger zahlreicher artverwandter archaischer monstra, nämlich Herkules, anbetet. Auf einer heute nicht mehr vorhandenen Weltkarte, die Agrippa, der Freund und nahe Vertraute des Augustus, auf die Wand des Portikus der Vipsania in Rom gemalt hatte, scheinen die Wundervölker ebenfalls dargestellt gewesen zu sein; und vermutlich hat diese Weltkarte die Darstellung der monströsen Völkerschaften auf den großen mappae mundi des 13. und 14. Jahrhunderts beeinflusst. Eine annähernde 9 Vorstellung von den antiken Vorbildern lässt sich aus den Illuminationen der enzyklopädischen Schriften des Mittelalters gewinnen, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf illustrierte Handschriften der Werke des Solinus, Martianus Capella und Isidor aus dem 6. oder 7. Jahrhundert zurückgehen. Die Illustration der aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts stammenden Solinus-Handschrift des British Museum zeigt siebzehn Repräsentanten der Wundervölker, die mit erläuternden Inschriften versehen und in drei horizontal verlaufenden Reihen dargestellt sind. C. Die Alexanderdichtung Neben den lateinischen naturkundlichen Werken was es besonders die Alexanderdichtung, durch die Monster in Spätantike und Mittelalter popularisiert wurden. Im Gegensatz zu den Enzyklopädien finden wir darin zwar eine deutliche geringere Anzahl an Wundervölkern, die dann durch Ergänzungen wieder einbezogen wurden. Der Makedonier Alexander 356 v. Chr. geboren unternahm 334 v. Chr. einen Feldzug gegen die Perser, den er bis zu seinem 323 v. Chr. zur Eroberung der damals bekannten Welt ausweitete und bis an den Indus vordrang. Das brachte Alexander dem Großen nicht nur bleibenden Weltruhm als größtem Eroberer und größtem Feldherr aller Zeiten ein, gab auch Anlass zu einer Reihe von literarischen Ausgestaltungen des Lebens dieser Held Gestalt, die im Mittelalter zur populärsten der Antike avancierte. Bald nach seinem Tod setzte die Sagen- und Mythenbildung die schriftliche Tradition erst ein halbes Jahrtausend später, 200 n. Chr. war ein wahrscheinlich in Alexandrien verfasster Alexanderroman nachweisbar, den angeblich Kallisthenes, ein Neffen des Aristoteles und Begleiter Alexanders geschrieben haben soll. Kallistenes war sicherlich nicht der Autor, daher PseudoKallistenes. Diese Dichtung bildete in der Folge die wichtigste Grundlage für die mittelalterliche Alexanderdichtung. Der Stoff wurde durch zwei lateinische Übersetzungen, nämlich die des Julius Valerius Alexander Polemius (Res gestae Alexandri Macedonis) und die zweite Übersetzung kam vom neapolitanischen Archipresbyters Leo, die Nativitas et victoria Alexandri magni nach 945. Beide wurden im Mittelalter nicht durch die Originalübersetzungen, sondern durch gekürzte Versionen bekannt: die des Julius Valerius durch eine verkürzte Version des 9. Jahrhundert und die des Leo durch die im 11. Jahrhundert entstandene Historia de preliis Fassung. Lietzerer Text ist deshalb wichtig, weil er einen Dialog zwischen Alexander und Dindimus, dem König der Bragmani über ihre unterschiedlichen Lebensformen enthält, der vermutlich auf die stoische Philosophenschule zurückgeht. Dieser philosophische Diskurs wurde in der Folge auch auf Latein in Briefform bearbeitet und erfreute sich im Mittelalter ebenso wie der die Wunder Indiens beschreibende lateinische Brief Alexanders des Großen an seinen Lehrer Aristoteles großer Beliebtheit. Neben dem Roman des Pseudo-Kallistenes war in der Antike ein weiteres pseudohistorisches Werk über Alexander den Großen einstanden, die Ende des 1. Jahrhundert n. Chr. verfasste Historia Alexandri Magnis macedonis des Curtius Rufus. Sie zirkulierte im Mittelalter zwar ebenfalls in interpolierten Fassungen, war aber 10 weniger einflussreich als der Roman. Die wichtigste Fassung des Romans im Mittelalter war die lateinische Alexandreis des Walter von Châtillon (um 1135 geb.), die die Basis für viele der westeuropäischen volkssprachlichen Versionen bildete. In der Alexanderdichtung finden sie die Monster in einem ganz anderen Kontext als in den Enzyklopädien: Hier werden sie nicht auf Indien konzentriert als Reisebeschreibung, sondern treten an ganz bestimmten Stellen der Erzählungen auf, um diesen ein exotisches wie auch moralisches Element zu verleihen. Alexander sammelt in den Texten keine Wunderwesen, so wie beispielsweise Herzog Ernst, sondern er wird unterwegs mit ihrem Aussehen, ihren sozialen Gewohnheiten und ihren Ansichten konfrontiert, auf die er reagieren muss. Dia kann auf militärische Art sein, oder auch als Herausforderung an sein Selbstverständnis wie bei den indischen Bramani. Diese treten ihm waffenlos gegenüber. Der erwähnte Briefwechsel ihres Königs Dindimus mit Alexander weist auf ihre Gewaltlosigkeit Bedürfnislosigkeit und Askese hin, Eigenschaften, die Alexander in seinem grenzenlosen Machtstreben nach Meinung von Dindimus und wohl auch der mittelalterlichen klerikalen Verfasser des Werks gut anstünden. Die Alexanderdichtungen haben die Monsterrassen zwar nicht erfunden, sondern aus Reiseberichten unde Enzyklopädien übernommen, waren aber für ihre Übertragung ins Mittelalter und die endgültige Popularisierung mitverantwortlich. Über den Brief Alexander an Aristoteles fand etliche der Wundervölker Eingang in die mittelalterliche volkssprachliche Alexanderdichtung, selbst dort, wo sie im jeweiligen Original noch nicht ausführlich behandelt worden waren. Es finden sich Völker mit spezifischen Essgewohnheiten wie die Fischesser, denen Alexander den Genuss von rohem Fisch verbot. Sechshändige Menschen, Kopflose und die Hundsköpfigen. Alexander stößt auf die Gymnosophisten, die nackten oder nur mit Blättern bekleideten indischen Weisen und es entwickelt sich angesichts der kriegerischen Bedrohung durch Alexander ein Dialog oder in einigen Fassungen dien Briefwechsel zwischen Alexander und ihrem König Dindimus. Dieser macht Alexander auf die Sinnlosigkeit seines Eroberungsfeldzuges aufmerksam, da auch er nur ein sterblicher Mensch sei und sein Werk daher mit ihm zu Ende gehe. Alexander beruft sich in der Diskussion zwar auf seinen Platz im Schöpfungsplan, doch die Kritik an seinem Machtstreben wird, von den klerikalen Verfassern aufgegriffen. Zwei Amazonen im Kampf mit einem Griechen, Athen, ca. 4. Jahrhundert v. Chr. 11 Eine ähnliche Funktion als soziales Korrektiv hat die angeblich Begegnung Alexanders mit dem Volk der Amazonen, auf die er im nördlichen Asien stößt. Sie senden einen Brief an ihn, in dem sie ihm die wohldurchdachte Struktur ihres Staatsgefüges erklären, und selbst der fiktive Alexander kann nicht umhin, die Eitelkeit und Umsicht ihrer sozialen Organisationsform zu bewundern, obwohl das Reich nur von Frauen bewohnt und gelenkt wird, ein für das mittelalterliche Westeuropa sehr exotisch anmutender Zustand. In den Alexanderromanen, die die Kenntnis von den Amazonen verbreiten, heißt die Königin Thalestris. Sie tritt Alexander selbstbewusst gegenüber und schlägt ihm vor, statt eines für ihr wenig aussichtsreichen Kampfes gegen ihr kriegerisches Volk mit ihr ein Kind zu zeugen. Zu einer Begegnung der beiden kommt es dann allerdings nicht. Einen Amazonenstaat, Theskyra soll bis zum 1200 vor Chr. am Schwarzen Meer gegeben haben. Alexander trifft in den literarischen Werken die Amazonen am Kaspische Meer an und auch sonst werden sie in der mittelalterlichen Literatur häufig weit im Norden verortet. Auffällig an den Amazonen wie den Gymnosophisten ist, dass sie es sind, die mit ihren Briefen die Initiative ergreifen und Alexander zu sich einladen. Aus einer Handschrift der Historia de preliis in frz. Übersetzung ca. 1400 12 Alexander der Grosse bei seiner Tauchfahrt (ca.1520) Flämischer Meister des 13. Jahrhunderts: Alexanderroman: Greifenflug Alexanders des Großen Neben seine Großtaten, wie sein Tauchgang oder sein Greifenflug ist besonders sein Sieg über die sog. Nordvölker Gog und Magog wichtig. Von ihnen wurden nicht nur behauptet, dass sie Menschenfleisch äßen, sondern sie wurden schon in den Prophezeiungen des alten Testaments zu den größten Bedrohungen der zivilisierten Völker gezählt. Alexander jedoch kann sie besiegen und hinter einer von ihm 13 errichteten Mauer am Kaspischen Meer einschließen, womit die Gefahr dieser apokalyptischen Völkerschaften für die Menschheit bis zum Jüngsten Tag gebannt ist. Erst dann werden sie aus ihrem Gefängnis ausbrechen und zum Untergang der Welt beitragen. Die beiden Völker werden häufig auf den Weltkarten dargestellt. Völker Gog und Magog, Ausschnitt aus der Ebstorfer Weltkarte 14 D. Situierung der Wundervölker im christlichen Kosmos Von christlichen Autoren wurde weitertradiert, was sie aus der antiken Überlieferung schöpfen konnten und dieses Wissen gehörte zum festen Bestandteil mittelalterlicher Geo- und Ethnographie. Die Wundervölker waren in allen großen Enzyklopädien des 12. und 13. Jahrhunderts, in den Weltchroniken und Naturgeschichten sowie in Geschichtswerken dieser und auch späterer Zeit vertreten. Ihre schematisch anmutende Aufzählung, die oftmals mit der einleitenden Formel „Homines alii sunt“ beginnt, nennt sie beim Namen, und in den meisten Fällen bezeichnet dieser auch schon zugleich ihre Deformation. Die Wundervölker bilden ein Kuriositätenkabinett, das je nach den Kenntnissen des betreffenden Autors mehr oder minder umfangreich ausfällt. Allerdings war den mittelalterlichen Katalogen der monströsen Völker, die an die enzyklopädische Tradition der Spätantike anknüpfen, im Christentum eine aufschlussreiche theologische Diskussion um die Wesensart der merkwürdigen Geschöpfe vorausgegangen. Denn während für Plinius die Wundervölker vornehmlich Kreaturen waren, in denen sich die außerordentliche Schöpferkraft der Natur manifestierte, sahen sich die Kirchenväter gezwungen, für die Existenz der missgebildeten Geschöpfe im göttlichen Schöpfungswerk eine theologisch überzeugende Erklärung zu finden und den christlichen Umgang mit ihnen festzuschreiben. Die Grundlage für alle weiteren theologischen Diskussionen um die Wundervölker legte Augustinus in seiner Civitas Dei. „Alle Menschen und Völker, wenn auch noch so ungeschlacht und missgestaltet, stammen von Adam ab“, lautet die programmatische These des achten Kapitels im 16. Buch. Wenn gewisse „monströse Menschenarten“, von denen die „Geschichte der Völker berichte, wirklich existieren sollten - so argumentiert Augustinus -, müsse es sich bei ihnen um Nachfahren Adams respektive Noahs handeln. Denn wer irgend als Mensch, das heißt als sterbliches, vernunftbegabtes Lebewesen geboren wird, mag er an Leibesgestalt, Farbe, Bewegung oder Stimme uns noch so fremdartig vorkommen, mag er Kräfte, Teile, Eigenschaften haben, welche er will, er stammt in jedem Fall von jenem Ersterschaffenen ab; daran darf kein Gläubiger zweifeln. Des weiteren versichert Augustinus, dass Gott, der Weltenschöpfer, am besten gewusst habe, wo, wann und wie etwas zu schaffen sei; und eben, weil der Mensch das göttliche Gesamtwerk nicht überblicken könne und ihm manches Teilstück eher hässlich erscheine, habe er kein Recht, die Werke des Herrn zu kritisieren. Augustinus' Versuch, eine Begründung für die Notwendigkeit der „ungeschlachten“ Völker im göttlichen Heilsplan zu finden, mutet allerdings etwas verwirrend an: möglicherweise nämlich habe Gott die monströsen Völker geschaffen, damit wir nicht bei Missgestalten, wie sie unter uns unleugbar von Menschen geboren werden, uns einreden lassen, seine Weisheit, die die menschliche Natur bildet, habe wie die Kunstfertigkeit eines weniger geschickten Meisters einen Fehler gemacht. 15 Indem Augustinus die Frage schließlich „behutsam zum Abschluss zu bringen“ versucht, formuliert er mit juridischer Schärfe drei Möglichkeiten, um der zweifelhaften Natur der monströsen Völker Herr zu werden: Entweder ist an alledem, was von gewissen Völkern berichtet wird, überhaupt nichts Wahres, oder wenn doch, so sind es keine Menschen, oder aber, wenn es Menschen sind, dann stammen sie auch von Adam ab. Ganz offensichtlich dünkt dem Kirchenvater die erste Möglichkeit ohnehin die wahrscheinlichste. Seine Nachfolger insistierten jedoch überwiegend auf der dritten Variante: daß die Wundervölker wirklich existent seien. Damit stellte sich allerdings dasselbe Problem, das schon Augustinus nicht befriedigend hatte lösen können: nämlich eine Rolle für diese Kollektive menschlich deformierter Wesen im göttlichen Heilsplan zu finden und ihnen einen Ort und eine Bedeutung im kosmischen Schöpfungswerk zuzuweisen. Auch Isidor von Sevilla wird in seinen zwischen 622 und 633 entstandenen Etymologiae an die von Augustinus behauptete Analogie zwischen einzelner menschlicher Mißgeburt und monströs gebildeten Völkerschaften anknüpfen. Wie die einzelne Mißgeburt sei – so Isidor - auch das abnorme Äußere der Wundervölker nicht „contra naturam“, sondern ein Zeichen, in dem der göttliche Wille sich offenbare. Aus eben diesem Grund verhandelt Isidor die monströsen Wesen auch in einem einzigen, De portentis überschriebenen Abschnitt. Die Annahme, daß den monstra eine divinatorische Bedeutung zukomme, war allerdings keine Erfindung des Kirchenlehrers, sondern ungleich älter und hatte insbesondere in den Kulturen des Alten Orients eine wichtige Rolle gespielt, wo bereits früh in Form von Katalogen – den sogenannten Ominaserien - Abweichungen von den Gesetzen der makro- und mikrokosmischen Ordnung, zu denen Mißgeburten von Mensch und Tier natürlich an prominenter Stelle zählten, festgehalten und interpretiert worden waren. Isidor führt zwei Episoden an, um den Beweis für den zumeist unheilverheißenden Zeichencharakter der monstra zu erbringen. Dem persischen König Xerxes hatte die Geburt eines Fuchses aus dem Leib einer Stute den Verfall seines Reiches angekündigt; und Alexander habe die Mißgeburt eines Kindes, dessen menschlich gebildeter Oberkörper tot, der untere Teil des Leibes hingegen tierhaft und lebendig gewesen sei, als Zeichen dafür gedeutet, daß er bald sterben und unwürdige Nachfolger seine Herrschaft übernehmen würden. Der bei Isidor zwar angedeutete, an den konkreten Beispielen der monströsen Völkerschaften jedoch nicht ausgeführte Gedanke, daß die monstra so wie auch Pflanzen, Steine und Tiere Zeichen einer der Natur eingeschriebenen Gottessprache seien, der sich die Menschheit durch ihren Sündenfall entfremdet habe und die daher wiederentdeckt werden müsse, sollte im 13. Jahrhundert die Aufnahme der Wundervölker gleichermaßen in die Kataloge der Bestiarien wie auch in die homiletische Literatur begründen, wo sie zu einem beliebten Gegenstand moralischer Deutung avancieren. Isidors Liste der Mißgeburten: 16 Sechsfingrige Riesen Pygmäen Zweiköpfige, Dreiarmige Hermaphroditen Cynodontes (besitzen zwei Reihen von Zähnen) Isiodrs Liste der Monsterrassen Giganten Hundsköpfige Zyklopen Wildfresser Flachgesichter Großlippler Kleinmündige Zungenlose Großohren Nackte wilde Feigenfaune Schattenfüßler Gegenfüßler Pferdefüßige Langlebige Riesen Pygmäen Mädchenvolk Isidor versuchte gewissenhaft zu differenzieren, was in der verbreiten Rezeption seines Werks aber nicht beibehalten wurde, sondern die meisten der genannten Wesen zählte man dann im Mittelalter in gleicherweise zu den Monstern. So wurden die Völker der Zentauren meist tatsächlich neben dem Minotaurus genannt, von dem es nur ein Exemplar gab und den er im Gegensatz zu den meisten anderen genannten Wesen aus Ovid übernommen hatte. Isidor blieb neben Martianus Capella und Macrobius die maßgebliche Quelle für das Mittelalter. So übernahm der Benediktinermönch Hrabanus Maurus (780-856) die Monsterbeschreibungen der geographischen Kapitel des Isidor fast unverändert in seine Naturenzyklopädie De universo. Eine größere Rolle bei der literarischen Vermittlung der Wundervölker spielten drei Verfasser nämlich Honorius von Autun, Lambert von St. Omer und Vinzenz von Beauvais. Honorius von Autun ist von besonderer Bedeutung für die Angaben über Wundervölker, die er in seinem naturkundlichen Kompendium De imagine mundi einschloss, aber ganz anders einteilte als Isidor. Lambert von St. Omer handelte die Monstren in seinem Liber floridus ab. Bei Vinzenz von Beauvais werden die Monster in seiner Enzyklopädie Speculum naturale ebenso wie in seinem Speculum historiale genannt. In letzterem 17 werden sie in der chronologischen Darstellung der Weltgeschichte behandelt. Thomas von Cantimpré behandelt sie in seinem Liber de nature rerum. Die erste große Naturkunde in deutscher Sprache das Puoch von der Natur des Konrad von Megenberg um ca. 1350 enthält erstmals eine umfangreiche Darstellung der Arten und Typen der Wundervölker. Obwohl er ebenso auf Kleriker zielte, denen er damit eine Predigthilfe an die Hand geben wollte, ersparte er sich und seinen Adressaten keine unbequemen Fragen. Aus John de Mandeville Reisebschreibung In den meisten der Darstellungen benützen die Autoren die Wundervölker nach dem Vorbild christlich-allegorischer Auslegungen der Tierwelt, wie sie dem Mittelalter durch den weitverbreiteten Physiologus vertraut waren, für Allegoresen, die unterschiedlich ausfallen. Während in einem englischen Bestiarium des 13. Jahrhunderts die Körpergröße der monströsen Wesen über den Grad ihrer Tugenden zu bestimmen scheint und dementsprechend die Pygmäen als Sinnbild christlicher Demut, die Riesen hingegen als Inbegriff von Anmaßung und Stolz gelten, werden in den 1330/40 verfassten Gesta Romanorum die zwielichtigen monstra zu allegorischen Tugendträgern stilisiert: Plinius (...) erzählt uns, daß einige Menschen Hundsköpfe haben, mit Gebell reden und in Tierfelle gekleidet sind. Darunter sind aber die Priester zu verstehen, welche alle mit Tierfellen bekleidet sein sollen, d.h. mit strenger Buße, um anderen ein gutes Beispiel zu geben. (...) So sind in 18 Libyen gewisse Frauenzimmer, die keinen Kopf, aber Maul und Augen auf der Brust haben. Diese Weiber bedeuten die Menschen, welche demütig Gehorsam mit der Brust leisten wollen, aber kein leichtfertiges Herz haben und alles, was sie äußerlich tun wollen, vorher wohl und klüglich in ihrem Herzen bedenken.