Dekan Markus Engelhardt Was hat Anstand mit

Dekan Markus Engelhardt
Regionale Arbeitsgruppe in Freiburg/Südbaden
Was hat Anstand mit Verantwortung zu tun? Zur Bedeutung eines unzeitgemäßen Begriffs
Impuls anläßlich des Theologischen Abendgesprächs am 1. Juli 2015
Der "Knigge" ist nicht nur in blaublütigen Kreisen zum sprichwörtlichen Ausdruck für guten
Benimm geworden. 1788 erschien die Schrift des Freiherrn Adolph von Knigge mit dem überaus globalen Titel "Über den Umgang mit Menschen". Das deutet bereits an, daß es da um
weit mehr geht als bloß um Benimmregeln, wie wir sie unseren Kindern vermitteln wollen. Der
Ur-"Knigge" ist vielmehr eine Anleitung zu praktischer Lebensklugheit. Seine Leitfrage ist
sozusagen zeitlos aktuell. Sie lautet: Was sind wir uns selbst und den anderen schuldig? Wie
gehen wir menschlich miteinander um?
Mein Impulsreferat wird drei Teile haben:
I. Worum geht es beim Anstand?
II. Warum wird heute seit einiger Zeit neu nach dem Anstand gefragt?
III. Was hat evangelische Verantwortungsethik mit dem Thema "Anstand" zu tun?
I.
Im Jahr 2006 erschien in der Reihe "EKD-Texte" das Büchlein "Die Manieren und der Protestantismus. Annäherungen an ein weithin vergessenes Thema". In ihm sind die Beiträge abgedruckt, die auf einem vom Rat der EKD veranstalteten Symposium zu eben diesem Thema
dargeboten wurden. Der Band fand ein gemischtes Echo. Neben lebhafter Zustimmung gab
es auch manchen Spott. Die an sich sehr lesenswerte katholische Zeitschrift Herder-Korrespondenz gab ihrem Kommentar die süffisante Überschrift: "Artig, artig". Der Kommentator tat
sich mit der Thematik sichtlich schwer. Er schreibt: "Hat die evangelische Kirche hierzulande
keine anderen Sorgen, mag sich mancher gefragt haben." Dazu kann ich nur sagen: Wer so
redet, hat die Entdeckung der theologischen und in unseren Zeiten durchaus brisanten gesellschaftlichen Bedeutung des Themas noch vor sich.
Freilich muß ich einräumen, daß ich selber die Relevanz des Themas auch nicht entdeckt
hätte. Ich gehöre zu den Vielen, die erst durch ein Buch, das erstaunlicherweise in kürzester
Zeit zum Bestseller wurde, auf das Thema aufmerksam wurden. Sie wissen vermutlich, was
ich meine: das Buch mit dem lakonischen Titel "Manieren", das vor 12 Jahren im Jahr 2003
erschienen ist. Verfasser war der seit Jahrzehnten in Deutschland lebende Asfa-Wossen
Asserate, im Hauptberuf Unternehmensberater und von Herkunft Äthiopier, und zwar ein
echter Prinz, der aus dem Hause Davids abzustammen beansprucht. Da gibt es ja durch die
Verbindung des Davidsohnes Salomo mit der sagenumwobenen Königin von Saba eine Linie
nach Äthiopien. Durch diese ungewöhnliche Vita war Asserate die Beschäftigung mit solch
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einem - für den Normalbürger eher abseitigen - Thema gewissermaßen in die Wiege gelegt.
Wie er das aber machte in jenem Buch - mit einer kulturgeschichtlichen Bildung, einer literarischen Qualität und stilistischen Brillanz, die man, mit Verlaub, bei einem Consultant nicht unbedingt vermutet -, das hat damals viele begeistert und auch mir für die Bedeutung des Themas "Anstand" die Augen geöffnet.
