AZ Aarau, vom: Mittwoch, 23. September 2015

24 AARGAU
AARGAUER ZEITUNG
MITTWOCH, 23. SEPTEMBER 2015
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KOMMENTARE
Friedlich gegen Fremdenhass:
3500 für Anstand auf der Strasse
Cédric Wermuth
@cedricwermuth
Aarau erlebt die grösste
Demo seit sicher 25 Jahren:
4000! Der Aargau kann
anders - Danke! #aufstand
Demonstration Volksfeststimmung und Transparente am Regierungsgebäude
stehen Dutzende Autos in der Auffahrt
der Tiefgarage. Eine Frau steht in der ge«Kein Mensch ist illegal»; «Helfen statt öffneten Tür ihres Autos und schüttelt gewegschauen; «Refugees welcome»: Die nervt den Kopf. Sie komme soeben vom
Botschaft, die an diesem Dienstagabend Einkauf, sagt sie. «Ich will hei!» Im Graben
von 3500 Menschen friedlich, aber laut- passieren die Demonstranten den Imbissstark durch Aarau getragen wird, ist eine stand von Stadtoriginal Ömer Akyüz, und
deutliche. Diese Menschen gehen auf die Ömer ruft: «Ja, Mut und Anstand braucht
Strasse, weil sie in den Eritreern und Sy- es! Und ein wenig Fleisch auch.» Drei
rern, Afghanen und Somaliern, Sudane- UMA, unbegleitete minderjährige Asylsusen und Iraki, die hierher kamen und chende, sind auch dabei. Die jungen Eritkommen, keine Asylanten, Asylbewerber, reer stellen sich auf einen Treppenabsatz
Asylsuchende, Flüchtlinge oder Migranten und machen ein Selfie, hinter ihnen passehen. Sondern: einfach Menschen.
siert eine Gruppe junger Schweizer MänEs ist 18 Uhr, und der Bahnhofplatz ner, die berndeutschen Rap hören und
gleicht einem Festivalgelände. Mit Musik ein von Hand beschriebenes Kartonschild
einer Roma-Formation oder von der Blue- in die Höhe halten: «Say no to racism!»
tooth-Box auf dem Leiterwägeli. Mit
Nach einer knappen Stunde erreicht
Transparenten und Trillerpfeifen, Fahnen der bunte Zug seine Endstation auf dem
und Ballonen. Mit Säuglingen auf dem Aargauerplatz. Auf der Bühne spielt Frank
Arm und Senioren am Stock, Politikern Powers mit seiner Band. Als der Sänger
und Punks, Bankern und Büezern. Alle aus Brugg sieht, wie immer mehr Leute
tragen sie den gleichen Anstecker, pinke auf den Platz strömen, sagt er ins MikroBuchstaben
auf
violettem
Grund: fon: «Hey wow, so schön!»
«AUFSTAND für ANSTAND».
Seine Freude hat einen Grund: Er heisst
Der Slogan hatte im Vorfeld Diskussio- eigentlich Dino Mukanda Brandao, die
nen ausgelöst. Denn: Angekündigt wor- Mutter ist Innerschweizerin, der Vater Anden war die Demonstragolaner. Dann tritt Marcel
tion als «Aufstand der An- «Wir brauchen Leute Notter, Generalsekretär
ständigen», was den «Ander römisch-katholischen
mit kühlem Kopf
ständigen» sofort Kritik
Landeskirche Aargau auf
einbrachte von allen, die und warmem Herz!»
die Bühne. «Wir wollen
sich als «Unanständige» Christoph Weber-Berg, Präsikeine Asylpolitik machen,
disqualifiziert
fühlten. dent reformierte Landeskirche AG sondern einen Aufstand
Weshalb die «Anständifür Anstand gegenüber
gen» den Slogan anständigerweise leicht Flüchtenden und Schutzlosen.» Die Menüberarbeiteten. Resultat: Auf Plakaten ge applaudiert. Patrizia Bertschi, Präsiund Buttons sind jetzt beide Versionen zu dentin des Vereins Netzwerk Asyl Aargau,
sehen, das scheint aber gerade auch nicht sagt: «Flucht ist eine brutale Erfahrung,
so wichtig zu sein, denn Zeichen sollen an niemand flüchtet freiwillig.» Das einzige,
diesem Abend nicht auf der Tastatur, son- was die Menschen mitnehmen könnten,
dern auf der Strasse gesetzt werden.
seien ihre Talente. «Geben wir ihnen bei
uns die Möglichkeit, diese einzusetzen.»
Eritreisches Selfie zu Berner Rap
Christoph Weber-Berg, Präsident der reDann setzt sich der Demonstrationszug formierten Landeskirche Aargau, fasst die
in Bewegung. In der Spur gehalten wird er Stimmung am besten in Worte: «Wir brauvon Stadt- und Kantonspolizei, die den chen keine Leute mit heissem Kopf und
Verkehr auf der Bahnhofstrasse aufhalten. kaltem Herz, sondern solche mit kühlem
Gezogen wird er von den Organisatoren – Kopf und warmem Herz!» Applaus, Bravound Aargauer Politprominenz. Von der SP Rufe. Die Transparente, die vorher mitgeetwa Max Chopard-Acklin und Cédric tragen wurden, hängen jetzt an der FassaWermuth, von den Grünen Irène Kälin, Jo- de des Regierungsgebäudes. Eritreisches
nas Fricker und Kathrin Fricker, von der und tibetisches Essen ist schnell ausverGLP Beat Flach. Einige Spitzenkandidaten kauft. Und Schriftsteller Guy Krneta ruft:
betonten noch vor wenigen Minuten, heu- «Anständig ist, Menschenrechte nicht mit
te werde kein Wahlkampf gemacht – und der Armee zu verteidigen, sondern mit oflaufen jetzt, Hände am Transparent, in fenen Türen – und mit Anstand.»
der der ersten Reihe mit. Die Band spielt
«Volare», und alle singen: «Cantare, ohoBilder und Videos vom
hoho!» Eine Dame sagt zu ihrer Kollegin:
Aufstand der Anständigen
«Ha schon dänkt, das es ned gad en Pipiauf www.aargauerzeitung.ch
fax git. Aber so vel Lüüt!» Bei der Igelweid
Christian Tanner
@ChristianTanner
Der #Aufstand mit #Anstand
ist ein wunderschönes Zeichen für einen offenen, friedlichen solidarischen Aargau.