(...) In Äthiopien gibt es Leute, welche zwar nur ein Bein haben, doch von so großer Schnelligkeit sind, daß sie die wilden Tiere im Laufen jagen. Das sind die Leute, welche nur das eine Bein der Vollkommenheit gegen Gott und ihren Nächsten haben, d.h. das Bein der Liebe. Diese laufen schnell dem Himmelreich zu. Allerdings ließ sich mit diesem – in der homiletischen Literatur des Mittelalters weit verbreiteten - quidproquo der Zeichen und Bedeutungen die Frage nur unzureichend beantworten, warum diese von dem Urvater Adam abstammenden Wesen so wenig Ähnlichkeit mit dem göttlichen Ebenbild aufwiesen. Eine weitgehend überzeugende Lösung dieses Problems fand die mittelalterliche Exegese in der Heiligen Schrift. Einem Bericht des Buches Genesis zufolge hatte Cham, der - zumindest moralisch gesehen - missratene jüngste Sohn Noahs, des Vaters Nacktheit entdeckt, als dieser, vom übermäßigen Konsum selbstgekelterten Weines erhitzt, vollkommen entblößt eingeschlafen war, und an diesem Anblick so viel Gefallen gefunden, daß er umgehend seinen Brüdern davon erzählte. Diese reagierten auf das väterliche Missgeschick diskreter, traten rückwärts, um des Vaters Blöße nicht zu sehen, an dessen Lagerstatt und deckten ihn zu. Als Noah aus seinem Rausch erwachte und von dem Verhalten der Söhne erfuhr, war er über seinen Jüngsten höchst erzürnt: Als nu Noah erwacht von seinem Wein/ vnd erfur/ was jm sein kleiner Son gethan hatte/ sprach er/ verflucht sey Canaan/ und sey ein Knecht aller knechte vnter seinen Brüdern. Vnd sprach weiter/ Gelobet sey Gott der HERR des Sems/ Vnd Canaan sey sein Knecht. Gott breite Japheth aus/ und las jn wonen in den Hütten des Sems/ vnd Canaan sey sein Knecht. Als Nachfahren Chams, des Vaters von Kanaan, hatten die Wundervölker ihre Mißgestalt somit als anschauliche Manifestation des vererbten väterlichen Fluches erhalten. Auch geographisch war diese Genese der Wundervölker aus der Heiligen Schrift einsichtig, denn die mittelalterliche Kartographie hatte aus der Antike das Darstellungsschema des orbis tripartitus – der scheibenförmigen Ökumenekarte mit den drei bekannten, im T-Schema angeordneten Kontinenten – übernommen und einer christlichen interpretatio unterzogen, indem sie die Erdteile auf die Söhne Noahs verteilte: Sem stand Asien zu, der edelste der Kontinente, da sich dort das Irdische Paradies befinden sollte, die Sonne jeden Tag im Osten aufging und von diesem Teil der Welt die Weltherrschaft, die Weisheit, das Christentum und das Mönchtum ihren Ausgang genommen hatten. Aus diesem Grund waren die meisten der mittelalterlichen Karten auch geostet. Japhets Geschlecht siedelte sich in Europa an, während Cham auf den sogenannten Noachidenkarten das klimatisch wenig anheimelnde Afrika zufiel. Da er als Stammvater der Wundervölker galt, wurden diese in der mittelalterlichen Kartographie zunehmend aus dem Osten in das südliche Afrika verbannt. 19 Indien, Afrika und Äthiopien, die schon in der Antike als bevorzugte Heimstätten der monströsen Völker gegolten hatten, waren in der mittelalterlichen Geographie allerdings sehr weit zu fassende geographische Begriffe. Indien wurde auf den Weltkarten des Mittelalters häufig als pars pro toto für Asien genannt; Libyen, aber auch Äthiopien konnten synonym für Afrika gebraucht werden. Da Indien gleichermaßen im Fernen Osten wie auch in Südasien situiert wurde und zudem als jene Region galt, die Asien und Afrika miteinander verband, entwickelte sich die Vorstellung einer India superior, die der Apostel Bartholomäus, und einer India inferior, die der Apostel Thomas missioniert haben sollte; manchmal wurden diese beiden Indiae noch um ein Mittelindien ergänzt, das wiederum auch Äthiopien heißen konnte. Ebenso wurde aber auch das Gebiet von Abessinien als „Mittelindien“ bezeichnet, und einer verbreiteten Meinung nach hatten die Äthiopier einst den Indus verlassen und sich in der Nähe Ägyptens angesiedelt. Die Vorstellung, daß die Erde eine Kugel und von zwei sich im rechten Winkel schneidenden Ozeanringen – einem Polar- und einem Äquatorialozean – in vier Kontinente geteilt sei, gehörte seit langer Zeit zum Wissensgut der Gelehrten. Erstmals wird sie im 2. Jahrhundert v. Chr. mit dem Stoiker Krates von Mallos fassbar, dem zufolge der bekannte Erdteil - die Ökumene - nur auf einem der vier Kontinente untergebracht sei, während man von den anderen nicht sagen könne, ob sie bewohnt oder unbewohnt seien. Mit Sicherheit jedoch würden die klimatischen Umstände in den beiden um die Erdpole gelegenen Zonen sowie auch in den Regionen um den Äquator kein Leben gestatten. Diese Lehre hatte in die beiden bereits erwähnten Schriften von Makrobius und Martianus Capella Eingang gefunden, die während des gesamten Mittelalters als Schullektüre dienten, und auf diesem Weg den Typus der sogenannten Zonenkarte inspiriert, der - da perspektivische Konstruktionsverfahren unbekannt waren – die in Klimazonen unterteilte Erdkugel als Planiglob zeigte. Die Konzeption des Krates wurde von lateinischen Gelehrten allerdings den eigenen Vorstellungen angeglichen, indem man drei der vier Erdteile mit den bekannten Kontinenten identifizierte und nur noch eine unwiderruflich von der Ökumene getrennte, auf der anderen Seite des Äquatorialozeans gelegene terra incognita zuließ, nämlich den Antichthonen-Kontinent: „Außerhalb der drei Erdteile aber liegt der vierte Erdteil jenseits des Ozeans als Binnenland im Süden, uns wegen der Sonneneinstrahlung unbekannt“, konstatiert Isidor im Anschluss an seine Beschreibung Afrikas in dem geographischen Teil der Etymologiae. Diese „quarta pars“ auf der gegenüberliegenden Seite der Ökumene findet sich auch auf Karten verzeichnet, welche die Aufteilung der Zonenkarten mit der geläufigeren, die Ökumene repräsentierenden sogenannten T-O Radkarte kombinieren 20 Weltkarte des Isidor von Sevilla (560-636) Der durch den Äquatorialozean von der übrigen Landmasse abgeschnittene weiße Fleck des Antichthonenkontinents ist häufig als terra australis incognita beschriftet. Eigentlich hätte dieser aus antiken Spekulationen hergeleitete vierte Kontinent für die christliche imago mundi kein Problem darstellen müssen: er gehörte zum Kosmos, nicht zur Ökumene, war für diese unerreichbar und somit im Prinzip uninteressant. Antipode 21 Denn während die Wundervölker ohne größere Umstände zu Nachfahren der Stammeltern erklärt werden konnten, die sich bis in die entlegensten Winkel der Ökumene verteilt hätten, ließen die unfassbaren Gegenfüßler oder Antipoden, die sich auf der anderen Seite der Erde befinden, sich mit der Genealogie der Heiligen Schrift schlichtweg nicht in Einklang bringen, weshalb Augustinus die Möglichkeit ihrer Existenz auch kategorisch verwarf: Denn unter keinen Umständen lügt unsere Schrift, deren Mitteilungen über die Vergangenheit durch Erfüllung ihrer Voraussagen beglaubigt werden, und es wäre doch zu unsinnig, wollte man behaupten, daß irgendwelche Menschen den unermeßlichen Ozean hätten überqueren und von dieser auf jene Seite hinübersegeln können, so daß auch dort ein von jenem ersten Menschen abstammendes Geschlecht hausen würde. Auch Isidor erklärte die Antipoden zu Fabelwesen, jedoch nur diejenigen, die auf dem vierten Kontinent beheimatet sein sollten. In seiner Aufzählung der Wundervölker als portenta nennt er hingegen ein in Libyen siedelndes Volk namens Antipoden, das seine Existenz offensichtlich einer anderen Lesart des Namens verdankte und im Vergleich zu der beunruhigenden Gegenfüßlerei auf der unerreichbaren Rückseite der Erde ein eher harmloses physisches Symptom aufwies: „Antipodes in Libya plantas versas habent post crura et octonos digitos in plantis“. Theologisch wurde der Glaube an die Gegenfüßler, die mit den Füßen den unseren entgegengesetzt auf der anderen Seite des Globus umherlaufen sollten, seit dem 8. Jahrhundert endgültig verworfen und daraufhin sogar zur Häresie erklärt; ethnologisch hingegen konnten die Antipoden als afrikanisches oder indisches Wundervolk, dessen Füße nach hinten gedreht und mit acht Zehen ausgestattet waren, das ganze Mittelalter überdauern. Die Vorstellung, daß die monströsen Völkerschaften auf einem unerreichbaren Erdteil siedeln könnten, ist offenkundig auch in späteren Zeiten noch virulent gewesen. Die offizielle Kirchenlehre hat diese Auffassung eines mit Wundervölkern besiedelten Antipoden-Kontinents nachdrücklich abgelehnt. Um einen Platz für die monströsen Völker zu bestimmen, hielt man sich an Augustinus‘ Deduktionen, denen zufolge die Wundervölker für das christliche Wort erreichbar sein und somit innerhalb der Ökumene siedeln müssten. Unter diesen Prämissen konnten die monstra auch Einzug in die Arche Noah halten, als deren Postfiguration das Kirchenschiff galt. In den Kirchen der Cluniazenser avancierten sie als entdämonisierte und verniedlichte Unholde zu einem Lieblingsmotiv und verbreiteten sich auf Säulen, Kapitellen und Portalen über den ganzen Kirchenraum. In England findet man sie als Schnitzereien an Miserikordien, im Italien des 11. und 12. Jahrhunderts häufig auf Fußbodenmosaiken. Offensichtlich nahmen die Wunderwesen im Kirchenschiff derart überhand, daß sich Bernhard von Clairvaux genötigt fühlte, den monstra – und zwar sowohl der Kunstfertigkeit, mit der sie geschaffen, als auch der Andacht, mit der sie betrachtet wurden – ganz entschieden entgegenzutreten: Man sieht in den Klöstern unter den Augen der andächtigen Brüder diese lächerlichen Ungeheuer. Was haben sie hier zu suchen? Wozu diese unsauberen Affen, die grimmigen Löwen, die monströsen Zentauren, die 22 Halbmenschen, die gestreiften Katzen, die kämpfenden Ritter, die hornblasenden Jäger? Viele Leiber sieht man unter einem Haupt und viele Köpfe, die einem einzigen Körper zugehören. Hier kommt ein vierfüßiges Tier mit einem Schlangenschwanz daher, dort ein Fisch mit einem Tierkopf ... Kurzum, so mannigfaltig und wunderlich sind die verschiedensten Bildungen, daß man versucht sein könnte, eher den Marmor anzusehen als in der Heiligen Schrift zu lesen, und es könnte einer leicht den Tag damit verbringen, solche Dinge zu bewundern, anstatt über das Gesetz Gottes nachzudenken. Bei weitem nicht alle Ungeheuer, über deren Darstellung der Heilige Bernhard sich hier erzürnt, stammen aus dem Repertoire der Wundervölker des Ostens. Die Ursprünge der monstra in der bildenden Kunst des Mittelalters sind vielfältig und lassen sich nicht auf ein einzelnes Phänomen reduzieren. Gewiss ist das abendländische Bildvokabular durch den direkten Kontakt des Westens mit dem Orient während der Kreuzzüge um exotische Elemente bereichert worden, doch auch lokale Traditionen sowie nicht zuletzt die kreative Phantasie der Steinmetze sind für die ausgeprägte Präsenz monströser Wesen in der romanischen Baukunst geltend gemacht worden Ausschnitt aus der Ebstorfer Weltkarte Die Bemühungen, die Wundervölker in den christlichen Kosmos zu integrieren zeichnen sich auch auf den großen mappae mundi des Mittelalters deutlich ab. Auf der 1235 entstandenen - und 1943 zerstörten - Karte von Ebstorf (358 x 356 cm) ist die bewohnte Erdscheibe als Leib Christi dargestellt, dessen Kopf, Hände und Füße an den vier Punkten des Achsenkreuzes hervorragen. Im Zentrum des T-förmigen orbis tripartitus liegt Jerusalem, das übereinstimmend mit der in zu Florenz Wundervölker zeigen 23 Londoner Psalterkarte 13. Jahrhundert Hereford Weltkarte 24 Auf der größten heute erhaltenen mappa mundi (162 x 137 cm), der zwischen 1276 und 1282 entstandenen Karte von Hereford tummeln sich Vertreter der Wundervölker in der gesamten Ökumene, doch sind sie auch hier besonders zahlreich am rechten Rand der Erdscheibe vertreten - in jener heißen Südzone, die auf den Zonenkarten den Antipoden vorbehalten ist -, wo sie in kleine Kästchen gesperrt und ordentlich untereinander gereiht figurieren. Bis zu diesen monströsen Völkern in den Winkeln der Welt musste der Weisung Christi zufolge das Evangelium gebracht werden. Was dann allerdings geschehen würde, hatte der Gottessohn unmissverständlich formuliert. Nach den Zeichen seiner Wiederkunft befragt, antwortete Christus seinen Jüngern: Vnd es wird geprediget werden das Euangelium vom Reich/ in der gantzen Welt/ zu einem zeugnis vber alle Völcker/ Vnd denn wird das ende kommen. Über der Darstellung der bewohnten Welt thront auf der Karte von Hereford Christus als Kosmokrator und Weltenrichter, umgeben von Engeln, die auf ihren Posaunen zum Jüngsten Gericht blasen. Zu den Füßen Christi legt Maria Fürbitte für die sündigen Seelen ein, während auf der linken Seite ein Engel bereits die erste Schar der Seligen geleitet, die von einem Bischof mit großer Mithra angeführt wird Auf der Ebstorfer Weltkarte betonen das Alpha und das Omega zu beiden Seiten des Kopfes Christi den Zusammenhang mit den Worten der Johannes-Apokalypse: „Ego sum principium et finis“. Die Verbreitung des Evangeliums auf der ganzen Welt und bei allen Völkern war Auftrag Christi und gleichermaßen Voraussetzung für den Beginn der Endzeit. Sobald das Evangelium bis an die Ränder der Welt vorgedrungen war, sollte die Zeit des Antichristen anbrechen, der gemeinsam mit den beiden apokalyptischen Tieren eine Art teuflische Trinität bildet, würde falsche Lehren über Christus verbreiten und „mit großer Macht“ und der „Kraft des Satans“ die Völker zum Abfall von Gott verführen. Die Predigten des falschen Propheten waren in Schriften, die das Leben und Wirken des Antichristen zum Gegenstand hatten, ein beliebter Illustrationsgegenstand. 25 E. Monstra Marina – die Meerwunder Seit Isidor von Sevilla in seinem Kapitel über Fische nicht nur Wasserlebewesen wie Nilpferd und Krokodil, sondern auch einige ihm irreal erscheinende Arten wie Schwertfisch etc. aufgenommen hatten, kehrten die seltsamen Seeungeheuer auch in der mittelalterlichen Literatur und Kunst wieder. Die im Mittelhochdeutsch als Merwunder und im lateinischen als monstra marina bezeichneten Meermonster waren wie alle Wundermenschen langlebig und fanden sich noch in der frühen Neuzeit häufig in Reisebeschreibungen, Enzyklopädien und Seekarten. Isidor selbst hielt sich in seiner Beschreiung eng an die Naturgeschichte des Plinius und übernahm von ihm z.B. Sagen über das Verhalten der Delphine. Die wenigen riesenartigen Wasserwesen, die mehr dem Namen nach unwahrscheinlich wirkten wie das Flusspferd, das Seepferd die Meerkälber und deren Fragwürdigkeit durch ihre Größe wie der Wal, der Jonas verschluckt haben soll, hatte man in der Folge in der enzyklopädischen Tradition sukzessive um ähnliche Namenskompositionen erweitert. Im Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpré wurden den monstra marina bereitsein ganzes Kapitel gewidmet, von demjenigen über die Fische getrennt und mit Allegoresen versehen, die für die eigentlichen Wundermenschen fehlen. Zu den monströsen Meereswesen zählten nicht nur die Seepferde, Krokodile, Riesenschildkröten und alle Delphinarten, sondern auch neu hinzugetretene Monster wie der Meerdrache und der Seehund. Auch die zahlreichen mit dem Meer assoziiertet mythologischen Gestalten der Antike wurden hier aufgegriffen, wie die Scylla, die Nereiden und die allgegenwärtigen Sirenen. Noch einen Schritt weiter ging der aus Thomas schöpfende Paulerinus de Praga in seiner Naturenzyklopädie Liber viginti arcium aus der Mitte des 15. Jahrhundert,, der die Meeresfische und die Meermonster mischte und ergänzte, wobei er eine Reihe von Mischwesen namentlich erwähnte wie das Meerkalb, den Seefuchs, Seekuh, Meerhirsch, Meeresel, Seekatze. Bei ihm werden die Meermonster als erstaunenswerte Ergänzung der Schöpfung Gottes angesehen. Über Thomas gelangten die merwunder auch zu Konrad von Megenberg, der keine Bedenken hegte, das Kapitel in seine mhd. Übertragung von Thomas‘ Enzyklopädie aufzunehmen. Nun wollen wir von Meerwunder reden, unter denen wir auch Gut und Böse bei den Menschen verstehen. Denn zwar ist der Mensch von edlerer Natur als alle anderen Tiere, wenn er aber noch nach menschlicher Natur und er der Vernunft lebt, so macht er sich schlechter als ein Tier und gleicht in einigen seiner Verhaltensweisen einem Pferd, in anderen einem Hund oder einem Vogel. Deswegen braucht ihr auch nicht ins Ausland zu reisen, um solche Meerwunder zu sehen. Wir haben davon bei uns genug. Am Anfang wollen von den Meerwundern sprechen deren lateinischer Name mit A beginnt, darnach mit einem B, wie wir es vorher gemacht haben. Es wird deutlich dass es Konrad von Megenberg in diesem Abschnitt eher um die Allegoresen als um die Beschreibung der Tiere selbst geht, äußert er doch, dass man keine Reise unternehmen müsse, um solche merwunder zu sehen, weil es unter den Menschen genug davon gebe. Damit kann nur gemeint sein, dass es unter uns genug Sünde ist, die sich wie die genannten maritimen Mischwesen aus Fisch und Pferd, Fisch und Hund oder Fisch und Vogel verhalten. Letzteres bezieht sich auf die merweib, das heißt die Sirene, die eine Stimme wie die Vögel haben. Wenn die 26 Seefahrer diese Stimme vernehmen, so schlafen sie wegen der Süße des Gesangs sofort ein und werden von den Sirenen zerrissen. Drunter versteht Konrad lasterhafte Frauen, die Männer zu Sünden verführen. Neben diesen nennt er die Meerhunde, die er