Ein Hinweis aus der eben genannten katholischen Herder-Korrespondenz verdient allerdings
Beachtung. Die Schlußfrage des Kommentars lautet: "Warum muß man das alles unter dem
engführenden, letztlich verzopften Begriff der Manieren diskutieren?" Der Begriff "Manieren",
bei dem man in der Tat an irgendwelche geheimbündlerischen Treffen des Hochadels oder
an ein englisches Elite-Internat denken mag, lenkt vielleicht wirklich die Aufmerksamkeit zu
sehr auf die äußeren Formen und verdeckt damit eher als den Blick dafür zu öffnen, daß es
bei den äußeren Formen um etwas Tieferes geht, was man am ehesten wohl mit dem Begriff
"Haltung" fassen kann. Und daß beides zusammen, die innere Haltung und die aus ihr fließenden Umgangsformen, einen wichtigen Beitrag zur Zivilisierung und Sozialisierung menschlichen Verhaltens leisten. Ich habe deshalb für diesen Impuls nicht die "Manieren", sondern
den Begriff "Anstand" in den Vordergrund gerückt.
Er hat den Vorzug, den inneren Zusammenhang deutlich zu machen, der zwischen den Umgangsformen und den ethischen Grundregeln für einen zivilisierten Umgang mit Menschen
besteht. Beim Anstand geht es um die Frage: Was gehört sich, und was geht gar nicht? Noch
deutlicher wird das bei dem Begriff "anständig". 1931, wohl nicht zufällig am Vorabend der
großen Niederlage aller europäischen Zivilisation, erschien ein Essay von Thomas Mann mit
dem Titel "Die Wiedergeburt der Anständigkeit". In ihm wandte er sich gegen eine Zeitgenossenschaft, der "der Begriff des menschlich Anständigen weitgehend abhanden gekommen ist
und die gegen allen Menschenanstand sich Dinge erlaubt oder wieder erlaubt, die unmöglich
zu machen einer kritischen Humanität mit größter Mühe gelungen war". Dieser Satz hat, so
meine ich, auch 80 Jahre später nicht an Relevanz eingebüßt. Das eigentlich durch und
durch konservative Wort "anständig" erfährt seit einigen Jahren eine erstaunliche Renaissance im öffentlichen Diskurs - und das keineswegs nur bei Konservativen. Einen "Aufstand
der Anständigen" forderte vor vielen Jahren schon der damalige SPD-Kanzler Schröder in
bezug auf die zunehmenden rassistisch motivierten Übergriffe auf Ausländer in Deutschland.
Und der Bundespräsident hat diese Wendung kürzlich aus demselben Anlaß auch benutzt.
Als vor sechs Jahren im Zuge der damals über uns gekommenen internationalen Finanzkrise
eine öffentliche Debatte über die teilweise unfaßlich hohen Gehälter, Boni und Abfindungen
von Managern v. a. im Bankwesen losbrach, waren es gerade die Kategorien des Anständigen und der guten Sitten, auf die sich kritische Urteile beriefen. Margot Käßmann, damals
noch in Amt und Würden einer Bischöfin, sagte: "Die haben das Gefühl für Anstand verloren,
dafür, was sich gehört und in unsere Zeit paßt." Eine geradezu klassisch 'konservative' Aussage, ausgerechnet von einer, die in der öffentlichen Wahrnehmung als umstrittene Vertreterin eines gern als naiv und gutmenschenhaft gebrandmarkten Linksprotestantismus firmiert.
Aber die Aussage von Frau Käßmann wird dadurch ja nicht falsch. Gerade in Fragen, für die
es keine rechtlichen Regelungen gibt und auch nicht geben soll, braucht der Mensch einen
inneren Kompaß, um richtig zu reagieren. Er braucht moralisches Fingerspitzengefühl, um zu
wissen, in welcher Situation welches Verhalten ihm und seinen Mitmenschen zuträglich ist.
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Aber der Begriff "Anstand" geht in dem, was ethisch geraten oder fragwürdig ist, nicht auf.
