Vorlesung Lexikologie, FS 2006/7 (Pethő Gergely) Thema 6: Wortbildung der Verben 1. Ursachen der Wortbildung Das Lexikon einer Sprache ist ein offenes System: es ändert sich, alte Wörter verschwinden und neue kommen hinzu. Drei Wege der Erweiterung des Wortschatzes: Entlehnung aus einer anderen Sprache (z.B. ung. perec < dt. Brezel), Urschöpfungen (Wortschöpfung), sowie am häufigsten Neubildungen (Wortbildung). Wir unterscheiden zwei Typen von Ursachen für die Einführung eines neuen Wortes: objektiv und subjektiv. Eine objektive Ursache ist die Erscheinung neuer Gegenstände, Sachverhalte, Ideen usw. im Zuge der kulturellen Entwicklung, die Benannt werden müssen, z.B. Computer. Wegen der sprachlichen Ökonomie ist der Ausdruck, mit dem man einen neuen Gegenstand usw. benennt, möglichst kurz und oft nicht länger als ein Wort (z.B. Computer, Drucker, Software usw.) Die subjektiven Ursachen hängen mit einer subjektiven Einschätzung bzw. einer subjektiven Absicht bei der Sprachverwendung zusammenhängen, z.B.: - Euphemisierung: die Absicht der beschönigenden Bezeichnung negativ geladener (Konflikt statt Krieg, Beitrag statt Steuer), sozial minderwertiger (Raumpflegerin statt Putzfrau, Gastarbeiter statt Fremdarbeiter) bzw. tabuisierter Inhalte, insbesondere bezogen auf Tod (ableben, einschlaften, entschlafen, dahingehen usw. statt sterben) und Sexualität (Liebe machen, schlafen usw. statt Geschlechtsverkehr ausüben) bzw. allgemein körperliche Prozesse (sich übergeben statt kotzen, in die Hose machen statt scheißen usw.). - Beeinflussung des Konsumverhaltens: das neu gebildete Wort stellt ein Produkt, eine Dienstleistung o.ä. als besonders positiv oder fortschrittlich dar, z.B. megasauber, fasertief rein, turbostarke Anti-Fleckleistung, ultrahocherhitzt usw. - Streben nach Originalität: Der Sprecher stellt durch die Bildung eines neuen Weil seine Kreativität zur schau, deshalb besonders typisch z.B. in der Dichtung oder im Journalismus. Da er sein „Ausgehgewicht“ von 8000 Gramm erreicht hat, darf der kleine Bär endlich in Freigehege. ... Knut wird Botschafter, zum Beispiel für die Internationale Artenschutzkonferenz im nächsten Jahr in Bonn. Knut ist jetzt ein Problemlösungsbär. (Quelle: www.wortwarte.de) - Absicht der Abgrenzung von anderen durch Sprache: der Sprachgebrauch, insbesondere die Wortwahl ist charakteristisch für einzelne Gruppen. Besonders typisch: Jugendsprache, z.B. Münzmallorca ‚Solarium’, abfetzmäßig ‚sehr gut’, Schmacko ‚attraktiver Junge’, wacken ‚rauchen’ usw. - Streben nach Ökonomie, d.h. nach Kürze: eine wichtige Ursache insbesondere für die Kurzwortbildung, z.B. OP für Operationssaal, A-Saft für Apfelsaft usw. 1 2. Wortbildung der Verben Die Bildung der deutschen Verben geschieht in der überwiegenden Mehrheit der Fälle mit Hilfe der Derivation, d.h. über Präfigierung und Suffigierung (z.B. verbinden, bestimmen, frösteln), Komposition ist seltener. 