mit dem Teufel bzw. den Dämonen gleichsetzt, die uns wie die Hunde jagen, aber durch ihr Gebell nicht warnen, sondern sofort einfangen. Die bemerkenswerteste seiner Beschreibungen lieferte er mit dem im Prolog genannten Mischwesen zwischen Fisch und Pferd, dem Flusspferdes: Es sei von der Größe eines Esels mit dicker Haut und besitze gespaltene Hufen und einen Schweinschwanz. Er kommentiert dazu. Dâ mach auz waz dû wellest. (=Mach daraus, was immer dir beliebt) Männliche Meermonster kommen sowohl in der mittelalterlichen Literatur als auch in der Kunst vor. Während Letztere auf antike Traditionen zurückgreifen, wobei Tritonen ebenso wie die Sirenen als Quellen gedient haben mögen, sind die literarischen Meermonster der mhd. Epik schwerer zu fassen. Mitunter entsteht der Eindruck, es handle sich bei einem dieser nicht näher beschriebenen merwunder einfach um einen Begriff für Monstren. Auch die Kenntnis der Größe, Stärke und Gefährlichkeit von Seelöwen, Walrössern und anderen Meereswesen durch Seeleuten, die im Nordatlantik praktische Erfahrungen machen konnten, hat freilich eine Rolle gespielt. Aus einer Handschrift des 15. Jahrhunderts, Meerfaun? Besser vorstellbar als die merwunder der Dichtung sind jene der enzyklopädischen Werke, da sie knapp definiert und vereinzelt sogar illustriert werden. Unter den der illustrierten Handschrift des liber de natura rerum des Thomas von Cantimpré aus der Krakauer Bibliothek sind dreimal so viel Beschreibungen von Meermonstern enthalten, als die Handschrift, die Konrad zur Verfügung hatte. Dabei ist auffällig, dass es sich meist um monströse Mischwesen zwischen Land und Meerestier oder 27 zwischen Mensch und Fisch handelt. Dazu zählte der Zitiron, der als Meerritter gedeutet und dem entsprechend mit einem Topfhelm des 13. Jahrhundert abgebildet wird, der Meermönch, den man als Fisch mit menschlichem Kopf und Tonsur darstellt. Besonders diese populären Mischwesen mögen dazu geführt haben, dass die Meerwunder mehr als die anthropomorphen Wunderwesen Spuren in der deutschen Literatur des Mittelalters hinterlassen haben. Der Meerritter wird häufig beschrieben z. B beim französischen Dominikaner Vinzenz von Beauvais (um 1250) - Aus einem flämischen Manuskript des 14. Jahrhunderts Ob der Zitiron die alleinige Quelle der männlichen kriegerischen merwunder in der mittelalterlichen Erzählliteratur war oder ob der Wille zur Variation des Monströsen bei einzelnen Autoren eine noch größere Rolle spielte, sei dahingestellt. Doch auch wenn Ersteres der Fall ist, scheinen in den dichterischen Werken immer die enzyklopädischen Beschreibungen durch. Dies lässt sich vor allem bei dem 13. Jahrhundert verfolgen, während für das 12. Jahrhundert noch kein Interesse an den maritimen Monstern in der europäischen Literatur zu konstatieren ist. Gleichwohl ist die enzyklopädische Tradition offensichtlich schon lange vor der deutschen Übersetzung des liber nature rerum durch Konrad um 1350 vorhanden, dass man sich den Meerritter als höfische Wesen vorstellen konnte und dass er als Erzieher von Knappen geeignet war, illustriert auch eine Darstellung der zwei Sirenen und zwei Meerritter im altfranzösischen Alexanderlied, die in volle Rüstung, aber mit Fischspeeren bewaffnet, im Wasser turnieren. Dabei kann auch die Vorstellung vom unterseeischen Königreich eine Rolle gespielt haben. Über die unterseeischen Könige wie König Priure im mhd. Epos Diu Crône des Heinrich von dem Türlin herrschen, der eine höfischen Fischritter als Boten an den Artushof sendet. 28 Sirenen und andere Meerfrauen finden sich in der mittelalterlichen Kunst und Literatur wesentlich häufiger als ihr männliches Pendant, besonders in der kirchlichen Bauplastik. Die weiblichen Meermonster des Mittelalters lassen sich vor allem auf die Gestalt der antiken Sirene zurückführen, auch heimische Vorstellungen der Nixen und Wassermänner sind mit eingeflossen. Sirenen auf der Kirche St. Maria in Villanuevas Bis ins Mittelalter blieb die Geschichte vom listenreichen Odysseus, der dem betörenden Gesang der Sirenen nicht erliegt, weil er sich die Ohren verstopft und sich am Schiffsmast festbinden lässt, die wichtigste Quelle für die literarischen und künstlerischen Darstellungen der Sirenen im Mittelalter. Musik, Verführungskünste und Gefahr sind die vorherrschenden Assoziationen. Die Sirenen blicken bereits im Altertum auf eine lange Tradition zurück, der Prophet Jesaja zählt sie zusammen mit wilden Tieren als Symbol der Verwüstung im verlassenen Babylon auf. Das in abgewandelter Form in den Physiologus übernommene Jesaja-zitat erweitere der jüngere Physiologus deutlich. Dadurch gewannen die Sirenen and Bedeutung, die neben den bösen Wundervölkern Gog und Magog vor allem im kirchlichmonastischen Bereich als Vertreter der Wundervölker anzutreffen sind. Ihre Darstellung in den Handschriften des Physiologus und der Bestiarien ließen sich auch für die Interpretation der Laster der luxuria (Faulheit) voluptas /(Sinnlichkeit) und avaritia (Habsucht) besonders geeignet erscheinen. Als Symbol für die vanitas (Eitelkeit) die ebenfalls als weibliche Untugend galt, war den Sirenen traditionell ein Kamm beigefügt, der in der frühen Neuzeit um einen Spiegel erweitert oder durch diesen ersetzt wurde. Nicht so negativ wie in den Allegoresen der theologischen und 29 enzyklopädischen Literatur wurden die zahlreichen Meerfrauen in der epischen Literatur des Mittelalters gezeichnet. Dies in den mhd. Werken als merfei oder merminne und mervrowe oder merwip bezeichneten Wesen übten vorwiegend eine Rolle als Ziehmutter oder Erzieherin in der Kindheit des Helden aus, ware auch Helferin und Heilerin. So schildert das Romanfragment Abor und das Meerweib (Anfang des 14. Jahrhunderts) die Heilung de Helden Abor durch ein merwip an einem Jungbrunnen und erzählt vom wundersamen Geschenk der Meerfee für den Protagonisten. Ihre ephemere Rolle äußert sich darin, dass sie ihren Helden nach sechs Wochen und zwei Tagen wieder verlassen muss. Damit zählt die Begegnung mit der Meerfee zum Komplex der gestörten Mahrtenehe. F. Die Wilden Menschen Einen Sonderfall unter den Wundervölkern sind die Wilden Menschen, die aufgrund des Fehlens antiker Vorbilder auf einheimische mythische Quellen zurückgehen dürften, auch wenn sich diesen nicht mit Sicherheit nachweisen lässt. Im Mittelalter wurden sie mit einigen keineswegs klar definierten Bezeichnung versehen, man nannte sie homines agrestes, homines silvestres verkürzt Agrestes, Silvestres oder Silvani, was dem volksprachlichen Wild- bzw. Waldmenschen entspräche. Der Begriff Agrestes deute zumeist auf ihre Ungezähmtheit und Unkultiviertheit an, mit der sie sich der menschlichen Gemeinschaft verschließen auch durch ihr Aussehen unterscheiden sie sich von anderen Menschen: sie sind nackt, am ganzen Körper behaart und insbesondre die männlichen Vertreter haben struppige Bärte und sind ungekämmt als Zeichen mangelnder zivilisatorischer Praxis. Die Wilden Menschen gehören zu den wenigen Fabelrassen, die in beiderlei Geschlecht auftreten, was durch 30 Hervorhebung sekundärer Geschlechtsmerkmale, nämlich unbehaarte Brüste bei den Frauen, starker Bartwuchs bei den Männern betont wird. Der Wilde Mann ist innerhalb der bekannten Welt in Eur0oa und nicht in fernen Gegenden beheimatet, eine außersoziale Figur mit unzivilisiertem mitunter tierähnlichem Aussehen, die sich in der Mythologie und Folklore zahlreicher europäischer aber auch außereuropäischer Völker nachwiesen lässt. Der älteste Beleg vermutlich im sumerischen GilgameschEpos in dem ein Wesen namens Enkidu mit langen Haaren behaartem Körper und enormen Kräften geschildert, wird, das sich schließlich zum Menschen entwickelt. Obwohl die Agrestes bei Isidor nicht unter den Wundervölkern genannt sind, geht die Namensgebung zum Teil auf ihn zurück. Vorbilder sind die Pilosi die Behaarten der älteren Tradition und die Wildmenschen der einheimischen Tradition. Diese sind nicht nur aus der Folklore belegt, sondern auch durch eine ganze Reihe dem Wahnsinn verfallener und dann in der Wildnis hadernder Einzel Figuren der mittelalterlichen Literatur anzutreffen. Dazu zählt der schottische Krieger Lailoken, aus dem die Gestalt des Myrddin später Merlin hervorging, der wegen der Schlacht von Arderydd dem Wahnsinn verfiel und jahrelang in der Wildnis von Südwestschottland lebte. Das Buch Daniel im Alten Testament berichtet von dem persischen König Nekukdnezar II, wegen seines Hochmuts sieben Jahre als Wildmensch mit den Tieren im Wald leben musste. Mit Wahnsinn anstatt einer Form angeborener Defizienz bring auch Konrad von Megenberg die Wildmenschen in Verbindung. Der wilde Mann im Iwein: Aus dem Freskenzyklus von Schloss Runkelstein, um 1400 Die bekannteste literarische Ausformung des Waldmenschen kennen wir aus Hartmanns von Aue Iwein: der Artusritter Kalogreant trifft den ihn am Wunderbrunnen. Er repräsentiert die Gegenwelt zur Gesellschaft am Hofe Artus und wird dann im Wahnsinn des Iwein selbst gespiegelt, als er aus Enttäuschung über den 31 Verlust seiner Frau Laudine den Verstand verliert und ebenfalls eine Zeitlang wie ein wildes Tier nackt im Wald lebt. Reizvoll für die bildliche Darstellung war gewiss auch die erotische Konnotation der Wilden Menschen, nicht zuletzt wegen der Tasche, dass sie in beiden Geschlechtern auftreten. Die erotischen Bezüge äußern sich unterschiedlich: So verweist die friedliche Natur auf ein goldenes Zeitalter und bilden ein diesseitiges Pendent zu Adam und Eva. Von anderer erotischer Natur ist die Rolle des wilden Mannes als Frauenräuber, der adelige Damen entführt, die dann vom Helden wieder befreit werden. Bei den wilden Frauen gibt es Beispiel wo diese, wie die Rauhe Else im Wolfdietrich, den Rittern nachstellen und ihre Liebe erzwingen wollen. Neben diesen Bezugnahmen hatte der wilde heraldische Bedeutung, die der Gestalt ein Überleben bis ins 16. Jahrhundert sicherte. Haus- und Wirtshausnamen wie „Zum Wilden Mann“ deuten ebenfalls an, dass eine negative Konnotation auszuschließen ist. 32 III. Fabeltiere und Fabelwesen A. Der Drache Initiale S in Form eines Drachens. Missale aus dem Kloster Schuttern (15. Jahrhundert.) Das Bild des Schuppentragenden vierbeinigen Reptils mit Schlangenkörper, einem Krokodilkopf mit Hörnern, riesigen Flügeln und Feueratem, das nunmehr mit dem Drachen verbunden wird, entwickelte sich aus unterschiedlichen Einzelzügen und 33 Traditionen. Waren Drachen und Schlangen im antiken Indien und Ägypten noch synonym, zeichnet sich in China schon bei den frühesten chinesischen Drachendarstellungen die Tendenz zur Verflechtung mehrerer Tierkörper ab. In Vorderasien besaß der Drache zwar den charakteristischen Schuppenpanzer, war aber bereits eine Mischung aus Kriech- und Säugetier. Die aus der Frühzeit datierenden Siegel und Funde können eine symbolische Konnotation allerdings noch nicht sichern. Erst mit der Erfindung der Schrift im 3. vorchristlichen Jahrtausend bekommt der Drache eine greifbare Gestalt. Das babylonische Weltschöpfungslied aus dem 2. Jahrtausend erzählt den Kampf des Apsu und der Tiamat gegen Ea. Dieser tötet Apsu und übernimmt die Herrschaft. Tiamat will sich für den Tod ihres Gemahls rächen und erschafft zur Verteidigung Drachenwesen. Tiamat wird besiegt und aus ihrem Körper entstehen Himmel und Erde. Der neue Herrscher Marduk übernimmt den gezähmten Drachen. Hier eröffnet sich bereits die ambivalente Bedeutung des Drachen, in Tiamats Heer entspricht er in seiner Grausamkeit und Bösartigkeit bereits dem späteren Ungeheuerbild. Beim nachfolgenden Herrscher Marduk mutiert er nach seiner Unterwerfung zum Wächter und Schutzgeist des Götterkönigs. Gegen Ende der frühdynastischen Periode um 2500 in Nordmesopotamien bildete sich der geläufige vielköpfige Drachentyp aus. Er wird in den Texten als muš (mah) sag-imin, d.i. die siebenköpfige Schlange erwähnt und ist immer negativ konnotiert. Die vielen Köpfe betonen die Vielfältigkeit und Wendigkeit des Monsters. Als literarisches Motiv scheint er fest verankert, aber nicht ikonographisch. Der Drachen als Negativum erfordert einen dementsprechend positiv gezeichneten Gegenspieler. Im syrischen Ugarit erwähnt ein Text, dass der Wettergott Baal den siebenköpfigen Schlangendrachen besiegt habe. Diese Heldentat wird in der Bibel dem Gott Jahwe, in der Apokalypse dem Erzengel Michael zugeschrieben. In der griechischen Epik traten Götter Heroen und Menschen gleichermaßen gegen den Drachen an. Die Mythen zwischen dem 8. Jahrhundert als Hesiod seine Theogonie schrieb bzw. dem 4. oder 3. vor Christus kennen verschieden Drachenformen. Hesiod beschreibt zwei große Monstren, die einander nicht ähneln aber doch mit den Drachen verwandt sind. Das erste Monster der Nachkommen einer inzestuösen Verbindung zwischen Phorkys und seiner Schwester Keto, jene Schlange, die den Garten der Hesperiden bewacht mit Namen Echidna, mit dem Oberkörper einer Frau und dem Unterkörper einer Schlange. Die Drei Gorgonen, bei Aeschylus Apollodorus und anderen beschreiben sind geflügelte Frauen mit Schlangenhaaren scharfen Zähnen und Klauen. Eine der Schwestern war die furchtbare Medusa, die den Betrachter in Stein verwandelte. Dieser schlägt Perseus auch Kopf ab, das zweite Monster ist das Ergebnis einer Verbindung von Echidna und Typhon und eine ganze Reihe von Monstren wie die Hydra von Lerna die Chimera und die Höllenhunde Orthos und Cerberus. Typhon, der vom Tartarus und Gaea abstammt, trägt ebenfalls Drachenzüge. Zu den zwölf Arbeiten des Herakles gehörten auch zwei Drachenkämpfe. Die Hydra, eine vielköpfige große Schlange, hauste unter einem Baum an der Quelle eines Flusses und machte die benachbarten Sümpfe von Lerna unsicher. Jedes Mal, wenn Herakles einen 34 ihrer Köpfe abschlug, wuchsen zwei an seiner Stelle nach. Um diese endlose Arbeit zu beenden, befahl Herakles seinem Neffen, nach dem Kopfabschlagen die entstanden Wunde auszubrennen, um das Nachwachsen zu verhindern. Als dann die Hydra in gemeinschaftlicher Anstrengung besiegt war, tauchte Herakles seine Pfeile in das Blut des Untieres und tränkte sie mit dem tödlichen Gift. Seine letzte Arbeit führte den Helden zu den Hesperiden, um deren Äpfel zu holen. Der Baum, auf dem die Äpfel wuchsen, wurde von Nymphen gepflegt und der Schlange Ladon bewacht. Herakles tötet die große Schlange. Im Altertum ist der Drache als Symbol des Bösen bzw. des Chaos festzumachen. Wenn auch die antike Darstellung des Drachen nicht übernommen wurde, so doch der symbolhafte Gehalt. Aristoteles Geschichte der Tiere erwähnt einen „drakôn“ entweder als große Schlange oder in Bezug auf eine Fischspezies. Die 1220 datierende lateinische Übersetzung erfuhr große Verbreitung besonders durch Kommentare der Scholastiker wie Albertus Magnus De animalibus, Bartholomäus Anglicus De proprietatibus rerum und Thomas von Aquin Summa theologica und befestigte so Aristoteles als Autorität. Plinius bezog seine Anregungen sicherlich ebenfalls aus Aristoteles Zoologie, doch war er in der Auswahl seiner Quellen nicht immer kritisch, sehr zum Vorteil der Nachwelt, denn gerade dieses Konglomerat aus naturwissenschaftlicher Legende und Phantasie fasziniert noch heute. Er erwähnt das verlorene Gedicht eines gewissen Hegemon Dardanica, welches von der Liebesgeschichte zwischen einem großen Drachen und einem goldhaarigen griechischen Schafhirten erzählt. Liebevoll versorgte der Drache seinen Geliebten mit Jagdbeute. Leider wissen wir nicht, wie sich der Hirte revanchierte, aber der Beleg ist insofern von Interesse, als wir hier einen der ältesten Belege für die Geschichte von der/dem Schöne/n und dem Tier vor uns haben, das die Märchenforschung zu vielfachen Interpretationen inspirierte. In den mittelalterlichen Bestiarien am Beginn des 12. Jahrhundert, verbanden sich reale oder fiktive Tiere zu Symbolträgern der moralischen und religiösen Didaktik. Die direkte Quelle der mittelalterlichen Bestiarien, der griechische Physiologus, eine Alexandrinische Kompilation aus dem 2. Jahrhundert, stellte einen Katalog von Tieren, Pflanzen und Steinen, die man symbolhaft einsetzen konnte. Zuerst in östliche Sprachen übersetzt, erreichte das Werk in lateinischer Sprache große Verbreitung. In der Mitte des 13. Jahrhunderts begann sich die Tiersymbolik zu entwickeln. Neben der absichtsvoll christlich ausgerichteten Interpretation der Symbole gab es auch den weltlichen Bereich der höfischen Minneliteratur und Minnerhetorik. Richards de Fournival Bestiarium der Liebe von 1250 erwähnt reale und imaginäre Tiere, die die verschiedenen Stadien der Minne symbolisieren. Der verschmähte Liebhaber versucht das Herz der Spröden in vielerlei tierischen Verkleidungen zu erobern. Diese neue phantasievolle Richtung fand große Verbreitung, stieß aber auch auf Widerstand. Insbesondere Bernhard von Clairvaux, der sich nicht mit der figuralen Kunst anfreunden konnte, wandte sich entschieden gegen diese Ausschweifungen der Phantasie, die die Leute vom frommen Leben ablenken. Mit den Entdeckungsreisen, den Kreuzzügen und dem Aufkommen der Reiseberichte kamen noch eine Reihe von 35 Phantasiegeschöpfen und damit neue Symbolträger hinzu. Die Navigatio Sancti Brandani, ein anonymes lateinisches Gedicht der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, erzählt die Odyssee des Hl. Brendan, der auf die Suche nach dem Paradies Drachen, Greifen und einer Feuerspeienden Seeschlange begegnet. Die meisten seiner Themen hat man dem keltischen Kultkreis zugerechnet, allerdings sind auch u.a. beim Greifenmotiv Anleihen aus der arabischen Literatur wie den Sindbad Erzählungen zu vermuten. Während die antiken Erzählungen von Drachenbegegnungen und Kämpfen im Mittelalter noch wenig bekannt waren, also nicht einwirken konnten, behaupteten sich die Angaben in den zeitgenössischen Historien u. a bei Thomas von Cantimpré (1201-1272) So dachte man sich den Drachen mit einem Kamm. Solinus (200 n. Chr.) erwähnte schon den kleinen Kopf und ein enges Maul und verlagerte die Gefährlichkeit ähnlich dem realen Krokodil auf den Schwanz, der nach Isidor (560636), der hier wohl an eine Würgeschlange dachte, zum Umschlingen und Ersticken des Gegners dient. Den Pestatem des Drachen erwähnt Jakob von Vitry (1160-1240) in der Silvesterlegende. Der Papst erlöst die Stadt Rom von einem Drachen, der durch seinen Giftatem jeden Tag mehr als 300 Menschen tötete. Thomas von Cantimpré glaubte an die bei Jeremias 51,37 beschriebenen riesigen Drachen in den Ruinen des alten Babylon, die mit ihrem schaurigen Geheul die Menschen verschrecken, ebenso wie an das von Augustinus im Kommentar zu Ps. 148,7 behauptete Aufsteigen aus den Schlupfwinkeln in die Luft. Der Enzyklopädist Bartholomäus Anglicus (1224-?) hält dafür die Erklärung parat, die Drachen erheben sich in die Luft, um ihren Durst zu stillen. Aus aerodynamischen Gründen bezweifelt Albertus Magnus die Flugfähigkeit des Drachen (25,27), da er die großen Schwingen, die Thomas von Cantimpré als fledermausartig beschrieben hatte, für ungeeignet erachtet, und interpretiert Drachensichtigungen als Kometen.