Vielmehr schwingt in ihm immer auch mit, daß die Regeln des ethisch Gebotenen in bestimmten Umgangsformen ihren äußeren Ausdruck finden. Diese Anstandsregeln werden
nicht ständig neu erfunden. Sie sind Konventionen, das heißt wörtlich übersetzt: Vereinbarungen. Sie regeln und erleichtern die Kommunikation, begründen aber zugleich Erwartungen. Unmanierliches Betragen besteht ja zunächst einfach darin, daß eine bestimmte Erwartung nicht erfüllt wird - sei es aus Unkenntnis oder sei es aus Protest. Als einen exemplarischen Fall für Letzteres kann man die berühmte "Turnschuh-Vereidigung" des jüngeren
Joschka Fischer - noch weit weg, den Nadelstreifen für sich zu entdecken - als hessischer
Umweltminister ansehen.
Anstand ist nur so lange eine persönlich wie gesellschaftlich wirksame Kraft, wie innere Haltung und äußere Formen soweit beieinander gehalten und aufeinander bezogen bleiben, daß
es eine gewisse Plausibilität hat. Der Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse kann dazu
führen, daß sich ein bestimmtes Ethos überlebt hat und, in mehr oder minder großem Umfang, seine Revision erforderlich wird. Wenn in einem solchen Fall die äußeren Formen unverändert und gar nicht tangiert von einem soziokulturellen Wandel weitergegeben und sozusagen für zeitlos verbindlich erklärt werden, dann wird früher oder später die Spannung zwischen den neuen Wertvorstellungen, die sich mit der Zeit gebildet haben, und den traditionellen äußeren Formen unerträglich. Das sind die Situationen, in denen überlieferte Konventionen hohl erscheinen. Sie werden dann für den gesunden Menschenverstand lächerlich und
mutieren zur Realsatire. Das sind darum auch die Situationen, in denen vor allem junge
Leute gegen überlieferte Umgangsformen aufbegehren und sie - teils zu Recht, teils in bilderstürmerischem Übereifer - niederreißen. Vieles, was im Zuge der 68er, die wenn nicht politisch, so doch soziokulturell enorm wirkmächtig waren, an tiefgreifenden Veränderungen auf
dem Gebiet von Formen und Konventionen ausgelöst wurde, ließe sich hier als Beispiel anführen. Für beides, für den berechtigten Protest gegen die hohl gewordene reine Äußerlichkeit wie auch für das infantile Anrennen gegen die Windmühlen von Formen, ohne die eine
Zivilisation nicht aufrechtzuerhalten ist. Wenn eine solche Rebellion in anarchische Formlosigkeit mündet, ist sie nicht am Ziel. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, die innere Haltung genüge und die äußere Form sei belanglos, so nach dem Motto aus dem 1. Samuelbuch: "Der
Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an" (1. Sam 16, 7). Zum Protest
gegen äußere Formen an sich eignet sich dieses Bibelwort aber nicht! Eine innere Haltung,
die sich nicht in Anstandsregeln gewissermaßen verleiblicht, anschaulich und greifbar wird,
also nicht in bestimmten Konventionen eine institutionelle Gestalt annimmt, hat keine Chance,
das persönliche und das gesellschaftliche Leben auf Dauer zu prägen. Hinzu kommt, daß ein
achtloser Umgang mit äußeren Formen die Kommunikation stören und blockieren kann. Um
noch einmal auf die Turnschuhe zu kommen: Die mögen - auch das eine Spätfolge der kulturellen Umwälzungen durch die 68er - bei Topmanagern in der IT-Branche hip sein. Der Pastor, der bei der Beerdigung mit solchem Schuhwerk unter dem Talar aufschlägt - bisweilen soll
derartiges immer noch vorkommen -, der kann aus einer tadellosen inneren Haltung bei der
Beerdigung alles richtig machen und sagen. Aber die Angehörigen und die Gemeinde haben
bestimmte Erwartungen an die äußeren Formen, und weil sie nicht erfüllt werden, können sie
die innere Haltung des Pastors weder wahrnehmen noch würdigen. Die Diskrepanz zwischen
beidem ist für die Teilnehmenden so tief, daß die innere Haltung völlig von der verstörenden
äußeren Form bzw. eben: Formlosigkeit verdeckt wird.
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II.