Danke, Ihr Lieben & Netten!
VON MARIO FUCHS (TEXT) UND CHRIS ISELI (FOTO)
hu.vollenweider
@deppenpost
Was zu erwarten war: Die
Immergleichen nutzen den
«Aufstand den Anständigen»
für ihren Wahlkampf.
Mia Kicki Gujer
@GujerMia
Über 3000 Menschen demonstrieren in Aarau gegen Fremdenhass. Für einmal bin ich
stolz auf meinen Kanton.
Beat Flach
@beatflach
Aarau #aufstand «Kühlen
Kopf und warme Herzen»
braucht es.
Andreas Mahler
@MahlerAndreas
War gerade in Aarau und
wäre gerne mitgelaufen beim
#aufstand . Aber war eher
Wahlkampf der SP im Namen
der Flüchtlinge. Schade
Irène Kälin
@KaelinIrene
Über 4000 Menschen stehen
auf für eine anständige
Flüchtlingspolitik #Aufstand
#schutzstatthetze
Christian Keller
@krick68
«Aaschtändig isch z verlange,
dass mit Mönsche aaschtändig umgange wird. » Guy
Krneta am #Aufstand für
#Anstand #afaarau
Jonas Fricker
@FrickerJonas
«Aufstand der Anständigen»
in Aarau 3500 friedliche Menschen für die Menschlichkeit.
Danke, danke, danke!
Vereint für einen offenen Aargau: 3500 Demonstranten marschieren friedlich durch
Aarau und setzten damit ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit.
Glarner: «Flüchtlinge liegen uns auf der Tasche»
SVP-Hardliner In einem Fernsehbeitrag der deutschen ARD sprach der Gemeindeammann von Oberwil-Lieli von «potenziellen Sozialhilfebezügern»
VON FABIAN HÄGLER
Ganz anders als die Teilnehmer am
«Aufstand der Anständigen» sieht SVPHardliner Andreas Glarner die Flüchtlings-Situation. Glarner, langjähriger
Gemeindeammann in Oberwil-Lieli,
weigert sich standhaft, in seinem Dorf
INSERAT
auch nur einen Asylbewerber aufzunehmen. Bisher zahlte die Gemeinde
dem Kanton eine Ersatzabgabe von
rund 19 000 Franken. Weil diese auf
das neue Jahr hin markant erhöht wird,
hat Glarner im Budget bereits 290 000
Franken eingeplant, um sich weiterhin
von der Aufnahmepflicht freizukaufen
(az vom 18. September). Dies für den
Fall, dass es nicht gelingt, zusammen
mit Nachbargemeinden eine Lösung zu
finden, um die Aufnahmepflicht für
Asylbewerber zu erfüllen.
ARD-Reporter: «Dunkler Fleck»
Inzwischen ist Hardliner Glarner auch
in Deutschland bekannt, am Montag
zeigte das ARD-Morgenmagazin eine
Reportage aus Oberwil-Lieli. Der Fernsehjournalist fragte den SVP-Fraktionschef, was er einer Familie sagen würde,
die am Grenzzaun steht? Einer Mutter
mit zwei kleinen Kindern, die verzweifelt ist und bittet, Einlass nach Europa
und dort Schutz zu erhalten?» Glarner:
«Dass sie die Reise vergebens gemacht
hat.» Der Reporter: «Und was sollen sie
machen?» Glarner: «Umkehren.» Reporter: «Warum?» Glarner: «Das sind potenzielle Sozialhilfebezüger. Die werden
uns für immer auf der Tasche liegen.»
Dies kommentiert der ARD-Reporter:
«Ansichten, die anderswo als rechtsradikal gelten, sind hier salonfähig. Oberwil-Lieli, ein dunkler Fleck der Schweiz,
der mit der humanitären Tradition des
Landes so gar nichts zu tun haben will.»
Glarner sagt gegenüber dem Newsportal «Watson», der Beitrag stamme
von einem «ultralinken Journalisten, der
nur zum Ziel hatte, mich als herzlosen
Bürgermeister darzustellen». Der SVPMann, laut Wahlplattform Vimentis der
rechteste Nationalratskandidat im Aargau, verteidigt sich: «Ich habe noch viel
mehr gesagt, aber alles, was dem Journalisten nicht passte, wurde herausge-
INSERAT
schnitten. Etwa, dass man Flüchtlingen
vor Ort Hilfe leisten müsse.»
Auf die Frage nach Reaktionen sagt
Glarner: «Ich habe ziemlich viele Mails
aus Deutschland erhalten, aber auch aus
der Schweiz.» Zwei Drittel seien positiv
gewesen, viele hätten ihm gratuliert.
Aber es habe auch negative Reaktionen
gegeben, in der Regel sehr unanständige: «Man hat mich beschimpft, und
man hat die Zustände in Oberwil-Lieli
mit Nazi-Deutschland verglichen.»