(25,28) Der zweite wichtige Traditionsstrang für die Verbreitung der Drachenvorstellung war die Literatur um Alexander den Großen, der nicht nur Modellkönig und Krieger, sondern auch Abenteurer und Entdecker war. Gerade seine exotischen Fahrten bestärkten seine große Popularität. Die Alexanderlegende, die im mysteriösen Orient spielt, führte die phantastische Menagerie in die Literatur ein: Drachen, Fleisch fressende Flusspferde, Riesenfledermäuse, weiße Löwen, Flügelschlangen, Schlangen mit Frauengesichtern, Monsterrassen, die ihren Ursprung sowohl aus der Gelehrtenliteratur als auch aus umlaufenden Sagen bezogen. Sprachlich und begrifflich ist der Drache erst durch die Römer zu den Germanen gekommen. Zuvor war das Wort „Wurm“ Sammelnamen für Reptilien, während mit der Entlehnung des griech/lat. Draco unter der kirchlichen Identifizierung des Drachen mit dem Teufel das ältere Wort fast völlig verdrängt wurde. Die mhd. Erzählliteratur kennt allerdings noch die alte Bezeichnung Würme, und im BairischÖsterreichischen erzählt man noch vom Tatzelwurm, dem Lindwurm vereinzelt vom Stollen- oder Haselwurm. Neben dem linguistischen Zusammenhang ergibt sich schon bei Hrabanus Maurus (8,3) und noch bei Hugo de Folieto (1100-1172) aus dem vielfältigen Verhalten des Drachen die symbolische Deutung als Sinnbild des Teufels 36 und seiner Anhänger (2,24). Zwei ursprünglich getrennte Vorstellungen vereinten sich auch in der äußeren Gestalt des Drachen: Die einheimischen Sagen von den riesigen Schlangenwürmern und anderseits die mediterrane kleinasiatische vom Mischwesen aus Krokodil und Raubvogel. In die mittelalterliche Kunst und Literatur gingen die Mischwesen ein, während die Volkskultur die Würmer beibehielt. Der ältere Kriechdrache des mhd. Epos wird schließlich immer mehr vom den Flugdrachen, eigentlich dem geflügelten Krokodil, verdrängt bzw. abgelöst. Dieses Übergangsstadium des kriechenden Drachen zum fliegenden markiert der große Drache in der Thidreksaga der knapp über dem Boden schwebt, sodass man mit dem Schwert auf ihn einschlagen kann. Die mittelhochdeutsche Literatur kennt sowohl kriechende als auch fliegende Drachen, die Flugdrachen scheinen die jüngere Vorstellung zu sein. Die unterschiedlichen Drachenvorstellungen haben sich seit dem Mittelalter in Volksbuch und mündlicher Folklore einander angenähert. Allerdings vermittelt die Heldenepik nur eine sehr spärliche Kenntnis vom Aussehen der Drachen, lediglich die typischen Attribute werden immer wieder wie stehende Formeln wiederholt. Auch das spätere Märchen bleibt uns eine ausführliche Beschreibung schuldig. Betrachtet man die biblischen Erwähnungen, so kann man mit Recht behaupten, dass die Verbindungen Drache und Teufel hier ihren Ausgang nahmen. Schon die Paradiesschlange wurde als Drache abgebildet, doch häufiger sind die Meeresdrachen: Du zertrennst das Meer durch deine Kraft und zerbrichst die Köpfe der Drachen im Wasser. Du zerschlägst die Köpfe der Walfische und gibst sie zur Speise dem Volk in der Einöde. Detaillierter informiert uns die Schilderung in der Offenbarung: Und es erschien ein großes Zeichen im Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Kindsnöten und hatte große Qual zur Geburt. Und es erschien ein anderes Zeichen im Himmel, und siehe, ein großer roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen; Und sein Schwanz zog den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. Und der Drache trat vor das Weib, die gebären sollte, auf dass, wenn sie geboren hätte, er ihr Kind fräße. Der weitere Verlauf ist bekannt, der Drache und seine Mitläufer, die bösen Engel, werden auf die Erde geworfen, wo sie fortan ihr Unwesen treiben. Aber der Drache ist nicht das einzige Ungeheuer, es ist noch von einer ganzen Reihe drachenartiger Wesen die Rede, hier bereits die Metapher für falsche Propheten und Ungläubige. Auch die bildliche Drachendarstellung im mittelalterlichen Europa variierte die Szenen: ebenso wie in der Antike überwiegt der einköpfige Drache. Die Propagandaschrift des heiligmässigen Lebens, die Legenda aurea des Jacobus von Voragine aus dem 13. Jahrhundert, favorisierte gerade jene Heiligen, die 37 Drachenkämpfe zu bestehen hatten, wobei die Drachen hier als Verkörperung des Heidentums zu verstehen sind. Der berühmteste der Legendenhelden, der Hl Georg. Ist vermutlich nicht mit dem kappadokischen Bischof des 4. Jahrhundert identisch, doch stammt er gewiss aus Vorderasien. Meistens wird die Szene seines Drachenkampfes nach Libyen verlegt: In der Nähe der Stadt Selene haust ein Drache, der die Einwohner terrorisiert und deren Vieh dezimiert. Um die Fresslust des Drachen zu dämpfen, opferten die verzweifelten Bewohner täglich zwei Schafe. Als diese aufgebraucht waren, opferten sie zwei Kinder, die ausgelost wurden. Auch die Königstochter traf das Los. Als die Jungfrau zum Drachenlager gebracht wurde, ritt der hl. Georg vorbei und hatte Mitleid mit ihr. Er erbarmte sich ihrer und besiegte den Drachen. Allerdings tötet er ihn nicht, sondern brachte ihn als Gefangen in die Stadt und erklärte den Bewohner, der Sieg wäre nur mit Gottes Hilfe gelungen. Nach der Bekehrung schnitt der dem Drachen den Kopf ab. Nach dem umfangreichen Material in seiner Legenda Aurea, das Jacobus von Voragine über den Heiligen gesammelt hat, lassen sich verschiedene Elemente der Legende herausarbeiten, die eine sehr komplizierte Überlieferungsgeschichte erkennen lassen: Jacobus beruft sich unter anderem auf den Kirchenvater Ambrosius (4. Jahrhundert), nach dessen Zeugnis sich als einziger Georgius zu Jesus bekannte und die unzähligen Martern nicht fürchtete. Neben dem heiligen Georg kämpften aber auch noch andere Heilige mit Drachen. St. Vitonius, Bischof von Verdun unter Choldwig soll einen Drachen in der Maas ertränkt haben (5, 745) 32 Drachenheilige sind in der Legenda Aurea gelistet. Als wichtige Informationsquelle kommen neben den biblischen und legendarischen Berichten die schon erwähnten mittelalterlichen Fachschriften, die Bestiarien hinzu. Den lateinischen ursprünglich griechischen Vorbildern fügten die Verfasser mittelalterlicher Bestiarien eine christliche Interpretation an. Die Tiere erfuhren so eine neue (Be)Deutung im Sinne der christlichen Allegorese, wurden so in Symbole des Guten und des Böse getrennt. Drachen und Schlangen waren Verkörperungen der Sünde, davon rückten auch die Bestiarien nicht ab. Drachensagen sind noch bis ins 19. Jahrhundert hinein für wahr gehaltene Volkserzählungen, die den Tatzelwurm als Naturphänomen ansehen. Das Ungeheuer von Loch Ness, eine Art Seedrache, geistert nicht nur als moderne Sage durch die Medien, sondern soll von vielerlei Augenzeugen gesehen worden sein. Auch die Historiographie des 15. Jahrhunderts geht noch von der Realität des Drachens aus, wie die Zimmersche Chronik belegt. In der Reimchronik des Nikolaus Schradin soll ein riesiger Drache aus dem See die Reuß hinunter geschwommen und bei Luzern gesichtet worden sein. Der Luzerner Stadtschreiber Cysat gibt einen detaillierten Erlebnisbericht eines Küfners aus Luzern, der im Gebirge in eine Drachengrube fällt, aber überlebt, indem er, wie die Drache es täten, Salz vom Felsen leckt. Er überwintert und lässt sich vom Drachenschwanz aus der Höhle ziehen. Er kämpft nicht mehr mit den Drachen, sondern die Drachen verhalten sich auf sein 38 Gebet hin still und verhelfen ihm sogar wieder zum Aufstieg. Renward Cysat (15451614) berichtet sogar von einem eigenen Drachenerlebnis. Der frz. Zoologe Belon will sogar noch im 16 Jahrhundert eine geflügelte Schlange gesehen haben. In der fünfbändigen Historia animalium (1551-1587) versucht Gesner, die Drachen zu typisieren. In der Mitte des 16. Jahrhundert scheint der Glaube bereits allgemein gewesen zu sein, dass die Höhlen der Alpen Wohnstätten von fliegenden Schlangen oder Drachen seien. In den Naturgeschichtsbüchern des 17. Jahrhundert noch als real existierend belegt, begann man in der Barockzeit Drachenfälschungen zu verfertigen, die von dem Adel für ihre Raritätenkabinette und Wunderkammer erworben wurden. Eine in Silber gefasste Drachenzunge vom Kloster Wilten wird im Innsbrucker Museum gezeigt. Während die Aufklärung nichts mehr für den Drachenglauben übrig hatte, setzte dieser mit der Mittelalterrezeption der Romantik abermals ein. Der Berner Naturwissenschaftler Studer setzt z. B. noch eine Belohnung für das Auffinden eines Stollenwurmes aus. Eine so komplexe Figur wie der Drache musste also zwangsläufig zu einem mehrdeutigen Symbol werden. Im Mythos gilt er als Sinnbild des Feindes, der Nacht. Im christlichen Sinne ist er ein Symbol des Teufels und damit Inbegriff alles Bösen. In der mittelalterlichen Epik ist der Drache auch als das Gegenbild des HöfischMenschlichen. Weil er sich in allen Elementen bewegen kann, repräsentiert er die materia prima, den Urstoff aller Metalle, aber auch Symbol für Quecksilber das flüssige Metall. Ebenso wie die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, ein Symbol für den Kreislauf und Ewigkeit. Eine immer wieder diskutierte Form der Erklärung für das Auftreten bzw. Symbolisierung von bösen Monstren ist gehäuftes Erscheinen in Krisensituationen. Baltruišaitis meinte im 13. Jahrhundert eine Erneuerung der Wundertiere der Romanik konstatieren zu können. Diese Erneuerung könnte auch mit der ernsthaften spirituellen Krise in Zusammenhang gebracht werden, die das Christentum erlebte. Immer wieder kehrende Bewegungen mit Endzeiterwartung wie die millenaristischen Sekten, der Einsatz der Inquisition und der Beginn der Hexenverfolgung, einfach zusammengefasst als angsteinflössende Bewegungen und Mechanismen könnten die augenscheinliche Popularität von aggressiven Themen wie Drachenkampf, Totentänze etc. ausgelöst haben. Die apokalyptischen Symbole des Hieronymus Bosch um 1500 könnten auch als Summe und Kompendium der übernatürlichen Erscheinungen und der Ängste davor gedeutet werden. Dennoch bleibt auch bei der Krisenthese einiges offen. Boschs Werk bleibt im christlichen Kontext und bringt die mittelalterlichen inneren Dämonen in sichtbare Form um diese exorzieren zu können. Das Wiederauftreten dieser mittelalterlichen Angstwelt im 19. Jahrhundert und das vorläufig letzte Erscheinen in Comicwelt und Film kann ähnlichen Umwälzungen zugeschrieben werden. 39 B. Der Greif Aus einer illuminierten Handschrift der Etymologie des Isidor Ebenso wie beim Drachen stammen die ältesten Nachrichten vom Greif aus Ägypten und Mesopotamien. Die ägyptische Kunst, die nicht nur den Drachen, sondern auch andere Mischwesen kannte, stellte den Greifen mit dem Kopf eines Geiers und einem Löwenkörper dar. Manchmal trug der Kopf des Greifen eine Art Kamm, der die Basis seiner besonders charakteristischen Ohren bildete. Als Bildsymbol repräsentierte der Greif den siegreichen Pharao, der seine schlangenförmigen Feinde bekämpft. In Mesopotamien besaß der Greif die Gestalt eines geflügelten Löwen, manchmal mit den Hinterbeinen und dem Schwanz eines Vogels. Furcht erregend mit Dämonen und Ungeheuern assoziiert, wanderte die Figur nach Syrien, Palästina, und Anatolien aus. Gegen 1700 v Chr. finden sich erste Darstellungen in Kreta. Hier wurde er beim Festhalten der Beute mit seinen Klauen und im Kampf mit Löwen oder Stieren abgebildet. Aber auch Wächtergreifen schmückten die Wände des Königs Minos in Knossos. Hier fungiert der Greif als Abschreckung gegen das Böse einerseits aber auch als Wächter von Kostbarem. Von der Antike bis in die neuere Zeit wird der Greif meist paarweise dargestellt. Der als opinicus bezeichnete Greif der klassischen Zeit besaß vier löwenartige Beine, während in der nachklassischen Zeit er vorne die klauenbewehrten Beine des Adlers und löwenähnliche Hinterbeine besitzt. Grypho, ahd. Grif geht auf ein indogermanisches Verbum zurück, aus dem sich das neuhochdeutsche Wort „greifen“ ableitet. Der griechische Name gryps wird mit dem Adjektiv grypos assoziiert, das gekrümmt bedeutet. Nach einer anderen Theorie stammt das Wort von dem vorderasiatischen kerub ab, der wir der Greif ein geflügelter Wächter den Baum des Lebens schützte. In der Bibel gab er den Cherubim seinen Namen. Mehr noch als der Drache war der Greif immer zweideutig konnotiert. Da er Komponenten des Adlers und des Löwen in sich vereinigte, lag es nahe, ihn als Herrschaftssymbol einzusetzen. Die Griechen übernahmen den Greifen im 8. Jahrhundert vor Christus, und verstanden ihn als Totenwächter. Zusätzlich zu seiner Wächterrolle wurden die Greifen im Kampf mit Ungeheuern, aber auch mit Amazonen (ebenfalls eine Aberration) gezeigt. Im 5. Jahrhundert liefert Herodot einen der ersten literarischen Erwähnungen des Greifen und gleichzeitig eine Interpretation seines Antagonismus zum Menschen. Nach seinem Bericht gebe es im Norden Europas mehr Gold als irgendwo sonst. Die dort lebenden Menschen, die Arimaspen, ein Volk von 40 Einäugigen, würden das Gold nur dadurch erhalten, dass sie es den Greifen stahlen. Interessant dabei ist, dass Herodot nicht die Existenz der Greifen, sondern der Einäugigen anzweifelte. Nichtsdestoweniger fungieren hier die Greifen wieder als Wächter von Kostbarem, hier des Goldes. Im Laufe der Zeit wurde diese Verbindung zwischen den Arimaspen und den Greifen weiter ausgebaut. Herodot zitiert in diesem Zusammenhang den Gewährsmann Aristeas, dessen Werk Arimaspea nicht erhalten ist. Nun berichtet aber Aristeas, der Sohn des Kasystrobios, aus Prokonenesos in einem epischen Gedicht, wie er, von göttlicher Raserei [vom Gott Apollo besessen] ergriffen, zu den Issedonen gewandert sei. Jenseits der Issedonen, erzählt er, wohnen die Arimaspen, Menschen mit einem Auge, jenseits der Arimaspen wohnen goldhütende Greifen und jenseits der greife die Hyperboreer, die an ein Meer grenzen.[…] Nördlich von den Issedonen, erzählen sie selber, wohnen jene einäugigen Menschen und jene goldhütenden Greife. Die Skythen haben diese Nachricht von den Issedonen übernommen, und durch den Verkehr mit den Skythen wiederum ist sie auch zu uns gedrungen. Der Name Arimasper, den wir ihnen geben, ist skythisch. Arima heitßt bei den Skythen „eins“ und Spu heißt „Auge“. Der geheimnisvolle Aristeas blieb lange Zeit der Gewährmann bzw. Greifenexperte, doch abgesehen von den überlieferten Zeilen und der Behauptung Herodots, er habe das Gedicht Arimaspea verfasst, blieb dieses verschollen. Bis zum Ende des römischen Reiches blieben die Greifen Vögel und zusammen mit Dreifuß und Leier Symbole des Apollon. Das Vorbild des Kaisers Augustus, der mit Greifen geschmückt Apollo für seinen Sieg dankte, ließ die Greifen zum Herrschaftssymbol werden. Ab dem 3. Jahrhundert mit zunehmendem orientalischem Einfluss wurde der Greif auch auf den Lichtgott Mithras übertragen. Daneben hatte er noch eine andere wichtige Funktion, er war Psychopompos, Führer der Seelen ins Jenseits, verdeutlicht durch eine verhüllte Figur auf seinem Rücken. Der Greif bewahrt die Seele vor dem Zugriff von Dämonen bekommt hier eine Beschützerrolle. Die Lokalisierung der Greifen hing mit deren Funktionen im Kult zusammen, weshalb man sie einerseits im Norden situiert, aber auch im Osten in Indien ansiedelt, wo sie als Sonnentiere Verehrung finden. Auch dort bewachen sie Goldschätze, die sie mit ihren scharfen Schnäbeln aus der Erde holen. Es hieß, dass ihre Kräfte Elefanten und Drachen ebenbürtig, wenn nicht überlegen, wären. 200. n. Chr. erhalten wir von Aelian (170-225) eine Zusammenfassung über den indischen Greifen. Er beschreibt ihn als starkes vierfüßiges Tier wie ein Löwe, aber mit starken Vogelklauen, schwarzen Federn am Rücken und weißen Flügeln. Seinen Hals zieren blaue Federn. Er besäße einen Adlerkopf und feurige Augen, und niste auf einem Berggipfel. Erwachsene Tiere wären unmöglich zu fangen, aber mit jungen könne man es noch aufnehmen. Aelian merkt an, dass Greifen nicht mit Löwen oder Elefanten kämpfen. Sie grüben Gold aus und bauten ihre Nester damit, was dabei zu Boden fiele, nähmen die Inder. Die Greifen würden Menschen angreifen, nicht wegen des Goldes, sondern um ihre Brut zu schützen. Deshalb zögen auch Goldgräber zu ihren Nistplätzen, allerdings wäre es nur nachts einigermaßen gefahrlos. 