Asfa-Wossen Asserate und alle, die seinem Buch über "Manieren" öffentliche Aufmerksamkeit verschafft haben, haben das bleibende Verdienst, daß die Frage nach dem, was der Anstand gebietet, nicht länger vergessen oder verdrängt oder einfach nur belächelt wird, sondern zurückgekehrt ist: nicht nur in das Nachdenken über Erziehung und Schule, sondern
auch in den öffentlichen Diskurs über die guten Sitten in Wirtschaft und Politik. Neudeutsche
Termini wie "Good Governance" oder im Bereich der Wirtschaft der "Corporate Governance
Codex", der inzwischen flächendeckend auch für die Einrichtungen der kirchlichen Diakonie
implementiert worden ist, haben hier einen wichtigen Grund. Warum diese Frage in Deutschland in besonderer Weise vernachlässigt worden ist, wäre einer eigenen Betrachtung wert.
Ich vermute, es hat einen wesentlichen Grund darin, daß wir hierzulande aus den notorischen
historischen Gründen ein gebrochenes Verhältnis zu Tradition und Konvention haben.
Was sind die Gründe, die viele Menschen heute für diese Frage und dieses Thema empfänglich gemacht haben? Es ist wie eigentlich immer bei uns Menschen: Man merkt erst, was man
an einer Sache hatte, wenn sie fehlt. Die Verlusterfahrung bringt erst zu Bewußtsein, wie
achtlos und unverständig man mit etwas Wertvollem umgegangen ist. Ein ganz alltägliches
Beispiel: Ich beobachte immer seltener, daß in einer vollbesetzten Straßenbahn ein Sitzplatz
freigemacht wird für jemanden, der offenkundig mehr auf ihn angewiesen ist. "Vor einem
grauen Haupte sollst du aufstehen und die Alten ehren", heißt es im 3. Buch Mose (19, 32) das war einmal selbsterklärend, aber heute scheinen nicht mehr viele davon zu wissen. Das
hat untergründige Folgen bis hin zur großen Debatte zur Sterbehilfe und dem sogenannten
assistierten Suizid im Alter, was im kommenden Herbst den Bundestag beschäftigen wird. Ich
sehe diese Debatte, wie es Protestanten gut ansteht, differenziert und habe zu manchem
eine andere Haltung als die sehr fundamental und abstrakt argumentierende katholische Kirche. Aber an dieser Stelle habe ich schon die große Sorge, daß sich durch gesetzliche Liberalisierungen subkutan auch eine Haltung immer mehr verbreitet, die davon ausgeht, daß das
alt gewordene, nicht mehr leistungsstarke und effektive Leben an Wert und Würde verliert
und deshalb unter bestimmten Umständen auch zur Disposition gestellt werden darf. Auch
das hat mit dem Verlust einer Haltung der Ehrfurcht vor dem Alter zu tun.
Oder nehmen wir die Schule. Es kann kein Zweifel sein, daß die Verhältnisse in manchen
Schulen äußerst schwierig und anstrengend geworden sind, auch in unserem noch vergleichsweise intakten Soziotop Freiburg. Ich rede nicht nur von Schülern, die drangsaliert
werden. Ich denke auch daran, daß über 90% der Lehrer lange vor der Pensionsgrenze mit
ihren Kräften am Ende sind und vorzeitig ausscheiden. Gewiß, Benimmunterricht, wie er an
manchen Privatschulen inzwischen eingeführt wurde, oder die Wiedereinführung der Kopfnoten wirken irgendwie hilflos. Aber diese Tatsache spricht doch für sich: Wir vermissen - in
manchen Schulen und manchen Klassen - ein Klima der Rücksichtnahme und des Mitgefühls, eine Haltung der Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit, kurz: den nötigen Anstand.