2.1. Komposition V → Adv + V V→A+V V→N+V V → V + V: kennen+lernen, sitzen+bleiben, verloren+gehen Komposita aus zwei Verben sind am seltensten. Formal können sie entweder aus zwei Verbalstämmen bestehen, z.b. zieh+schleifen, spül+bohren, mäh+dreschen (in der Fachsprache der Technik typisch) oder aus einem Infinitiv und einem Verbalstamm (kennen+lernen, liegen+bleiben) oder einem Partizip und einem Verbalstamm (gefangen+nehmen, verloren+gehen). Wenn das Erstglied eine infinite Verbform ist, ist das Zweitglied meistens das Verb bleiben, lassen oder lernen, z.B. liegen-, sitzen-, stehenbleiben, liegen-, sitzen-, stehenlassen, achten-, kennen-, lieben lernen. Die Übergänge zwischen Getrennt- und Zusammenschreibung sind bei solchen Verben fließend. Durch Zusammenschreibung kann vor allem angezeigt werden, dass das Kompositum in übertragener Bedeutung zu verstehen ist, z.B. stehen bleiben ’sich nicht setzen’, aber stehenbleiben ’nicht weitergehen’. Komposita mit substantivischem Erstglied sind etwas häufiger, aber ebenfalls ziemlich selten. Beispiele: haltmachen, kopfstehen, Rad fahren, seiltanzen, standhalten, Schlange stehen, Gefahr laufen, Feuer fangen, gewährleisten. Die Übergänge zwischen Kompositum und Wortgruppe sind auch hier fließend. Die meisten dieser Komposita sind trennbar. Komposita mit adjektivischem Erstglied sind ebenfalls häufiger, es gibt etwa 80 usuelle Verben dieses Typs, z.B. freihalten, aufrechterhalten, fertigbekommen, -kriegen, -machen, geheim halten, gesundpflegen, geradebiegen, richtigstellen, näherkommen, weitergeben. Sie sind zumeist aus freien syntaktischen Fügungen durch Phraseologisierung entstanden. Viele von ihnen sind nicht semantisch transparent, z.B. vollbringen. Komposita mit adverbialem Erstglied sind relativ zahlreich, etwa 2000 Verben allein mit den Erstgliedern her- und hin-. Die meisten Erstglieder sind Lokaladverbien, z.B. da (dableiben), her (herfinden), hier (hier behalten), hin (hingehen), herüber (herüberblicken), hinüber (hinüberbeugen), empor (emporragen), entgegen (entgegenkommen). Ebenfalls typische Erstglieder sind: wieder (wiedersehen), zusammen (zusammenbinden), zurecht (zurechtbiegen). 2.2. Derivation 2.2.1. Konversion Viele desubstantivische und auch deadjektivische Verben werden durch Konversion gebildet: preisen, dampfen, kleiden, pfeffern, frühstücken, ohrfeigen, starten; kranken, trüben, bessern, gleichen, wachen, faulen usw. Dass wir es mit einem Verb zu tun haben, ist lediglich an der Konjugation zu erkennen (z.B. Infinitivmorphem -en oder Personalendung). 2 Implizite Derivation kommt ebenfalls vor, allerdings seltener und nicht regelmäßig, z.B. säugen, fällen, senken, legen, führen; dämpfen, kämmen; kürzen, lähmen, töten. Typisch bei der Derivation von Verben ist (sowohl bei substantivischer als auch bei adjektivischer Basis) die sog. Präfixkonversion, d.h. Wortartenwechsel ohne sichtbares Derivationssuffix, aber mit gleichzeitiger Hinzufügung eines Derivationspräfixes. Beispiele: befreunden, beauftragen, verbrüdern, auftischen, umarmen, einschulen; beruhigen, befeuchten, aufheitern, erblinden, verarmen, verdeutlichen, verstummen. 