41 Dem Mittelalter kam das Wissen über die Greifen hauptsächlich aus Berichten des Plinius, und Solinus zu. Plinius’ Naturgeschichte hielt sich eng an Herodot und verarbeitete das Zeugnis des Aristeas, weshalb er von den einäugigen Arimaspen, die nahe den Skythen leben und mit den Greifen um Gold kämpfen, berichtet. Aber Plinius übernimmt nicht einfach, sondern wertet auch und verwendet in diesem Zusammenhang das Attribut „goldgierig“. Der Geograph Pomponius Mela berichtet, dass es in einer zwar fruchtbaren aber unbewohnten Gegend Greifen gebe, die Gold ausgrüben und es eifersüchtig bewachen. Solinus fasste die vorhandenen Berichte zusammen und erzählt vom reichen Skythien, dessen Zugang überaus grausame Greifen bewachten, die eindringende Menschen sofort in Stücke rissen. Dieses wilde Wächterattribut hat offenbar die späteren Schriftsteller enorm beeindruckt, denn ab nun wird der Greif in den Bestiarien als unbesiegbarerer Hüter von Schätzen und als Warnung vor menschlicher Habgier wahrgenommen. Der ursprünglichere Traditionsstrang, der den Greifen mit der Sonne verbindet, erhielt sich nur in der slawischen Tradition. Die mittelalterlichen Schriftsteller übernahmen die Berichte von Plinius und damit den Greifen als Wächtersymbol für Schätze. Damit verband sich sowohl der mittelalterliche Drache als auch der Greif mit der Totenwache. Isidor von Sevilla enzyklopädisches Werk die Etymologie berichtet: Der Greif ist ein geflügeltes Tier mit vier Beinen. Diese wilde Tierart stammt aus dem hyperboreischen Gebirge. In allen Teilen seines Körpers gleicht er dem Löwen, nur sein Kopf und seine Schwingen gleichen dem Adler. Besonders feindlich ist er den Pferden. Wenn er Menschen sieht, will er sie in Stücke reißen. Letztere Bemerkung inspirierte die nachfolgenden Autoren zu immer größeren Übertreibungen. Eine raffinierte Methode um der gefährlichen Greifen habhaft zu werden schildert Aethicus, wobei zwei dreispitzige Lanzen in den Boden gerammt werden. Darüber legt man eine Flechtmatte, unter den Fackeln verborgen sind. Als Köder legen die Jäger frische Fleischstücke. Die heimkehrenden Greifen wollen die Fleischstücke für ihre Jungen mitnehmen und lassen sich auf die matte nieder, die Jäger entzünden die Fackeln und die Greifen sterben auf die Lanzen gespießt. Dieser singuläre Bericht hatte wenig Rezeptionswirkung, da mit den Seefahrergeschichten und der Reiseliteratur orientalisch-arabische Greifenerzählungen hinzukamen, die die Motivik bestimmten. In den Erzählungen um die Reisen des Hl. Brandan greift der Vogel Griffa den Heiligen und seine Gefährten bei einer Reise an. Benjamin von Tudela berichtet von der Geschichte, dass sich Seeleute bei Schiffbruch in Ochsenhäute einnähen und dann über Bord springen. Greifen würden sie im Flug davontragen, um sie zu fressen. Die Erzählungen um den Bayernherzog Ernst und seinen Freund Wetzel verbindet den Greifenflug mit dem Stranden des Schiffes am Magnetberg. Später gelangen die Männer dann ins Land der Arimaspen. Die von den antiken Schriftstellern kolportierten Wundervölker finden sich in der mittelalterlichen Orientliteratur wieder: Der exilierte Herzog Ernst unterstützt das Volk in seinen Verteidigungszügen gegen räuberische Nachbarvölker. 42 Der fiktive Brief des Priesters Johannes aus Indien, erzählt von einem unzugänglichen Tal, in dem Juwelen lägen. Die Menschen werfen Schafskadaver von oben unter die Edelsteine. Die Greifen stürzten sich auf die Beute und trügen sie davon. Die von den Kadavern hängen gebliebenen Juwelen fielen herab. Ein Detail, das den Greif mit dem Vogel Rockh der Sindbaderzählungen verbindet. Die antike Variante des Greifen als Transporttier wurde im Mittelalter von dem Sagenkreis um den großen König Alexander aufgenommen. Alexander wurde bei seinem Zug nach Indien von wilden Greifen angegriffen. Alexander war aber nicht nur Krieger, sondern auch Abenteurer und Endecker, weshalb er die Gelegenheit ergriff, die Kraft der Greifen für eine Himmelserkundung zu benützen. Er ließ einen mit Eisengittern eingefassten Wagen mit einem Sitz bauen, die Greifen an den Wagen ketten und an dessen Spitze Fleisch legen. So hoben ihn die Greife zum Himmel. Hier kann man zu Recht eine Übertragung vom antiken appollinischen Sonnenwagen auf Alexander vermuten. Einzigartig die anschauliche Erzählung in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich, wo die Zauberin Parklise einen jungen Greifen als ihr Flugtier trainiert. Hier sind Greif und Teufel bzw. Teufelspakt verschränkt. Man kann davon ausgehen, dass mittelalterlichen Menschen Greifen Realität zusprachen und wie jedem Tier einen Symbolwert zumaßen. Johannes Scotus Eriugena betrachtet den Greifen als Symbol der Keuschheit, denn nach dem Tod seines Weibchens lebe der Greif zölibatär. Das Gros der Meinungen schwenkt allerdings eher in die negative Richtung. Meist steht seine Grausamkeit und Gier im Vordergrund, was sicherlich auf Plinius Beschreibung zurückgeht. Ab 1200 wurde der Greif z.B. in England mit dem habgierigen Adel verglichen. Alexander Neckham erklärte die Analogie als unzulässig, denn in Wirklichkeit wären Greifen bloß Tiere: Greifen graben nach Gold und weiden sich an seinem hellen Glanz: ihre Augen erfreuen sich am gelben Metall. Wer da glaubt, sie seien wie Edelleute, irrt sich: Die Adeligen werden vom gierigen Hunger nach Gold getrieben; die Greifen aber brennen nicht darauf, sich zu bereichern, sondern geben sich ihrer Natur nach der ruhigen Betrachtung hin. Als unbezwingliche Wächter des Goldes wurden sie in didaktisch-religiösen Schriften herangezogen, um unfromme menschliche Verirrungen zu illustrieren. Es wäre sinnlos das Greifengold entwenden zu wollen, der Mensch solle eher nach dem ewigen Leben streben als nach weltlichem Gold, das noch dazu so gut bewacht wäre. 43 Satyr, Greif und Arimaspen auf einer Vasendarstellung um 375-350 v. Chr. In den Lapidarien, die vom Edelsteintal berichteten, werden die Arimaspen als vorbildliche Christen, die die Steine des Glaubens den Smaragd besäßen, während die Greifen als Teufel verstanden wurden, die versuchen ihnen diesen Stein abspenstig zu machen. Hugo von St. Viktor zugeschriebenes Buch interpretiert die Greifen als lieblose und glaubenslose Wesen, die die Menschen um ihren Glauben beneiden, weshalb sie ihnen den Stein den Smaragd stehlen wollen. Deshalb auch die Etymologie Arimaspen in einem Glossar von 1280 Tugend und sehen. Der Smaragd in der Wüste ist als Symbol für Christus zu lesen, die Greifen sind böse Geister. Greif also Symbol für Habgier Grausamkeit Tyrannei und den Teufel. Dante wartet nicht nur mit einem positiv konnotierten Beispiel auf, sondern schließt an die antike Sonnenwagentradition an. In der Renaissance begann eine Debatte um die Realität der Fabeltiere. 1551 meldet Konrad Gesners in seiner vierbändigen Historia animalium bereits Zweifel an der Realexistenz der Greifen an. Während Ariost in seinem Epos um Roland noch der älteren Tradition folgt, verweist Shakespeare in Heinrich IV. Drachen und Greifen ins Reich der Märchen. In seinem Pseudodoxia Epidemica von 1646 kommt der englische Mediziner Thomas Browne nach einem weitläufigen Vergleich der antiken Quellen zum Schluss, dass es sich beim Greif um ein Symbol, nicht um ein reales Tier handle. 6 Jahre später stellt sich Andrew Ross Brownes Ansicht mit seiner Schrift Dr Brown’s 44 Vulgar Error refuted and Answered entgegen. Er verteidigt nicht nur die antiken Belege, sondern bezieht neueste Nachrichten von zusammengesetzten Tieren ein. Wenn es diese gibt, warum nicht den Greifen? Das sollte allerdings wahrscheinlich die letzte Apologie sein, ab dieser Zeit galt es als anachronistisch an Fabeltiere zu „glauben“. Ähnlich wie beim Drachen entdeckte die Fantasy und die phantastische (Kinder)Literatur den Greifen für sich und bezog zwar seine ursprüngliche Wildheit als Charakterzug ein, besetzte ihn aber durchaus positiv. C. Die Manticora Die Manticora ist etwa so groß wie ein Löwe und hat zinnoberfarbenes Fell. Gesicht und Ohren sind menschenähnlich, doch wird das Antlitz durch das Maul mit seinen drei hintereinander gelegenen Zahnreihen entstellt. Der Schwanz ist mit einem giftigen Skorpionstachel versehen, der auf die Beute abgeschossen wird und sich dann wieder erneuert. Die manticora tötet aber auch mit ihren Krallen. Das Wort stammt offensichtlich aus dem Persischen und hat - wie schon Photios feststellt – die Bedeutung des griechischen antropofago, denn die manticora verzehrt die Menschen, die sie getötet hat; allerdings nimmt sie auch mit kleineren Lebewesen vorlieb. 45 Die ältesten Berichte über die Manticora stammen von Ktesias von Knidos, der im 4. Jahrhundert vor Chr. Leibarzt der des Perserkönigs Artaxerxes II. Nach seiner Rückkehr nach Knidos verfasste Ktesias seine Indika; ein Werk; in dem er Land und Leute Persiens beschrieb. Die Indika sind nur noch in Form von Zitaten bei andrer Autoren greifbar, Aristoteles berichtet in seiner Naturgeschichte der Tiere über die Manticora: Es gibt aber doch eins, dem, die Zähne in drei Reihen wachsen, wenn man dem Ktesias glauben darf; dieser erzählt nämlich, dass ein Tier in Indien, das den Namen Martichoras führe, in jedem Kiefer drei Reihe Zähne habe, an Größe gleicht es dem Löwen, sei ebenso rauhaarig und habe ähnliche Beine, Gesicht und Ohren seien denen des Menschen ähnlich, die Augen blau die Farbe zinnoberrot sein Schwanz dem des Landskorpions ähnlich, an diesem habe es eine Stachel dessen Spitzen es wegschleudere, mit der Stimme schnarre es zugleich wie eine Rohrpfeife und Trompete; es laufe nicht minder schnell als der Hirsch, es sei wild wie ein Menschenfresser. Dies sind im Wesentlichen an die Angaben, welche seit der Antike bis in die Neuzeit mit einigen Abweichungen und Varianten über die Manticora tradiert wurden. Neben Aristoteles verwendeten auch Pausanias, Plinius und Solinus später Photius die Texte des Ktesias. Die Manticora ist also ein Kompositwesen, bestehend aus einem Löwenkörper, Menschenkopf, Skorpionsschwanz und weitern typischen Körpermerkmalen. Trotz des femininen Genus hat das Wesen fast immer ein männliches Gesicht. Für die das Mittelalter waren vor allem Plinius und Solinus von Bedeutung. Photius von Konstantinopel die wichtige Quelle aus dem christlichen Umfeld. Im Unterschied zu den anderen Autoren bemerkte er, dass die Manticora auch auf dem Kopf einen Stachel trüge. Die Enzyklopädien wie die des Vinzenz von Beauvais bzw. Thomas von Cantimpré zitieren Plinius und Solinus. Als einziger mittelalterlicher Autor beschrieb Albertus Magnus die Manticora explizit als Kompositwesen.: Die Manitcora ist ein aus vielen zusammengesetztes Tier: Sie hat nämlich ein Gesicht wie ein Mensch, funkelnde Augen von blutroter Farbe, einen Löwenkörper den Schwanz eines Skorpions, den ein Stachel spitz macht. Ihre Stimme hat einen zischenden Klang, als ob sie den Ton der Rohrpfeife imitiere oder denjenigen von gemeinsamen erschallenden Trompeten. Sie frisst mit äußerster Begierde Menschenfleisch und hat drei Zahnreihen im Maul. Einer der frühen mhd. Naturkundlichen Texte zur Manticora findet sich im Lucidarius, einem Lehrgespräch, das zwischen 1190 und 1195 entstanden ist, ebenso in der Weltchronik des Rudolf von Ems aus dem 13. Jahrhundert. 46 D. Das Einhorn in christlichen und mittelalterlichen Quellen In der Bibel und in den Schriften nach Beginn der Jahreszählung wird das sagenumwobene Einhorn zwar erwähnt, gewinnt aber erst im Mittelalter mehr an Bedeutung, sowohl im Bereich der Mystik, als auch in der damaligen Wissenschaft und Medizin Der ägyptische König Ptolemäus II. ließ im 3. Jahrhundert v. Chr. angeblich 72 jüdische Gelehrte das Alte Testament übersetzen. Jenen Gelehrten war es also zu verdanken, dass das wundersame Tier seinen Weg in die Bibel schaffte. Sie übersetzten das hebräische Wort für „re’em“ mit dem Wort monokeros. Eigentlich bedeutet dies so viel wie Wildstier oder Auerochse. Anscheinend war den Gelehrten dieses Tier nicht näher bekannt. In einer Bibelstelle (Job 39,9) wird von der unglaublichen Kraft des Tieres berichtet. In der hebräischen Fassung der Bibel wird aber nur einmal vom Horn im Singular gesprochen, sonst immer im Plural „re’emim“. Durch die Berichte und Aufzeichnungen der Kirchenväter, die sich an Aelian und Plinius orientierten, schaffte das Einhorn „den Sprung“ ins Mittelalter. Vor allem der mystische Charakter des Wesens wurde hier mitübernommen. Aus der Zeit der Kirchenväter gab es kaum bildliche Darstellungen des Einhorns. Der heilige Hieronymus, der für die Bibelübersetzung verantwortlich war, setzte „rhinokeros“ und „monoceros“, mit „unicornis“ gleich. Somit kam das Tier nun auch in die lateinische Bibelversion, in die Vulgata. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Einhorn durch einen Übersetzungsfehler in die Bibel gelangte. Dank der Kirchenväter trat das Einhorn als Symboltier der Kirche, sowie auch Löwe, Stier, Adler und Taube, als Sinnbild des göttlichen Opfers wieder in Erscheinung. In Martin Luthers Bibelübersetzung wurden dann die Worte „monoceros“ beziehungsweise „unicornum“ mit Einhorn übersetzt. Womit das Einhorn auch in der deutschsprachigen Bibel bestehen blieb Der öfter erwähnte Physiologus (um 200 n. Chr.) beschreibt das Einhorn wie folgt: „Es ist ein kleines Tier, ähnlich einem Böckchen, und überaus mutig. Nicht vermag der Jäger ihm nahezukommen, weil es so stark ist. Ein Horn hat es mitten auf dem Kopfe. Wie wird es nun gefangen? Eine reine Jungfrau bring man in seine Nähe, und da springt es in ihren Schoß, und die Jungfrau zähmt das Tier und bringt es in den Palast zum König. Aus einem Physiologusmanuskript, 12. Jahrhundert Die Theologie nutzte die Geschichten des Physiologus und übernimmt vielerlei Symbole und Inhalte, um den Menschen das Christentum und die Bibel plausibel zu machen und auch näher zu bringen Die Legende der Zähmung durch die Jungfrau ist ein wichtiger Punkt, der den Mythos bis in die Jetztzeit bestehen ließ. Alexandrien gilt als Ursprungsort. Er wäre auch naheliegend, sind doch die regen Handelsbeziehungen zwischen Alexandrien und Fernost beziehungsweise Indien nachgewiesen. Damit wäre auch der indische Einfluss auf die Geschichte rund um das Einhorn geklärt. 47 Der Fang des Tieres durch die Jungfrau wird als Menschwerdung Christi gedeutet. Das Einhorn nimmt im Schoß der Jungfrau die Stellung des Kindes ein. In anderen Versionen wird das Tier auch von brutalen Jägern niedergestoßen und zeigt somit den Leidensweg Jesu. Religiöse und irdische Motive liegen nahe beieinander. Eine Weiterentwicklung des Physiologus erkennt man in den Bestiarien, die reine Tiergeschichten waren. Hier kommt vor allem der erotische Charakter der Einhörner, wie wir sie in der indischen Version kennen, zum Tragen. Hier nimmt es nicht die Stellung des Kindes ein, sondern die der Manneskraft. Marco Polo (1254 – 1324) behauptet, wie auch anderer Reisende, ein Einhorn mit eigenen Augen gesehen zu haben. In seinen Reiseberichten erwähnt er ein Tier mit ziemlich plumpem Körper mit einem schwarzen Horn auf der Stirn, das ein eigentümliches Verhalten zeigte. Es habe den Kopf immer zur Erde gewandt hat und wälze sich oft im Schlamm. Er fragte sich, wie sich ein so großes Wesen im Schoß einer Jungfrau wohl fühlen könne. Vermutlich sah auch Marco Polo nur ein Nashorn. Das Einhorn findet man, auch heute noch, zahlreich in Wappen von Herrscherhäusern oder Familien. Warum gerade dieses Tier dafür verwendet wurde, klingt plausibel, wenn man bedenkt, dass das Einhorn als Sinnbild für Tapferkeit, Frömmigkeit, Keuschheit und vor allem Mut und Stärke, genau die Werte, die für das ideale Rittertum von Bedeutung waren. In nahezu allen europäischen Ländern war es auf Wappen, Grabsteinen oder auch in Liedern und Gedichten zu finden. Das bekannteste Wappen mit dem sagenumwobenen Einhorn darauf, ist vermutlich das englische Wappen, welches bei der Vereinigung England und Schottland im 17. Jahrhundert entstand. Das Tier wurde gemeinsam mit einem Löwen abgebildet, wie es in der Heraldik oft üblich ist Starke, repräsentative Tiere wurden nicht nur als Wappentiere verwendet. Nachdem im 13. Jahrhundert die ersten Apotheken gegründet wurden, bekamen sie Namen von starken Tieren, wie Bären, Adler, Löwe und eben auch Einhorn. Außerdem war es auf Grund der medizinischen Wirkung des Horns naheliegend 48 Das Einhorn wurde auch in der Schöpfungsgeschichte erwähnt. Es war Bestandteil des Paradieses und laut Bibel war es Adam, der dem Tier einen Namen gab, weshalb es Gott über alle anderen Tiere stellte. Erkennbar ist dies beispielsweise an einem Schöpfungsteppich aus dem 11. Jahrhundert, welchen man in der Schatzkammer von Gerona findet. Schöpfungsteppich aus Gerona „Die Dame mit dem Einhorn“, Wandteppich aus der Gobelin Serie, um 1512 Eine der wichtigsten Quellen rund um die Jungfrau und das Einhorn im Mittelalter ist der Wandteppich von Cluny aus dem Jahre 1512 mit dem Namen „Dame mit dem Einhorn“ Es handelt sich um sechs, einige Meter große Teppiche mit rotem floralem Hintergrund. Auf jedem der Teppiche befindet sich eine Dame in wechselnden Kleidern, zahlreiche Tiere und eben auch Löwe und Einhorn, zwei Gegnerspieler der Heraldik. Während auf einem der Abbildungen das Einhorn im Schoß der Dame liegt, fasst auf einer anderen die Frau das Horn an, womit die Zähmung angedeutet werden soll. Lange Zeit galt das Horn des Einhorns als Universalheilmittel. Auch heute noch werden in vielen Kulturen horntragende Tiere wegen der angeblichen Wirkung gejagt. Das Horn des Einhorns hatte, laut unterschiedlicher Berichte zu Folge, medizinische Wirkung. Ktesias und Megasthenes schrieben schon von dem antitoxischen Effekt und viele spätere Autoren hatten dies kopiert. Der Physiologus betonte nicht nur letztere Wirkung, sondern gab dem Ganzen noch eine christliche Konnotation, indem er erwähnte, dass das Einhorn ein Kreuzzeichen ins Wasser schlug. In Indien galt es seit jeher als Antitoxin. Ist eine Flüssigkeit vergiftet und gießt man diese in einen Hornbecher, sollte diese sofort zu schäumen beginnen. Das Horn galt aber nicht nur als Heilmittel, sondern in Fernost auch als Aphrodisiakum. Über die Jahrhunderte weg wurde es als solches immer beliebter, weshalb es in der Renaissance und im Spätmittelalter nahezu unerschwinglich wurde. Es galt als so 49 kostbar, dass es als Gabe von Königshaus zu Könighaus oder innerhalb des Klerus, verschenkt wurde. Meist blieb es auch in dessen Besitz. In den Quellen vor der ersten Jahrtausendwende wird noch in keiner Weise die Heilwirkung des Horns selbst genannt. Im Physiologus wird lediglich die antitoxische Wirkung erwähnt. Die römischen und griechischen Gelehrten wie Plinius, Aristoteles schenkten dieser Legende allerdings keine Beachtung, ebenso die großen Mediziner Hippokrates oder Galenos. Erst in der Renaissance wurde wieder auf die antitoxische Wirkung eingegangen. Beginnend von der Pest, sollte es fast jede damals bekannte Krankheit heilen. Conrad Geßner vermutete, dass es auch gegen Tollwut oder Würmer helfen würde. Die Herstellung des Wundermittels war nicht aufwendig. Meist wurde Material vom Horn abgeschabt und mit Flüssigkeit oder Salben vermischt. Es sollte nicht nur vor Vergiftungen schützen und Krankheiten jeglicher Art heilen, sondern auch Gifte anzeigen. Angeblich geriet die Flüssigkeit dann in Wallung. Hatte man Besteck aus Einhorn begann es beispielsweise zu schwitzen bevor es mit dem vergifteten Mahl in Berührung kam. Becher oder auch schon Tischschmuck aus diesem wertvollen Material sollten vor den Vergiftungen schützen. Hildegard von Bingen war eine der Ersten, die sich mit der Heilwirkung des Einhorns beschäftigte. Sie hatte als Vorstand des Klosters Zugang zu zahlreicher, antiker Literatur. Sie beschrieb das Horn nicht als Art steinernen, sondern als „glasklaren Knochen“. Für Hildegard von Bingen sollten vor allem Leber und Fell als Medizin verwendet werden. 