Aber auch die Wirtschaft, speziell das Bankwesen, muß hier genannt werden. Vor 11 Jahren,
in 2004, wurde durch die Veröffentlichung in der FAZ die ungehaltene Rede eines ungehaltenen alten Mannes bekannt, die damals einen Nerv traf. Ludwig Poullain, der kürzlich verstorbene, damals 84 Jahre alte ehemalige Chef der Westdeutschen Landesbank, war eingela-
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den, über den Sittenverfall im deutschen Bankwesen zu sprechen. Die geplante Rede über
"Bank und Ethos" wurde kurzfristig abgesagt, nachdem der Redetext mit zahlreichen Kritikpunkten am deutschen Bankwesen bekannt geworden war und Poullain nicht bereit war,
kritisierte Passagen zu ändern. Poullain redete dem Wert der Redlichkeit unter Bankern das
Wort und zeigte in seiner Philippika den Unterschied zwischen einem "Banker" und einem
"Bankier" auf.
In seinem Manuskript steht: "Unsere Altvorderen haben keine Standesregeln zu Papier gebracht. Wir schwören auch keine Eide. Aber dürfen wir dennoch, ohne Schamgefühl zu empfinden, ethische Grundsätze für den eigenen Gebrauch ausschließen - so, als würden diese
nur für andere, etwa unsere Kreditnehmer, gelten - und uns dafür lieber der Gewinnmaximierung widmen? (...) Uns in der Wirtschaft täte es gut, Demut zu empfinden und sie mitunter
sogar zu zeigen. Wir müssen nicht mit dem Kopf unter den Armen herumlaufen, aber ein
Gespür dafür entwickeln, was in den Gemütern derer vorgeht, die nicht auf der Sonnenseite
rechtssicherer Dienstverträge leben. Wir sind Pharisäer, wenn wir nur immer wieder auf den
Mißbrauch sozialer Sicherungsinstrumente hinweisen, anstatt unser eigenes Tun selbstkritisch zu betrachten." - Das war eine bemerkenswerte Tonlage, wohlgemerkt noch vor der
großen Finanz- und Bankenkrise und dem Bekanntwerden der monströsen Bonuszahlungen
in dieser Branche. In Kenntnis dessen wäre die Bestandsaufnahme von Poullain vermutlich
noch um einiges deutlicher ausgefallen.
Schließlich noch ein ganz konkreter Punkt, an dem man auch bei dem Thema "Anstand" in
diesen Tagen mit ihrer kaum mehr zu überbietenden Dramatik nicht vorbeikommt: die europäische Krise um Griechenland. Man hat längst den Überblick verloren, was die jeweils eine
der jeweils anderen Seite so alles an Vorwürfen um die Ohren gehauen hat. Ich weiß von
daher nicht, ob auch die Worte "anständig" bzw. eben "unanständig" verwendet wurden beim
Versuch, die Niedertracht der europäischen Institutionen oder umgekehrt der griechischen
Regierung zu beschreiben. Aber in der Sache sprechen beide Seiten einander seit Monaten
Anstand und Verantwortungsbewußtsein ab. Wer hat da nun Recht, und wer nicht? Bzw. da
das Gesamtthema viel zu komplex ist, auch in der historischen Genese, als daß pure SchwarzWeiß-Malerei da weiterhilft: Auf welcher Seite liegt das größere Maß an Verantwortungslosigkeit? Die Medien hierzulande sind sich weitgehend einig: Die griechische Regierung hat
mit dem Platzenlassen der letzten Verhandlungen der Euro-Gruppe endgültig bewiesen, daß
sie verantwortungslos handelt, gerade auch dem eigenen Volk gegenüber. In der Tat spricht,
soweit man es als Laie überhaupt noch beurteilen kann, vieles für diese Sichtweise. Andererseits, was passiert, wenn im Zuge des Zahlungsstopps und evtl. einer Ablehnung der Gläubigerbedingungen durch das Referendum der Griechen am Sonntag eine wirkliche Verarmung
breiter Schichten erfolgt, die das bisher Eingetretene noch weit in den Schatten stellt? Wenn
griechische Rentner anfangen, Hunger zu leiden? Wenn die Selbstmordrate dramatisch in die
Höhe steigt? Ist es anständig und verantwortungsbewußt, solches in Kauf zu nehmen? Ich
weiß es nicht. Aufgabe der Kirche ist es in solchen Fragen auch nicht den Politikern, die bis
zur totalen Erschöpfung nach Lösungen ringen, wohlfeile Handlungsanweisungen zu geben.