2.2.2. Suffigierung Explizite Derivation von Verben durch Suffigierung erfolgt durch vier Derivationssuffixe: -(e)l-: diese Derivate haben typischerweise ein iteratives (Wiederholung ausdrückendes) bzw. diminuierendes Bedeutungselement. Die Basis ist meistens ein Verb, z.B. lächeln, drängeln, hüsteln, streicheln, tänzeln; aber sie kann auch ein Substantiv sein, z.B. frösteln, radeln, schlängeln, sächseln, oder ein Adjektiv, z.B. ähneln, kränkeln, blödeln. -er-: eine iterative Bedeutung ist auch hier zum Teil vorhanden, z.B. blinkern, knickern, schleckern; in anderen Fällen fehlt sie aber, z.B. folgern, steigern, einschläfern. Schallnachahmende oder mehr oder weniger expressive Verben werden ebenfalls oft mit diesen beiden Suffixen gebildet, z.B. quasseln, babbeln, kribbeln, lispeln, prickeln, blubbern, knistern, knabbern, knattern. -ig-: keine gemeinsame Bedeutung, haben aber meistens eine substantivische oder adjektivische Wurzel, z.B. steinigen, ängstigen, reinigen, festigen, sättigen. -ier-: Derivate mit diesem Suffix (und seinen Varianten -isier- und -ifizier-) gehen auf einen französischen Spracheinfluss im Mittelalter zurück (auf die fremde Herkunft weist die Betontheit des Suffixes hin). Sie haben meistens eine nichtnative Wurzel, z.B. disputieren, informieren; signalisieren, typisieren; exemplifizieren, personifizieren. Seltener kommt auch eine native Basis vor, z.B. amtieren, buchstabieren, hausieren. 2.2.3. Präfigierung Zur expliziten Derivation durch Präfigierung werden zweifelsohne jene Verben gezählt, deren Derivationspräfix untrennbar ist, nämlich: be- (belächeln, betrinken), ent- (entgehen, entsenden), er- (erfassen, erpressen), ver- (verändern, verfolgen), zer- (zerbersten, zerkratzen), miss- (missgestalten, missglücken), sowie diverse Fremdpräfixe (desinfizieren, disqualifizieren, inskribieren, kooperieren, regenerieren usw.) Diese Präfixe sind gebundene Morpheme und besitzen keine freien Entsprechungen. Verben, die mit untrennbaren Präfixen gebildet sind (besonders den nativen) werden in deutschen Grammatiken Präfixverben genannt. Neben diesen gibt es ferner präfixähnliche Morpheme wie ab- (abfahren), an- (ankommen), auf- (aufstehen), aus- (ausschalten), bei- (beitreten), ein- (einsehen), los- (loslassen), nach(nachsprechen), vor- (vorschreiben), zu- (zubereiten), die betont und trennbar, bzw. durch(durchgeben, durchdringen), über- (überziehen, überfordern), unter- (untergehen, untersagen), um- (umfallen, umfließen) und wider- (widerhallen, widersprechen), die mal trennbar, mal untrennbar sind. Sie unterscheiden sich von den echten Präfixen, indem ihnen freie Morpheme entsprechen, und andererseits darin, dass Affixe normalerweise nie von 3 ihrem Stamm getrennt werden können. Der Affixstatus dieser Morpheme ist deshalb umstritten. - Sie werden in vielen Grammatiken als Präfixe bezeichnet. - Da sie allerdings frei (als Adverbien oder Präpositionen) vorkommen können, können die mit ihnen gebildeten Wörter auch als Komposita aufgefasst werden. - Da sie von dem verbalen Stamm syntaktisch unabhängig sind, können die komplexen Verben, die solche Morpheme enthalten, auch als syntaktische Fügungen, als Mehrwortlexeme betrachtet werden. Verben, die mit trennbaren Erstteilen gebildet sind, heißen zur Unterscheidung von Präfixverben üblicherweise Partikelverben. Neben den genannten eigentlichen Präfixbildungen (ziehen – erziehen, lösen – ablösen) und den Präfixkonversionen (Gift – vergiften, Bürger – einbürgern) gibt es eine besondere Gruppe von präfigierten Verben (sog. isolierte Bildungen): bestimmte verbale Wurzeln (unikale Morpheme) kommen nur in präfigierter Form vor, z. B. beginnen, begehren, verlieren, erbarmen. 4
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