50 E. Der Phönix Aus dem Aberdeen Bestiarium Mit dem Phönix verbinden wir seine Eigenart, sich dann, wenn in die Jahre gekommen, ein Nest aus duftenden Kräutern und Hölzern zu bauen, vorzugsweise auf einer Palme (deren griechische Bezeichnung phoinix gleichlautend mit der des Vogels selbst ist) und sich dort flügelschlagend mit den Strahlen der aufgehenden Sonne selbst in Brand zu setzen, um anschließend aus der Asche erneuert in aller Jugendfrische wiederzuerstehen. Alle fünfhundert Jahre soll das geschehen, nach manchen Quellen auch nur einmal im Millennium, oder, wie Tacitus erwähnt, gar nur alle 1461 Jahre. Isidor von Sevilla bemerkt in seiner Etymologie, über den Phönix: Phoenix ist ein Vogel Arabiens, so benannt, weil er von phönizische Farbe ist oder aber weil er der ganzen Welt einzig und einmalig ist. Denn die Araber meinen mit phoenix einzigartig. Diese leben länger als 500 Jahre, und wenn er alt zu werden scheint, stürzt er sich, nachdem er Gewürzzweige gesammelt hat, auf den Scheiterhaufen, und nährt, flügelschlagend zu den Strahlen der Sonne gewandt, freiwillig sein Feuer und erhebt sich wiederum aus der Asche. Das ist auch der Grund, weshalb der Phönix dem christlichen Mittelalter zum Symbol für den freiwilligen Tod Christi, als dessen Bild er auch im für das Mittelalter so bedeutsam werdenden Physiologus (dessen Entstehung zwischen ca. 200 - 400 n.Chr fällt) erscheint, für Wiederauferstehung und Unsterblichkeit wurde. Sein Aufenthaltsort ist nach dem frühchristlichen Autor Lactantius, der ihm ein Gedicht widmet, ein fernes, hochgelegenes Paradies im Osten, dem 51 Himmelstor nahegelegen, dessen Zentrum der Brunnen mit dem Wasser des Lebens bildet, der zwölfmal im Jahr ausbricht. Der Phönix dient dort dem Phoebus durch seinen Gesang. Alle 1000 Jahre muss sein Paradies verlassen, um sich zu erneuern; zu diesem Zwecke fliegt er nach Phönizien, wo er dann die Vorbereitungen für seine Verjüngung trifft, indem er auf der bereits erwähnten Palme sein Nest aus aromatischen Kräutern baut. Nach getaner Metamorphose setzt er seinen Flug mitsamt den Überresten seines alten Körpers nach Heliopolis in Ägypten fort. Dort zeigt er sich einmalig den Menschen, ehe er wieder für das nächste Jahrtausend in die Heimat zurückkehrt. Isidors Etymologien waren wie der Physiologus im folgenden Jahrtausend außerordentlich erfolgreich. Beide wurden zu wichtigen Quellen für die patristischen Werke geistlicher Tierauslegung, die mittelalterlichen Naturenzyklopädien, Bestiarien und literarischen Werke. Wichtig für die Konstituierung des Phönix als christliches Symbol in der Kunst und Literatur des Mittelalters wurden neben dem Physiologus vor allem die Schriften der Kirchenväter, in denen der Folge des Öfteren erwähnt wird. Zusammenfassend lassen sich aufgrund der frühchristlichen Schriften und den Versionen des Physiologus folgende wesentliche Elemente bei der Beschreibung des Vogels festhalten: Der Phönix heißt so wegen seiner purpurnen Farbe(=lat. Phoeniceus) Es gibt nur einen auf der ganzen Welt Der Vogel ist bisexuell bzw. asexuell Seine äußere Erscheinung wird meistens vage beschrieben. Er wird gelegentlich mit einem Pfau oder Adler verglichen ist außerordentlich schon, sein Gefieder einfarbig verschiedenfarbig oder mit Edelsteinen durchsetzt, sein Kopf mit einem Krönlein geschmückt. Eine Kugel befindet sich zu seinen Füssen. Gewöhnlich erscheint er im Blickfeld des Menschen um zu sterben und wieder geboren zu werden. Am häufigsten ist von einer zyklischen Lebensspanne von 500 Jahren die Rede. Die Periode kann aber auch mehr als 500. 540 1000 Jahre oder eine sonstige Zeitspanne betragen Als Aufenthaltsorte de Vogels werden genannt, Arabien, Indien Ägypten insbesondere Heliopolis, der Libanon und das himmlische Paradies. Um zu sterben bereitet der Vogel oder ein Priester ein Nest aus Zweigen eines Weinstocks oder aromatischen Hölzern. Die Sonnenstrahlen entzünden den Scheiterhaufen und der Phönix wird von den Flammen verzehrt. Aus der Asche entsteht ein Wurm, der zu einem jungen Vogel wird und dann die Gestalt seines Vorgängers erreicht. Die Zeitspanne, welche die Metamorphose braucht, wird entweder mit drei Tagen angeben oder bleibt unerwähnt. Mittelalterliche Schriften, wie das Aberdeen Bestarium, aus dem obige Abbildung stammt, stellen in wiederum gerne raubvogelhaft, in Form des Falken oder des Adlers dar 52 Die natürlichen Eigenschaften des Phönix werden am ausführlichsten in den großen Enzyklopädien des 13. Jahrhundert beschrieben, und zwar bei Thomas von Cantimpré (Liber de natura rerum) Bartholomäus Anglicus (De proprietatibus rerum) und Vinzenz von Beauvais (Speculum naturale). Die Autoren berufen sich auf Plinius und Solinus, den Physiologus, und Isidor. Neben den naturgeschichtlichen Beschreibungen finden sich in der volkssprachlichen Dichtung des Mittelalters zahlreiche Belegstellen für die Verbreitung des Mythos in der Lyrik der gelehrten Spruchdichte wie beispielsweise bei Heinrich von Mügeln. 53 IV. DÄMONEN - Zwischen Göttern und Menschen A. Begriffsklärungen Ab dem Mittelalter ist der Begriff Dämon ausschließlich negativ konnotiert. Das ist sicherlich als Ergebnis der christlichen Auseinandersetzung mit dem antiken Dämonenglauben und dem neutestamentlichen Dämonenbild zu werten. Die Vieldeutigkeit der Etymologie des Begriffes stellt die moderne Interpretation dieses archaischen Begriffes vor enorme Schwierigkeiten. Etymologisch wird das griechische Wort daímōn mit dem Verbum daíomai = „teilen“ bzw. „zuteilen“ verbunden. Ein Daimon ist also eine Entität, die etwas teilt oder auch zuteilt. Da die Etymologie nicht sicher ist, lassen sich daraus für die antike Charakteristik des Daimon keine sicheren Schlüsse ziehen. Der Sinn muss also dem jeweiligen Kontext entnommen werden. Auf den ersten Blick eröffnet sich eine Fülle von unterschiedlichen Bedeutungen und auch Varianten zu häufigen Konnotationen. Dennoch gibt die Etymologie einen ersten Hinweis, nämlich dass Daimon eine unverständliche Macht bezeichnet, die ins menschliche Leben eindringt, ohne dass ihre Herkunft feststeht. Der griechische Begriff Gott, theós, ist eindeutig bestimmbar als Bezeichnung für eine individuell mit Namen benennbare Gottheit, so kann diese Definition für Daimon nicht in Anspruch genommen werden. Theos und Daimon waren zu keiner Zeit deckungsgleich, jedoch gab es durchaus Überschneidungen. Erschwerend zur Darstellung hinzu kommt die forschungsgeschichtliche Einordnung. Die ältere Forschung und ihre bedeutendsten Vertreter Tylor, Wundt und Frazer, haben versucht, Ursprung und Entwicklung der Dämonen nachzuzeichnen, indem sie die Geister und Dämonen als Vorstufen der Götter interpretieren. Damit stufen sie die Geister als historisch älter als die Götter ein. Diese These lässt sich in der heutigen religionswissenschaftlichen Forschung nicht aufrechterhalten. Da die Zwischenwesen mit einem evolutionistischen Ansatz nicht zu erklären sind, muss man eine Klassifizierung ins Auge fassen, die zwischen positiven, negativen und neutralen bzw. ambivalenten Zwischenwesen unterscheidet. 54 Das ägyptische Pantheon verfügte über eine große Anzahl von Dämonen, das diese in Erde, Luft und Wasser lokalisierte. Ebenso gab es die sumerische und babylonische Götter- und Geistervorstellung, die neben himmlischen Geistern auch ortsgebundene verehrte, die sich auf und in der Erde aufhalten. Im indischen Pantheon sind die Dämonen Gegenspieler der Götter und depotenzierte Götter. Es existieren verschiedene Dämonenstämme, die Daityas, Danavas und die Rakshasas, die in tierischer Gestalt, aber auch als hässliche menschenähnliche Riesen dargestellt werden, die auf Begräbnisplätzen hausen und Menschen aufhocken, also den Vampiren ähneln. Eine Systematik der Dämonenlehre ist von den Persern bekannt, die dem Schöpfergott Ahura Mazda sieben Amschaspands und Ahriman, dem obersten Zerstörer, neben den sieben Daevas noch zahlreiche Dämonen unterordnete. Die altiranische Dämonologie sah vor allem in Krankheit, Unglück und jeglicher Unbill das Wirken von Dämonen. Die Daevas oder auch Druj – aus dem altavestischen druj bzw. drug – von Lüge, Trug abgeleitet – kennzeichnet ihr Wirkungsfeld in Bezug auf die Menschen. Sie betrügen diese und verblenden sie. Der oberste Herr ist Ahriman, der Volksglaube kennt die bösen Paris und Yatus, die die Menschen täuschen. Im Zoroastrismus ist die Dämonin Drug die Personifikation der Lüge und des Betruges. Das Laster des Zornes vertritt der später unter dem Namen Asmodeus bekannte Dämon Aesma Deava. Die zoroastrische Dämonologie beeinflusste die jüdische und indirekt die christliche in ihren dualistischen Vorstellungen von bösen Dämonen. Das Judentum kennt die Schedim, das sind Halbgötter oder Geister. Das Lehnwort aus dem Akkadischen bezeichnet eine gute, beschützende Macht. Psalm 106, 37 erwähnt, dass den Dämonen von heidnischen Völkern Opfer dargebracht wurden, aber auch das Volk Israel betete immer wieder zu Götzen. 55 B. Dämonen bei Griechen und Römern Die homerische Zeit bezeichnet mit Daimon das Wirken eines Gottes, der konkret nicht immer genannt wird bzw. nicht genannt werden kann. Die negative Bedeutung, die dem Begriff eignet, ist auch in der Doppelmacht der olympischen Götter zugrunde gelegt. Diese behandeln die Menschen teils wohlwollend, teils grausam. Es zeigt sich, dass sowohl den Göttern als auch den Daimones jeweils beide — maligne als auch benigne — Eigenschaften in Bezug auf die Menschen zugeschrieben werden. In nachhomerischer Zeit wird der Glaube an besondere Heils- und Segensgötter entwickelt, auch Kulte aus anderen Kulturkreisen finden Eingang ins griechische Pantheon. So werden beispielsweise Pan, Serapis, Isis, Kybele, Dionysos, Eros, Leto, Apollo, Nemesis usw. Daimones genannt. Außerdem treten die chthonischen Gottheiten, also die Unterweltsgötter, in den Vordergrund. Hinzu kommt, dass alles Übel, besonders der Tod, nicht mehr dem Wirken eines bestimmten Gottes zugeschrieben, sondern als Eingriff einer göttlichen Macht, einer Schicksals- und Todesmacht umgedeutet wird. So schreiben die nachhomerischen Griechen den Tod entweder dem Daimon oder der Schicksalsgöttin Moira zu. Dass Daimones den Göttern wesensverwandt sind, darf angenommen werden, sie werden wie diese verehrt und erhalten Opfer. Ebenso wie die Heroen sind Daimones Mittler und Fürsprecher des göttlichen Willens, insbesondere an Orakelstätten, wie die dort gefundenen Anfragen bezeugen. Daimones und Heroen sind aber klar getrennt, denn Heroen unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt von den Daimones: sind Abkömmlinge von Göttern und Menschen. Schon Hesiod hat den Daimon-Begriff eingegrenzt, nur noch selten werden die olympischen Götter mit Daimones identifiziert, und der Begriff trägt im Singular immer mehr einen pejorativen Akzent. Abweichend von Homer (2. Hälfte des 8. Jahrhundert. v. Chr.) hat Hesiod (vor 700 v.Chr.) Daimones als Menschen des vergangenen Goldenen Zeitalters verstanden, die nach ihrem Tod zu Wächtern der Lebenden werden und ihnen Reichtum bringen. Die in Inschriften genannten Theioi Daimones sind Seelen der Verstorbenen, und zwar bei den Orphikern jene besonderen Seelen der Geweihten, die nach ihrem Tod zu Theoi erhoben werden. Davon ist die zur selben Zeit entstandene Konzeption der Begleit-Daimones der Verstorbenen zu unterscheiden. Als Schutzdaimon ist dieser dem Einzelnen beigegeben, kann ihn aber verlassen und ein anderer Daimon an seine Stelle treten. Dadurch kann aber auch ein übler Daimon vom Menschen Besitz ergreifen. Betrachtet man die Daimones als etwas, das positiv bzw. negativ auf den Einzelnen wirkt, so hat sich daraus das Konzept eines persönlichen Daimons entwickeln können. Die Vorstellung eines Begleitdämons der Lebenden existierte nur in Ansätzen, während die Vorstellung eines (Begleit-)Daimons Verstorbener einen wichtigen Stellenwert einnahm. So hat sich die Vorstellung eines persönlichen Schutzgeistes, der die Lebenden führt und bewacht, folglich erst aus dem Daimon der Verstorbenen entwickelt und seine Verehrung ähnelt dem Kult der chthonischen Götter. Die Bezeichnung Daimones ist folglich für die Seelen der Verstorbenen und für die Toten selbst in Gebrauch. Nach Unterscheidung der Götter und anderer Kräfte kann 56 erst die Aufteilung in gute und böse erfolgen. Das Unheil wird den Daimones zugeschrieben. Schon in der Frühzeit werden diese, worunter vor allem die chthonischen Götter zu verstehen sind, angerufen. Unter deren Schutz steht der Tote nach der Bestattung. Daneben gibt es die Daimones, die als Begleiter der Toten diese ebenso schützen. Darüber hinaus ruft man Daimones an, die als Totenseelen für die Bestrafung von Grabschändern auftreten, bzw. überhaupt Rachegeister, die Verbrechen sühnen. Aus den individuellen Mächten, die als Daimones angesehen werden, entsteht durch Vermischung unterschiedlicher Vorstellungen ein neuer Gattungsbegriff der Daimones. Ursprünglich umfasst der Begriff also gottähnliche Wesen, unabhängig ob wohlwollend oder Schaden bringend. Im Christentum ist ein Dämon hauptsächlich ein böser Geist und gehört zu den Heerscharen Satans. Die Etymologie der griechischen Daimones wird von manchen Forschern auf „ich lerne“, „ich werde belehrt“ zurückgeführt; das Wort Daimon bezeichnet demnach ein issendes Wesen. Bei den Griechen ist ein Gott der größte und mächtigste Daimon, als zweites Bedeutungsfeld beinhaltet der Begriff die vom Körper getrennte menschliche Seele. Am häufigsten wird Daimon als Mittler zwischen Gott und den Menschen aufgefasst. Antike und frühchristliche Meinungen zur Beschaffenheit und Funktion der Dämonen sind keineswegs homogen. Die nachplatonische Dämonologie sieht sie als Mittler zwischen Göttern und Menschen, die mächtiger als die Menschen, aber nicht so rein wie die Götter sind. Xenokrates (395-313 v. Chr.) unterscheidet zwischen guten und bösen Dämonen. Einen Teil betrachtet er als Menschenseelen vor oder nach der Wiedergeburt. Die Dämonenlehre der Stoa denkt sich die Dämonen als sterbliche Wesen mit menschlichen Empfindungen, während sie für den Geschichtsschreiber Poseidonios (135-51 v. Chr.) unsterblich sind, er setzt sie mit den Seelen gleich, die den Körper verlassen haben. Die Platoniker ordnen alle Entitäten mit Vernunftbegabung und Seele drei Gruppen zu: den Göttern, Dämonen und Menschen. Zwischen Göttern, die an oberster Stelle sind, und den Menschen stehen die Dämonen. Diese sind wie die Götter unsterblich, besitzen aber wie die Menschen Affekte. Der Neuplatoniker Apuleius (125-180) nennt die Dämonen beseelte Wesen, sie sind affektiv und vernunftbegabt, sie haben einen luftigen Körper und sind unsterblich. Die Dämonenlehren der Platoniker Plutarch (45125), Maximos (ca. 310-372), Apuleius und Kelsos (2. Hälfte 2. Jahrhundert.) sind synkretistisch und lassen außerdem Volksvorstellungen mit einfließen. Plutarch behauptet, wie auch Xenokrates, ihre Zwischenstellung. Er hält die Dämonen für langlebig, aber nicht unsterblich. Dieser Punkt ist von den jeweiligen Platonikern unterschiedlich beurteilt worden. Porphyrios (233–305) begründet die Lehre von den guten und bösen Dämonen neu und verknüpft sie mit der Pneumalehre. Die Dämonen binden sich an das Pneuma, worunter ein feiner, luftähnlicher Stoff verstanden wird, den die Seele beim Abstieg durch Sphären aufnimmt und den sie beim Aufstieg wieder verliert. Mit dem Pneuma umgeben sich die Dämonen, es kann Materie resorbieren und ihre Träger sichtbar werden lassen. Die Einteilung der Dämonen in gute und böse ergibt sich aus deren 57 Verhältnis zum Pneuma. Die Bösen werden durch das Pneuma beherrscht und sind mit der Materie verhaftet, sodass sie erscheinen. Obwohl sie keine festen Körper besitzen, können sie je nach Dichte des Pneumas dennoch eine wahrnehmbare Form annehmen. Der von der iranischen, jüdischen und frühchristlichen Dämonenvorstellung beeinflusste Porphyrios führt als erster Philosoph der Spätantike den Teufel als Herrscher der Dämonen in die spätgriechische Philosophie ein. Die Lehre des mystischen Philosophen Iamblichos (4. Jahrhundert n.Chr.) stellt die verschiedenen göttlichen Wesen in unterschiedlichen Entwicklungsstufen dar, ihre Funktion besteht darin, die äußersten Pole Götter und Menschen durch eine große Zahl von Zwischenstufen miteinander zu verbinden. Ein Charakteristikum der höheren Wesen ist, dass sie nicht über einen Körper verfügen, aber an der körperlichen Welt teilhaben können. So gibt es keine höheren Dämonen, denn Äther, Luft und Wasser sind die Elemente, in denen sich die höheren Wesen offenbaren. Das Geschlecht der Dämonen grenzt an die Götter an, ist aber weniger vollkommen. Er kennt Elementar- und Stoffdämonen, die ohne Vernunft und deshalb böse sind. Die Stoffdämonen leben und wirken in Tieren, Pflanzen und Mineralien. Proklos (411– 485) übernimmt die traditionelle Ansicht von der Mittelstellung der Geister, Engel und Dämonen: Sie besitzen Seele und Intellekt, haben aber keine Körper. Neben den Dämonen nennt er auch noch die menschliche Seele, die zu den Dämonen aufgestiegen ist. Alle Dämonen stammen aus dem Göttlichen, sind aber in drei Klassen eingeteilt, weil sie nicht das gleiche psychische Wesen besitzen: Die höchste Gruppe ist vernunftbegabt, die zweite besitzt Verstand, zur dritten Gruppe gehören rein materielle Wesenheiten ohne Vernunft und Verstand. Sie sind das Bindeglied zwischen Göttern und der sichtbaren Natur. Proklos unterscheidet Feuer-, Wasser-, Luft- und Erddämonen sowie unterirdische Geister. 