Wohl aber gehört es zum sogenannten prophetischen Amt der Kirche, die Gewissen zu
schärfen. Eben in jenen vorpolitischen Raum hinein, in dem die Kategorien von Anstand und
Verantwortung beheimatet sind.
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Wie auch immer, all diese und weitere Defiziterfahrungen sind es, die zu der verbreiteten
Stimmung, mehr noch, zu dem Krisenbewußtsein geführt haben: So kann es nicht weitergehen! So gefährdet sich eine demokratische und liberale Gesellschaft selbst. Je pluraler und
inhomogener eine Gesellschaft wird, desto schwieriger - aber auch desto wichtiger - wird es,
eine Art ungeschriebenen Kodex gemeinsamer Regeln des Anstands zu bewahren.
Die westlichen Gesellschaften zeichnen sich allesamt durch eine zunehmende Verstärkung
der pluralisierenden und individualisierenden Tendenzen aus. Das hat natürlich viele positive,
befreiende Wirkungen, die ich nicht aufs Spiel gesetzt sehen möchte - schon gar nicht, wenn
man sich die von einer eigenartigen Allianz aus Linken und Rechtskonservativen uns als positive Alternative zum "liberal-dekadenten Westen" angepriesene christlich-eurasische Kultur
ansieht, als deren Hoffnungsträger in diesen Kreisen Wladimir Putin gefeiert wird. Aber es
wird zur Gefahr für den Bestand unserer liberalen westlichen Gesellschaften, wenn das
Widerlager intakter guter Sitten und breit akzeptierter Regeln des Anstands fehlt. Besonders
hellsichtig haben das die Vertreter der vor allem in den USA verbreiteten kommunitaristischen Bewegung beschrieben. Die Funktionsfähigkeit der liberalen Gesellschaft, so ist ihre
Überzeugung, hängt davon ab, daß den BürgerInnen die Tugenden, die zum traditionellen
Kanon guten Benehmens gehören, wie Selbstdisziplin, Mäßigung, Zuverlässigkeit, Befolgung
der Gesetze, Mut oder Toleranz gegenüber anderen durch Erziehung vermittelt werden. Es
macht einen noch in der Erinnerung beklommen, wie in den 80er Jahren ein deutscher
Spitzenpolitiker, auf den damaligen Bundeskanzler, einen Parteifreund gemünzt, in diesem
Zusammenhang abschätzig von "Sekundärtugenden" gesprochen hat, mit denen man "auch
ein KZ führen" könne. (O. Lafontaine über H. Schmidt).
Ein Schlüsselbegriff vieler kommunitaristischer Autoren ist das Wort "civility". Stephen L.
Carter hat 1998 einer wichtigen Schrift den Titel gegeben: "Civility. Manners, Morals and the
Etiquette of Democracy". Also: "Zivilität. Umgangsformen, gute Sitten und die Etikette der
Demokratie". Zivilität wird dabei verstanden als die Summe der Opfer, man kann auch sagen
der Einschränkungen der Freiheit zur Selbstverwirklichung, die wir für das Zusammenleben
erbringen müssen. Und zwar nicht nur, weil auf diese Weise das Zusammenleben leichter
wird, sondern auch als Zeichen des Respekts gegenüber unseren MitbürgerInnen, die dadurch als gleich anerkannt werden. Zivilisiert - man mag auch sagen kultiviert - zu sein bedeutet, daß sich unser Verhalten in der Gesellschaft nach bestimmten Regeln richtet, die unsere Freiheit mit Rücksicht auf die anderen beschneiden. So gesehen hat Zivilität sehr viel
gemeinsam mit dem, was in der jüdisch-christlichen Tradition unter dem Begriff Nächstenliebe verankert ist. Denn die Pflicht zur Zivilität hängt so wenig wie die geforderte Nächstenliebe davon ab, ob wir die anderen mögen. Und ebenso wie das Gebot der Nächstenliebe ist
das der Zivilität nicht nur negativ. Es gebietet nicht nur, den anderen nicht zu verletzen, sondern es verlangt auch, sich gut zu ihm zu verhalten.
Wie alle Haltungen läßt sich Zivilität nicht erzwingen und kodifizieren. Das macht ihre Schwäche, aber zugleich ihre Stärke aus. Die Befolgung einer Rechtsordnung läßt sich erzwingen.
Aber schon seit geraumer Zeit ist eine problematische Tendenz wahrzunehmen, die darin
liegt, daß wir das Instrument der Rechtsordnung überfordern. Das fängt bei kleinkarierten
Nachbarschafts- oder Vertragsstreitigkeiten an, die das tägliche Brot eines Amtsrichters sind,
und hört beim Bundesverfassungsgericht auf, dessen Mitglieder in den letzten Jahren auffal-
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lend häufig in Richtung der Politik Signale gegeben haben, daß man dort besser seine Hausaufgaben machen solle, statt vom Bundesverfassungsgericht die Lösung politischer Fragen
zu erwarten. Das alles ist eine Folge dessen, daß der Bereich ungeschriebener Regeln der
Zivilität bei uns offenbar unterentwickelt ist. Wo es an breit verankerter Zivilität fehlt, merken
wir dann schnell, wie wenige Instrumente wir haben, um den Zusammenhalt des Gemeinwesens zu gewährleisten. Und das hat zur Folge, daß wir schnell, zu schnell nach neuen Gesetzen rufen. Anstand, Stil, gutes Benehmen - sie könnten, wenn sie nicht vernachlässigt werden, hier eine wichtige entlastende Funktion haben. Denn sie stehen für die Orientierung an
gemeinsamen Werten, Tugenden und Verpflichtungen im vorrechtlichen Raum. Die Frage ist
allerdings, welche Kräfte zur Verfügung stehen, um diese vorrechtlichen Instrumente funktionsfähig zu erhalten oder überhaupt erst wieder zu machen.
III.
Womit ich geradewegs beim letzten Teil des Vortrags bin. Ich sehe vor allem zwei Hinsichten,
unter denen die evangelische Kirche mit dem Thema "Anstand" zu tun und etwas dazu beizutragen hat, daß sich Anstand herausbildet und zu einer wirksamen Kraft wird.
Anstand ist nicht von selbst da. Er braucht den geeigneten Nährboden, um sich zu entwikkeln. Sie merken, wir geraten damit in den Raum jener Voraussetzungen, von denen nach
dem berühmten Böckenförde-Satz unser freiheitlicher Rechtsstaat lebt, die er aber selber
nicht garantieren kann. Hierzu gehört auch das Christentum. Die von ihm mitgeprägte Kultur
hat sich als ein solcher Nährboden bewährt. Das gilt insbesondere für viele biblische Texte.
Nur zwei Beispiele: "In Demut achte einer den andern höher als sich selbst." Klarer, elementarer und gehaltvoller, als es Paulus hier im Philipperbrief (Phil. 2, 3) tut, kann man die innere
Haltung, aus der der Anstand entspringt, gar nicht beschreiben. An diesem Punkt wird im Übrigen auch deutlich, daß und wie Anstand, Verantwortung mit dem Gottesverhältnis des Menschen zu tun hat. Denn nirgendwo lernen wir Demut besser als dort, wo wir uns als Geschöpf
und nicht als Schöpfer, und somit als der Gnade und Vergebung bedürftig erkennen. Der besagte Asfa-Wossen Asserate hat einmal einem kirchlichen Magazin ein Interview gegeben.
Dabei hat er spannenderweise den Kern der Manieren mit dem biblischen Begriff der Demut
beschrieben: "Ein demütiger Mensch ist jemand, der eigentlich keinen Manierenunterricht
braucht. Das ist jemand, der stets den anderen in den Mittelpunkt stellt, ohne sich selbst zu
vergessen."
Ein zweites biblisches Beispiel aus der Weisheitsliteratur des Alten Testaments. Dort werden
Lebensregeln und Umgangsformen in knappe, einprägsame Formulierungen gefaßt. Mir gefällt besonders den Satz: "Die Narren tragen ihr Herz auf der Zunge; aber die Weisen haben
ihren Mund im Herzen" (JS 21, 28). Frei übersetzt: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, oder
auch: Man spricht nur mit dem Herzen gut. Frühere Generationen konnten das auswendig.