58 C. Engel und Dämonen in den abrahamitischen Religionen Die Religionswissenschaft geht davon aus, dass der Engelsglaube auf dem altorientalischen Götterpantheon bzw. Götterrat fußt. Ugaritische Texte unterscheiden zwischen Göttern und göttlichen Wesen, die den Göttern als Boten dienen. Welche Stellung der Engelsglaube in den unterschiedlichen Perioden der jüdischen Religionsgeschichte, also im biblischen (70 n. Chr. – 2. Jahrhundert.) und Talmudischen Epoche (6. Jahrhundert. – Gegenwart), eingenommen hat, wird kontrovers diskutiert. Einigkeit herrscht darüber, dass der Engelsglaube vorbiblischen Ursprungs ist. Da der kanaanitische Gott El oder der Meeresgott Jam feste Wohnsitze haben, benötigen sie Boten für ihre Mitteilungen und senden ml’km oder mal’akim, die von den Israeliten in ihr Gottkonzept eingegliedert werden. Die Babylonier bezeichnen die Götterboten oder Diener der Gottheit als angulu oder kar, sie glauben an wohl- und übelgesinnte Geistwesen. Im Judentum kann sich die Vorstellung von einem Engel Jahwes trotz des heidnischen Ursprungs durchsetzen. Dieser Engel hat in den religiösen Texten sogar fast göttliche Züge angenommen, ist aber nicht mit diesem identisch, sondern gewährleistet die Reinheit des Gottesbegriffes. Neben den Botenengeln spricht das Alte Testament noch von den Cherubim, den Seraphim u. a. Diese Geistwesen besitzen keine menschliche Gestalt, sondern sind geflügelte Mischwesen, wie die in Genesis 3, 24 erwähnten Paradieswächter. Die älteren Bücher des Alten Testaments lassen Gott noch sichtbar auf Erden erscheinen und mit den Menschen kommunizieren. Mit der Entwicklung der Gottesvorstellung als Himmelsherr schwindet der Gedanke an das persönliche Erscheinen Gottes, und Jahwe rückt in unzugängliche Distanz. Diese Stelle nehmen nun die Engel ein, die die Kommunikation zwischen Gott und den Menschen regeln, seinen Willen und sein Wort offenbaren. Der Engel Jahwes nimmt im Alten Testament eine Sonderposition ein und entwickelt sich zum Schutzwesen des Volkes Israel. Zahlreiche Texte handeln von seinem Wirken und Eingreifen in die Geschicke der Stämme Israels. Seine Gegenwart äußert sich in Visionen, Auditionen und Träumen. Der Gerichtsengel verteidigt die Menschen vor dem himmlischen Gerichtshof vor den Anschuldigungen Satans. Der Gerichtsgedanke ist in allen altorientalischen Religionen anzutreffen. Die Götter richten die menschlichen Taten und ordnen ihnen dementsprechende Schicksale im Jenseits zu. Das Alte Testament hat dieses Motiv übernommen, und Thomas von Aquin begründet im Mittelalter die Lehre vom Partikulargericht, das nach dem Tod die individuellen Taten der Menschen beurteilt. Die Engel nehmen in der Prophetie eine eigene Stellung als Sprecher und Gottesboten ein. In der nachexilischen Zeit kommen sie nicht mehr sichtbar zu den Menschen, sondern nur in deren Visionen. Der Engelglaube, d.i. die Angelologie, hängt also mit dem Ende der Prophetie in der persischen Zeit und der Wiederaufnahme der Engelwesen als Gottesboten zusammen. Vorher hat es keines Gottesboten als Mittler zwischen Jahwe und dem Volk bedurft. Das Aufkommen einer systematischen Engellehre geht mit einer Verschmelzung der Boten- mit der Thronratskonzeption einher, wie sie die Propheten geschildert haben. Die Mitglieder des himmlischen 59 Thronrats übernehmen die Funktionen und Charakteristik des Boten. Geister und Engel haben in der Theologie des nachexilischen Judentums besondere Wichtigkeit. Obwohl in den Schriften des Spätjudentums zahlreiche Engelsnamen in Vierer- oder Siebenergruppen gelistet werden, haben nur wenige eine eigene Charakteristik, wie z.B. die bedeutendsten Michael und Gabriel. Die Urengel besitzen eine höhere Qualität, was schon in ihren Namen kenntlich wird. Denn der Name ist nicht nur im Alten Testament, sondern auch im Alten Orient Aussage darüber, was den Engel oder eine Sache ausmacht. Die Endung el in ihren Namen bezieht sich auf ihre Verbindung mit dem sie hervorrufenden und sendenden Gott. So bedeutet Michael „wer ist wie Gott“, Gabriel „die Stärke oder Zeugungskraft Gottes“, Raphael „Gott heilt“ und Uriel „Gott ist Licht“ oder auch „Licht Gottes“. Die vier Erzengel bewachen die Tore des Lebens, Anfang und Ende des Menschen, halten Gericht über Satan und seine Scharen und stürzen Satan in den Abgrund. Michael sitzt über dem besten Teil der Menschen, also über dem heiligen Volk und dem Chaos. Obwohl er „der Barmherzige“ und „der Langmütige“ heißt, ist er der ranghöchste Engel und führt das Engelheer gegen die gefallenen Engel zum Sieg an, geleitet die Seele über die Grenze von Leben und Tod, steht ihnen bei Gericht bei und verteidigt sie gegen die Anklagen des Satans. Gabriel ist jene Macht, welche alles keimende Leben beschützt, da er mit dem Zeugungsprozess verbunden ist, Raphael ein Menschenfreund, Uriel der Führer der Sterngeister und ein Wächter der Opfergaben. Das Henochbuch nennt Gabriel, Michael, Uriel und Raphael als Fürsprecher der Menschen. Die Qumran-Schriften unterscheiden zwischen dem Engel des Lichts und der Finsternis, bzw. dem Engel der Wahrheit und des Irrtums. Das Neue Testament misst dem Engelsglauben keine selbständige Bedeutung bei, Engel treten in bestimmten Schlüsselszenen auf, interpretieren aber nur, da nun Christus in den Fokus rückt. Jeder Engel hat ursprünglich eine besondere Zuständigkeit, wie z.B. der Todesengel, der die Seele vom Leib löst. Letzterer hat sich zu einer selbständigen Größe entwickelt und trägt im Alten Testament noch Züge des kanaanitischen (aus Kanaan = Galiläa) Unterweltgottes. Die Rabbinische Literatur setzt den Todesengel mit den Dämonen Satan und Samuel gleich. Aufschlussreich ist die im Buch Tobit niedergelegte Geschichte des jungen Tobias, des Sohnes des Tobit, den der Engel Raphael als sein Schutzengel in magische Praktiken einweiht. So leitet er ihn an, einem Fisch Herz, Leber und Galle zu entnehmen und aufzubewahren. Der Engel klärt Tobias darüber auf, dass Fischherz, -leber und -galle gegen Besessenheit durch einen Dämon helfen. Mit diesem Ratschlag kann Tobias auch eine Braut für sich gewinnen, die von einem eifersüchtigen Dämon bewacht wird. Er verbrennt Fischherz und -leber und der Dämon flieht nach Ägypten, der Engel fesselt ihn dort und lässt ihn nicht mehr entkommen. Farben differenzieren nicht nur Gottheiten, sondern auch Engel. Aus den vielschichtigen Farbensymboliken der Antike hat sich die christliche sakrale Farbsymbolik entwickelt und damit auch die Zuordnung der Farben der Engel. Die Voraussetzung ist, dass alle Farben aus dem Weiß ihres Ursprungsortes kommen. Je mehr sie sich vom Weiß wegbewegen, desto dunkler werden sie. Zum Weiß des 60 göttlichen Lichts gesellt sich sehr bald das feurige Rot, wie auch die Gottheit mit einer rotglühenden feurigen Aura umgeben ist. Grün als Engelsfarbe taucht spät auf, obwohl Grün eine jahrtausendealte Symbolgeschichte besitzt. Grün ist im griechischen Mythos die Farbe der Meergottheit, im Islam gilt Grün als Symbol der Erkenntnis Gottes. In der mittelalterlichen Zeit hat zuerst die hl. Hildegard von Bingen, die Benediktinerin und Visionärin, eine neue Engelsystematik vorgelegt. Sie schildert in ihrer 6. Vision die Engelschöre, die ebenfalls nach einer Rangordnung gegliedert sind und schon aus den Schriften des Pseudo-Dionysius bekannt sind. Die Geister im ersten Chor sind am menschenähnlichsten und für die Umsetzung des Willens Gottes zuständig. Der zweite Chor besteht aus den geflügelten menschengesichtigen Erzengeln. Der Unterschied zu Pseudo-Dionysius Engelsystematik besteht darin, dass auch zwischen niederen Engeln und Gott eine direkte Verbindung besteht. In der mittelalterlichen Visionsliteratur ist die Bedeutung der Engel als Führer ins Jenseits, oder aber als Verkünder von Gottes Wort zentral. Abgesehen von anderen Angelologien und Systematisierungsversuchen hat erst Swedenborg eine neue Systematik geschaffen. Er ist, wie die Visionäre vor ihm, überzeugt, dass die Geistwesen sich den Menschen in Traum und Vision offenbaren. Sowohl Engel als auch Dämonen besaßen der mittelalterlichen Vorstellungswelt nach (zumindest luftige) Körper. Die Theologen diskutierten über die Beschaffenheit der Engelkörper, so z. B. war Rupert von Deutz (1070–1129) der Meinung, Engel hätten einen Luftkörper, während Honorius Augustodunensis (1080–1150) sich einen Feuerleib vorstellte. Das IV. Lateran-Konzil definierte die Engel als spirituelle Wesen. Die spätmittelalterliche Sicht der Engel verbildlichte sie so, wie sie uns bekannt sind: als kindliche Gestalten. Die Engelverehrung, wie sie heute in gewissen esoterischen Zirkeln üblich ist, betraf lediglich den Erzengel Michael. Auch die dritte der abrahamitischen Religionen, der Islam, kennt Engel als Vermittler der göttlichen Gnade im Unterschied zu den Dschinn, die den göttlichen Zorn verwalten. Die Engel sind mit zwei, drei oder vier Flügeln ausgestattet, können lehren und für andere handeln. Der Prophet Mohammed soll etwa einen Engel, der als attraktiver Mann aus Mekka erschien, erblickt haben. In der persischen Poesie findet sich das Bild von den beiden Schutzengeln, die die guten Taten der Menschen niederschreiben, bei den bösen aber warten, um den Menschen Gelegenheit zur Reue zu geben. Ebenso wie in jüdisch-christlicher Vorstellung sind auch im Koran Engel Botschafter und Begleiter zum Offenbarungswissen, werden als gut und böse, als Engel und Dämonen (Dschinn) beschrieben und besitzen Einfluss auf die Handlungen und Taten der Menschen. Besonderen Einfluss auf das christliche Konzept übte die platonistische und neuplatonistische Kosmologie aus. Die persönlichen Gottheiten der Antike wurden von der Vorstellung einer unmittelbaren Hilfe durch Gott, der besonderen Vermittlertätigkeit der Heiligen und mit der Hilfe der Engel abgelöst. Seit dem 9. Jahrhundert lässt sich die besondere Verehrung des Schutzengels und hier ein 61 besonderer Kult des Erzengels Michael belegen. Im Spätmittelalter formte sich die in katholischen Gebieten bis heute gültige Beziehung zum speziellen Namenspatron aus. Der volkstümliche Schutzgeistglaube, eigentlich in christlicher Vorstellung Schutzengelglaube, hat sich bis heute gehalten und sogar, verstärkt durch esoterische Strömungen, eine Renaissance erlebt. Das Frühchristentum ist von der spätantiken, synkretistischen Dämonologie insbesondere durch Clemens von Alexandria (150– 215) und Origenes (185–254) geprägt, die Kirchenväter systematisieren und integrieren das spätantike Dämonenkonzept. Aus diesem entwickeln sich nun gefallene Engel zu Dämonen. Schon das Judentum sowie das Christentum haben heidnische Götter dämonisiert, außerdem nimmt man im Judentum die Verbindung zwischen Engeln und irdischen Frauen an, wie sie Justin der Märtyrer und Tertullian anführen. Die gefallenen Engel und Dämonen sind immaterielle Wesen, besitzen aber eine feinstoffliche Substanz und damit eine Art Körper, ebenso die Engel. Mit dem Sturz des Engels wird die Dämonologie grundlegend geändert. Wie erklären die Schriften den Sturz Luzifers? Dieser hat vorher schon einen Thron inne, der sich unter den Wolken, also schon auf Erden befunden hat, den er aber noch weiter nach oben zu rücken trachtet. Luzifers Vergehen nimmt sowohl den späteren Sündenfall Adams und Evas als auch den Frevel der Gottessöhne vorweg, er versucht gottgleich zu werden. Offenbar geht es hier darum, dass die von Gott eingesetzte Hierarchie und sein Beschluss von Satanel (später Satan) unterlaufen werden. Gott will nicht sein erstes Geschöpf, den Engel, den strahlenden Sohn der Morgenröte, neben sich sitzen haben, sondern Adam den Menschen. Diese Interpretation fußt auf dem Gedanken, dass Gott zwei Schöpfungen vollbracht habe. In Genesis 1: 2-12 heißt es, dass die Erde schon da gewesen ist – wenngleich nach der Verstoßung des Luzifer wüst und leer. Gott hat offenbar seine erste Schöpfung nicht vollkommen gefunden, weshalb Luzifer selbst eingreift und seinen Thron verrückt. Gemäß der syrischen Schatzhöhle, einer Sammlung apokrypher Schriften, hat er aber noch eine Chance auf ein milderes Urteil, es bleibt ihm die Möglichkeit, sich Adam zu unterwerfen; als er es nicht tut, wird er verstoßen. Eine andere Erklärung für den Engelsturz bietet das Äthiopische Buch Henoch: Die Engel blicken mit Begehren auf die schönen Töchter der Menschen, und 200 von ihnen steigen zu den Menschen herab und nehmen sich die Frauen. Außerdem lehren sie die Menschen Zaubermittel, Beschwörungsformeln, Waffen- und Kräuterkunde, Astrologie und Astronomie, Meteorologie und Gesteinskunde. Dieses sündige Treiben melden die vier Erzengel an Gott weiter, und er schickt die Sintflut. Die Frauen werden schwanger und gebären Riesen, die die Menschen, bedingt durch ihre enorme Größe, zuerst arm fressen und dann schließlich auch sie selbst verschlingen. Während diese ungehorsamen und wollüstigen Engel aus dem Fokus verschwinden, wird die Position Satans durch seine Funktion als Gottes Widerpart besonders bedeutsam. Im 2. Jahrhundert vor Christus war seine Figur im Judentum etabliert. Die Ambivalenz des Bildes von Jahwe, der die Menschen straft und auch versucht, dann wieder rettet und in der Sintflut ertrinken lässt, erhält mit der ausgelagerten Figur eines Verführers, Versuchers und Betrügers der Menschen Ausgewogenheit durch 62 diese neue Rollenverteilung. Nun ist nicht mehr Gott der Urheber der Versuchungen des Menschen, sondern der Teufel. Ein Widerspruch bleibt allerdings bestehen, denn wenn der Teufel die Menschen versucht, dann ist er Gott ebenbürtig, wenn er einer der Gottessöhne ist, dann ist Gott wieder für die Versuchung verantwortlich. Die großen Theologen der Spätantike und des Mittelalters haben dafür den Gedanken der „Zulassung Gottes“ eingeführt. Minucius Felix (spätes 2. Jahrhundert) versteht die Dämonen als gefallene Engel, die wegen ihrer irdischen Mangelhaftigkeit und ihrer Begierden dazu verurteilt sind, zwischen Sterblichen und Unsterblichen, zwischen Geist und Körper zu stehen. Michael Psellos (1017/18–1078) unterscheidet zwischen guten und bösen Dämonen je nach gutartigem bzw. bösartigem Charakter aus der Sicht der Menschen, demnach existieren himmlische Luftdämonen, Wasser-, Erd- und unterirdische Dämonen. Im Unterschied zum grobstofflichen Menschen haben sie eine Art feinstofflichen Körper. Meist treten Dämonen, wie auch die Engel, in Menschengestalt auf. Dennoch wird in einer Reihe von talmudischen Texten die Behauptung aufgestellt, die Dämonen würden sich, abgesehen davon, dass sie keinen Schatten werfen, von den Menschen durch ihre Hühnerfüße unterscheiden. Häufig kommen sie in tierischer Gestalt, können ihr Äußeres nach Belieben verändern. Als schwarzer Hund ist der Dämon nicht nur aus Goethes Faust bekannt, auch als Stier oder Löwe tritt er auf. Einige der häufigsten Erscheinungsformen sind der Ziegenbock, aber auch der Widder; der Teufel der mittelalterlichen Mysterienspiele trägt Bockshörner und steht hier freilich in der Traditionskette der antiken Satyrn und Bocksdämonen, die Israeliten opfern dem bocksgestaltigen Wüstendämon Asasel, zu dem am Versöhnungstag der Sündenbock geschickt wird. Der Wolf ist bis auf wenige Ausnahmen in Antike und Mittelalter als dämonisch qualifiziert, in der griechischen Mythologie sogar als Inbegriff jener Mächte, die die Götter bekämpfen. Auch der Hund wird nicht anders als im Alten Testament als Verkörperung dämonischer Kräfte verstanden. Der Torwächter des Hades, Kerberos, ist hundsköpfig, in babylonischen Texten bellen die Dämonen wie Hunde. Das Judentum und der spätere Islam übernehmen die Abscheu vor dem Hund als einer Verkörperung dämonischer Mächte. Raben gelten als dämonische Vögel, denen man die Fähigkeit zuschreibt, in die Zukunft blicken zu können. Die Schlange gilt ebenfalls als dämonisches Tier, als Attribut des Heilgottes Asklepios genießt sie aber Verehrung, ebenso wie die Glück bringende Hausschlange. Feurige Schlangen oder Drachendämonen kommen in Gottes Auftrag über die Wüstenwanderer. Die Farbe eines Dämons gehört — wie die Farben der Engel und ihre Namen — ebenso zu seinen Attributen wie die Himmelsrichtung. Während Weiß und Rot eindeutig Farben Gottes und daher ihm und den Engeln vorbehalten sind, gehört Schwarz als Farbe zur Erde und zu ihren Dämonen. Der aus dem Iranischen stammende Dualismus von Oben und Unten, Hell und Dunkel, Weiß und Schwarz weist die Farbe Schwarz dem Bösen zu. Im Alten Testament ist Schwarz die Farbe des Nordens und der Nacht. 