Nun sind wir allerdings zunehmend mit der Behauptung konfrontiert, das Christentum habe
seine Wirkungsmacht eingebüßt. Im Feuilleton der FAZ war vor einigen Monaten die ultimative Diagnose zu lesen: "Europa hat die Nabelschnur zur Religion, die es durch die tausendjährige Schwangerschaft des Mittelalters getragen hat, endgültig durchtrennt." Was an sol-
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chen Bildern ärgerlich ist, ist die Leichtfertigkeit, mit der die Beiträge des Christentums zur
persönlichen Lebensorientierung und zur Bildung eines gesellschaftlichen Grundkonsenses
über das, was sich gehört, ultimativ abserviert werden. Aus welchen Quellen speisen sich
denn Bereitschaft und Fähigkeit, sich der Schwachen anzunehmen? Auf welchem Nährboden
wächst eine Kultur der Barmherzigkeit? In welchen Kontexten jenseits des Christlichen werden solche Begriffe überhaupt noch benutzt? Wo lernt man es, den Blick für das fremde Leid
zu bewahren? Ich behaupte nicht, die Orientierung an der christlichen oder der jüdisch-christlichen Tradition bringe automatisch solche Resultate hervor. Ein Blick auf die deutsche Geschichte, aber auch auf das politische Klima in den viel christlicher geprägten USA macht da
sehr bescheiden. Ich sage natürlich auch nicht, für all die beschriebenen Anforderungen
stehe exklusiv die jüdisch-christliche Tradition zur Verfügung. Aber so sehr viele geistige
Ressourcen und kulturelle Kräfte, auf die wir in diesen Fällen rechnen dürfen, haben wir
nicht. Deshalb kommt es darauf an, die Quellen, aus denen sich unsere persönliche Lebensorientierung und der gesellschaftliche Konsens speisen können, neu zu erschließen und sie
wieder stärker zum Fließen zu bringen.
Das beschreibt, und das ist die zweite Hinsicht, unter der die evangelische Kirche mit dem
Thema "Anstand" zu schaffen hat, eine wichtige Aufgabe kirchlicher Bildungsarbeit. Dabei
müssen alle Ebenen des Bildungsgeschehens im Blick sein: die Familie, die Orientierung an
Vorbildern und Beispielen, der Gottesdienst, die orientierende und Nachdenken auslösende
Wirkung öffentlicher Äußerungen und, nicht zuletzt, der Unterricht im engeren Sinne. In jüngerer Zeit wird oft hervorgehoben, daß kirchliche und christliche Bildungsarbeit insbesondere
Orientierungswissen vermitteln kann und soll. Das Thema "Anstand" ist dafür ein exzellent
geeignetes Feld.
Vielleicht kann der eine oder die andere den Zweifel nicht ganz unterdrücken, ob diese Bildungsaufgabe, zumal bei den nachlassenden Ressourcen der Kirche, eine Chance auf Erfolg
hat. Asfa-Wossen Asserate hat in dem bereits erwähnten Interview dazu eine ermutigende
Erfahrung weitergegeben: "Wenn ich in deutschen Städten aus meinem Buch vorlese, wissen
Sie, was mich da am meisten freut? Daß ein beachtlicher Teil meiner Hörer Jugendliche sind.
Ich höre aus den Fragen der neuen Generation, daß sie, auf gut deutsch gesagt, die Nase
voll hat von dem, was wir ihnen in all diesen Jahren vorgemacht haben. Sie wollen einen
besseren Umgang mit ihren Mitmenschen, der nicht auf Herzenskälte basiert. Sie suchen
eine neue Orientierung. Diese Art der Gesinnung ist noch ein kleines Pflänzchen. Ich sehe es
aber wachsen. Und es ist unsere Aufgabe, es zu hegen, zu pflegen und zu bewässern, damit
es eines Tages zu einem starken Baum wird."