63 Die Stimmen der Dämonen sind aus den Körpern der von ihnen besetzten Menschen zu hören, diese sind ein Gegenbild zu den Ekstatikern, den Sprachrohren Gottes, den Propheten und Mystikern, aus deren Mund Gott spricht. Der Dämon bleibt immer anonym, das unterscheidet ihn von der Gottheit. Ein Name würde ihn in die Engelgemeinschaft einbeziehen, weshalb die Dämonen erst in der Spätzeit zu ihren Namen gekommen sind, auch über den Umweg des zum Dämon gewordenen Totengeistes. So erhält Jakob keine Antwort auf die Frage nach dem Namen des Nachtdämons am Fluss Jabbok. Dies ändert sich in der Literatur des nachbiblischen Judentums. Satan wird nun als Name des Teufels angesehen, der jetzt auch Mastema, Belial bzw. Beliar und Sammael heißt. Die Dämonologie wird erweitert, die Dämonen unterstehen Satan als Heer analog zum Engelheer. Einige depotenzierte Götter, d. s. historisch ältere Gottheiten, die den neuen weichen mussten und somit ihre Macht eingebüßt haben wie z. B. das Löwenmischwesen mit Flügeln und Vogelklauen, die Lamaštu: diese säugt an ihren Brüsten einen Hund und ein Schwein, zwei im Alten Orient als unrein geltende Tiere, und hält zwei Schlangen in Händen. Schutz gegen diesen Krankheitsdämon bietet der Herr der Windgeister Pazuzu, der ebenfalls ein Löwenmischwesen ist. Während die Lamaštu negativ konnotiert und als Dämonin bezeichnet wird, bleibt Pazuzu ambivalent. Lilith kennt das Alte Testament als für Kinder gefährliche Nachtdämonin. Rešep bleibt noch zu erwähnen, ein im Alten Orient in vielfältigen Erscheinungen und Funktionen auftretender hauptsächlich chthonischer Gott, Krankheitsbringer, Kriegs-, aber auch Schutzgott. Die biblischen Texte instrumentalisieren und depotenzieren den Gott zum Dämon und machen ihn zum Diener Jahwes, den sie dadurch auch von negativen Zügen entlasten. Ähnlich verhält es sich mit den Schutzdämonen, die in Babylon nicht als Schadensstifter, sondern auch als Schutzgeister fungiert haben, in der Bibel als unheimliche Dämonen und fremde Götter – wahrscheinlich mesopotamischen Gepräges – gefürchtet werden. Zu den prominentesten und relevanten Dämonen des Alten Testaments gehören Lilith und Asasel, beide aus den altorientalischen Kulturen übernommen. Lilith hat eine große Wirkungsgeschichte, besonders ihr sexuell gefährdender Aspekt steht im Vordergrund. Im syrischen Raum verschmilzt sie mit Lamaštu, besitzt vielfältige Erscheinungs- und Funktionsweisen, tritt in männlicher und weiblicher Gestalt auf. Als Succubus verkörpert sie die sexuelle Gefahr, gefährdet Frauen während der Schwangerschaft und Geburt und ebenso die Kinder, gehört zur Unterwelt und muss durch apotropäische Praktiken abgewehrt werden. Die ägyptischen Zaubertexte verbinden Lilith mit Wüste und Unterwelt, die Volksetymologie stellt sie zur Nacht. Asasel als Repräsentant der Gegenwelt wird in der alttestamentlichen Forschung (neuerdings siehe Losekamp) lange als in der Wüste hausender Dämon und Herr der Bocksdämonen angesehen. Das Tobitbuch bietet den einzigen Beleg für das Wirken des bösen Dämons Asmodis, lat. Asmodaeus oder Asmodeus, der in der Salomosage zum unfreiwilligen Helfer Salomos wird und ihn beim Tempelbau unterstützen muss. Die Verbindung zwischen bösen Geistern und dem Satan wird erst im Buch Tobit geschaffen, die Person des 64 Satans erst nach Kontakt mit der persischen Religion. In der vieldiskutierten Stelle aus Genesis 6, 1-4 ist die Rede von den Göttersöhnen, gemäß der ugaritischen Keilschrifttexte ursprünglich niederrangige Götter, die auf die Erde kommen, um mit den Menschentöchtern die Riesen und Heroen zu zeugen. Diese wurden zu gefallenen Engeln umgedeutet und fungierten als Ätiologie der Dämonen. In den apokryphen biblischen Schriften geschieht eine Verknüpfung und Zusammenführung der Dämonen mit den Schadenstiftenden Geistern des Volksglaubens. Damit ist die Grundlage einer einheitlicheren Dämonologie gegeben. Der Beelzebul, volksetymologisch auch der Herr der Fliegen, nach Baal Sebul, dem Stadtgott von Ekron, war unter diesem Namen nicht außerhalb des Neuen Testaments bekannt und wurde später zu Belzebub (nach Baal Sebub) geändert. Im sogenannten Beelezebul-Streit in der Bibel geht es darum, dass Jesus vorgeworfen wird, er treibe mit dem Herrn der Dämonen, mit Beelzebul, die Dämonen aus bzw. er habe selbst den Beelzebul in sich. Die Deutung des Namens ist nicht einfach, als Baal wäre er Gott eines Heilorakels in Ekron, die alttestamentliche Polemik macht ihn zum Beelzebul, dem Herrn der Fliegen, zu einem depotenzierten Baal-Gott. Die jüdische Rezeption hat den zoroastrischen Aesma Daeva, den Dämon der Wut, als Antibild zu Jahwe übernommen. Er wird als Gegensatz zum guten Engel Raphael geschaffen, wobei der gute Engel deutlich aktive Überlegenheit über den bösen Dämon bekommt. Die systematische Einordnung und Zusammenfassung der Dämonen zu unterschiedlichen Gruppen darf als eine zeitlich späte Entwicklung angesehen werden. Am Anfang des Dämonismus stand die Vorstellung, dass jeder Teil belebter und unbelebter Welt von seinem spezifischen Dämon bewohnt war. Die Luft wurde von unzähligen Geister bevölkert und die ortsgebundenen Dämonen der Erde, des Wassers und des Feuers belästigten meist zur Nachtzeit die einsamen Reisenden. Die Zahl war noch undefiniert. Zudem kam die Beurteilung der geraden und ungeraden Zahlen als männlich bzw. weiblich als günstig bzw. gefährlich. Vergil spricht in seinen Bucolica (8,75) von der Freude der Götter an geraden Zahlen. Die Babylonier kannten sieben böse Dämonen, die im Volksaberglauben immer noch als Böse Sieben gefürchtet sind. Augustinus kennt alle drei Arten von Dämonen: die depotenzierten Götter, Krankengeister und Schadenstifter. Er bringt zur Sprache, dass Dämonen von bestimmten Menschen auch Engel genannt werden. In der Schrift steht zwar, dass es gute und böse Engel gebe, aber keine guten Dämonen. Die Dämonen setzen alles daran, um göttliche Verehrung zu erlangen. Daher dürfe man Apuleius und anderen Philosophen nicht glauben, dass die Dämonen Vermittler zwischen Göttern und Menschen seien und unsere Bitten hinauf zu den Göttern tragen und wiederkehren, um die Hilfe der Götter zu bringen. Vielmehr muss man glauben, dass sie den Menschen Schaden zufügen wollen. Aus unterschiedlichen Vorstellungs- und Kulturkreisen speisen sich die Dämonengestalten des Caesarius von Heisterbach (ca. 1180–1240), die regionale heidnische Gottheiten, erlösungsbedürftige arme Seelen und gefallene Engel unter dem Begriff Dämon subsumieren. Wilhelm von Auvergne (um 1180–1249) räumt ein, dass Dämonen bei Wahrsagerei und magischen Handlungen assistieren könnten, aber 65 keine Körper besäßen. Thomas von Cantimpré (1201–1270) spricht ihnen die Bildung eines Luftkörpers zu, und Bonaventura (1221–1274) geht von ihrer Körperhaftigkeit aus, da sie sich von einem Ort zum anderen bewegen. Die nachmittelalterlichen Diskurse greifen auf die neuplatonistische Dämonologie zurück. Johannes Trithemius (1462–1516) teilt die Dämonen, je nach Wohnstätte, in sechs Kategorien ein. So leben die Feuergeister unterhalb des Mondes und kommunizieren nicht mit den Menschen, während die Luftgeister sich in der Luft aufhalten und daher von Menschen wahrgenommen werden. Die Wassergeister leben in Gewässern, sind von schillerndem Wesen und erscheinen mit einem weiblichen Körper. Die Erddämonen sind jene, die wegen ihrer Laster aus dem Himmel gestürzt wurden, sie sind von üblem Charakter, lichtscheu und böse. Die im Neoplatonismus erfolgte Identifizierung von Engeln und Elementargeistern übernimmt Agrippa von Nettesheim (1486–1535), und unterscheidet sowohl zwischen Teufel und Dämonen als auch den Planetengeistern, die sich nicht nur in den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde aufhalten, sondern auch noch in Geister der Nacht, des Tages und Mittags, des Waldes, des Bergs, des Felds aufteilen. Paracelsus’ Dämonologie weicht von der seiner Vorgänger insofern ab, als er die Elementargeister als Menschen ohne Seele versteht. Diese extreme Interpretation der Elementargeister stieß auf Widerstand der Theologen, die vor allem die Meinung bekämpften, es gebe Menschen, die nicht vom Urvater Adam abstammen. Allerdings glaubt der Jesuit Martin Delrio (1551–1608) an eine mögliche Verbindung von Dämonen und Menschen, die wegen der feinstofflichen Körper der Dämonen und da diese keinen Samen besäßen, nicht einfach zu bewerkstelligen sei. Daher müsste bei einer geschlechtlichen Verbindung von Dämon und Mensch zuerst ein Incubus, also ein Dämon in weiblicher Gestalt, einem kräftigen Mann den Samen entziehen und dann ein Succubus, ein Dämon in männlicher Gestalt, den Samen einer kräftigen, gesunden Frau einpflanzen. Paracelsus (1493–1541) betrachtet die Elementargeister nicht mehr als gefallene Engel, sondern als von Gott erschaffene Wesen, die die Natur beschützen sollen. In jedem Element der Natur verberge sich ein Geist. Da diese Geister keine Seele besäßen, seien sie bestrebt, sich mit den Menschen zu vereinen, um durch die menschliche Liebe eine Seele zu bekommen. Der jüdische Volksglaube geht von einer Körperlichkeit der Dämonen aus, demnach können sie essen und trinken, sich auch fortpflanzen und sterben, besäßen aber, wie die späteren christlichen Wiedergänger, keinen Schatten und einen feinstofflichen Körper. Woher kam diese, wenn auch feine Materie? Die Theoretiker waren der Ansicht, diese Anbindung an eine Materie habe der Sturz der Engel verursacht, da diese beim Hinunterstürzen ihre Geistigkeit verloren hätten und eine Verbindung mit der Materie eingegangen seien. Zuwachs bekam die Dämonenschar durch die Dämonisierung der heidnischen Götter, die man nun zusammen mit den gefallenen Engeln zu dem teuflischen Gefolge rechnete. Die Elementargeister und auch Haus-, Feld- und Waldgeister wurden zu den Dämonen gezählt, aber ob diese auch durchweg als böse anzusehen sind, ist bis heute strittig. Während im Mittelalter und 66 der frühen Neuzeit die Hausgeister nicht unbedingt dem Gefolge des Teufels zuzurechnen sind, erfolgt mit der Bekämpfung des Ketzer- und Hexenwesens eine gesteigerte Diabolisierung aller Geisterwesen. Ab dem 16. Jahrhundert beschäftigt sich die Wissenschaft in zahlreichen Abhandlungen mit Dämonen und Geistern. Magie und Dämonologie werden in das naturwissenschaftliche System integriert und so von der moralisch-christlichen Dämonologie abgekoppelt. Bezweifelt wird die Existenz von Dämonen nicht, sondern ihre Existenz unter verschiedenen Zugängen an den Fakultäten der Universitäten diskutiert und unterschiedliche Themen, wie z.B. deren Körperlichkeit, behandelt. Mit der Aufklärung geht eine Entmythologisierung der nichtirdischen Welt einher, und man wendet sich im 19. Jahrhundert vor allem der Erforschung des Geisterglaubens und Okkultismus zu. 67 V. Lexikon der wichtigsten mittelalterlichen Monstren Acephales (griech. Kopflose) Oberbegriff für die kopflosen Menschen. Die wichtigste Gattung der Kopflosen sind die Blemmyae, die Nase Mund und Augen auf der Brust haben. Aglosses (griech. Sprachlose) Menschen ohne Sprache oder Zunge. Meist Orientbewohner Amazonen (Amazones griech. Ohne Brust) seit der Antike bekanntes Volk kriegerischer Frauen Anthropophagi (griech. Menschenfresser) der antike und mittelalterliche Begriff für die seit der Frühen Neuzeit als Kannibalen bezeichneten Menschenfresser Dazu gehören Gog und Magog die Hundsköpfigen etc. Antipodes (Antipoden, Gegenfüßler) sind eigentlich die Bewohner der Europa gegenüberliegenden Bereiche der Erdkugel. Sie werden aber immer wieder als Antipedes (lat. Verkehrtfüßler) missverstanden. Arimaspi sind ein Volk von Einäugigen und wohne im Norden Asiens. Erwähnt von Plinius Solinus Thomas von Canitmpré. Im Herzog Ernst wird der Name für das Land verwendet. Astomes (griech. Mundlose) auch Apfelriecher. Eine Untervariante sind die Strohhalmtrinker, die einen so kleinen Mund besitzen, dass sich nur mittels eine Strohhalm und von Flüssigkeiten ernähren können. Bragmani (auch Bragmani, Brahmanes) sind nackte weise Höhlenbewohner, einem König und gehen auf die indischen Brahmanen zurück. In einigen Texten werden sie mit Gymnosophisten gleichsetzt. Brahmanen sind im indischen Kastensystem die Angehörigen der obersten priesterlichen Kaste. Cyclopes (lat. griech. Zyklopen) sind die einäugigen Riesen der antiken Tradition. In der griechischen Mythologie sind sie die drei Söhne von Uranos und Gaia. Cynocephales (griech.lt. Hundsköpfige) sind eine in Antike und Mittelalter sehr häufig erwähnte Wunderrasse v0n Menschen mit Hundeköpfen, die sich durch Bellen verständigen. Sie werden vor allem in Indien lokalisiert, aber auch in Europa besonders in Nordeuropa, wo eine eigene Tradition des Glaubens an ein skandinavisches Volk von Hundsköpfigen entstanden ist, die Hundingiar. Man hat auch Reminiszenzen an kultische Kriegerbünde wie den Wolfshäutern und Berserkern erkennen wollen die aber nicht zu belegen sind. Faune sind ein Volk von kleinen behaarten, manchmal gehörnten Waldbewohnern sie Augustinus werden sie häufig mit den Satyrn verwechselt. Frauen mit Bart sind aus der Alexandertradition in einige mittelalterliche Enzyklopädien übernommen worden. Gigantes die Riesen der antiken Mythologie Grippianer = Kranichschnäbler, vielleicht abgeleitet von lat. gryphus = Greif. Im herzog Ernst bewohnen die Kranichschnäbler ein Land namens Grippia, 68 Gynmosophisten (griech. Nackte Weise= oft gleichgesetzt mit den Oxydraken und den Bragmani. Kentauren bzw. Zentauren sind Mischwesen mit dem Kopf und Oberkörper eines Mannes sowie dem Leib und Beines eines Pferds oder Esels. Lamiae heißen in den Wundervölkerverzeichnissen Frauen, die Pferdefüße und fersenlanges Haar haben groß und wunderschön sind in der griechischen Mythologie tragen sie vampirhafte Züge und sind weibliche Dämonen. Panoti (griech. Großohren) Pilosi (lat. Behaarte) sind am ganzen Körper behaarte Menschen auf einer Insel im indischen Ozean. Plathüeve (mhd., lat Skiopodes = Platthufe) die Skiopodes im Herzog Ernst die Beschreibung folgt der für die deutschsprachigen Quellen Umdeutungen demzufolge sie eine großen flachen Schwanenfuß zum Schutz vor Unwettern und nicht vor der Sonne benutzen. Pygmäen kleinwüchsige Menschen. Satyrn sind hakennasige gehörnte und ziegenfüßige Menschen. Silvestres bzw. Agrestes sind Waldmenschen bzw. Wilde Leute. Troglodyten sind Höhlenbewohner ein in Höhlen wohnendes wildes Volk in Afrika., die nicht sprechen können. Wasserfrauen kommen in unterschiedlichen Gestalt vor, wobei man nicht immer zwischen Wundervolk und Sagengestalten trennen kann. 69 VI. Bibliographie Aristoteles: Tierkunde (De animalibus historia), Paderborn 1957. Cajus Plinius Secundus: Naturgeschichte, übers. v. C. F. Lebrecht Strack, Bremen 1853, Ndr Darmstadt. Cölln, Jan /Susanne Friede/Hartmut Wulfram (Hrsg.): Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen, Göttingen 2000; Ellis, Richard: Seeungeheuer. Berlin 1997. Friedman, J. B. : The Monstrous Races in Medieval Art and Thought. Cambridge-London, 1981. Herodot: Historien, übers. v. A. Horneffer, hg. v. H. W. Haussig, Stuttgart 1971. Isidor von Sevilla: Etymologien, übers. u. komm. v. Dagmar Linhart, Dettelbach 1997. Kusiek, Elisabeth: Die Episoden von Alexanders Paradieszug, seiner Tauchfahrt, dem Greifenflug und von Sonnen- und Mondbaum in Jans Enikel Weltchronik und im Basler Alexander. Ein Vergleich, Bonn 1988. Lecouteux, Claude: Les monstres dans la littérature allemande du Moyen Âge (11501350). Contribution à l'étude du merveilleux, 3 vol., Göppingen, 1982 (G.A.G. I-III). Mackert, Christoph: Die Alexanderdichtungen des Alberich von Bisinzo und des Pfaffen Lambrecht und die Historia de preliis. Zur möglichen Bedeutung von Quellenuntersuchungen für die Frage nach dem 'Sitz im Leben', in: 'Ze hove und an der strâzen'. Die deutsche Literatur des Mittelalters und ihr 'Sitz im Leben'. Festschrift für Volker Schupp zum 54. Geburtstag, hg. v. A. Keck u. T. Nolte, Stuttgart/ Leipzig 1999, S. 43-60. Müller, Ulrich und Werner Wunderlich (Hrsg.) Dämonen, Monster Gabelwesen. (=Mittelalter Mythen Bd. 2) St. Gallen 1999. Physiologus: griechisch/deutsch, übers. u. hg. v. O. Schönberger, Stuttgart 2001. Röcke, Werner: „Schreckensort und Wunschwelt. Bilder von fremden Welten in der Erzählliteratur des Spätmittelalters“, in: Der Deutschunterricht 44, Heft 2 (1992), S. 3248 Schade, Herbert: Dämonen und Monstren. Regensburg 1962. Simek, Rudolf: Erde und Kosmos im Mittelalter. München 1992. Simek, Rudolf: Monster im Mittelalter. Die Phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen. Wien 2015. Tuczay, Christa: Geister, Dämonen Phantasmen. Eine Kulturgeschichte. Wiesbaden 2015. Tuczay, Christa: Drache und Greif – Symbole der Ambivalenz, in: Mediävistik Bd. 19 (2006) S. 169-211. 70
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