Pubertät

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KEINE MARIONETTEN DER
BIOLOGIE: PUBERTÄRES VERHALTEN
WIRD AUCH DURCH DIE UMWELT
BESTIMMT
Hintergrund | 31.07.2015
Pubertät: Teenager - keine Marionetten der Biologie
Die Pubertät ist und bleibt eine schwierige Phase - auch für die Forschung. Denn wie Teenager
ticken, ist mehr als nur eine Frage der Hirnentwicklung.
http://www.spektrum.de/news/keine-marionetten-der-biologie-pubertaeresverhalten-wird-auch-durch-die-umwelt-bestimmt/1358467
Kathrin Burger
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Jugendliche gelten als aufmüpfig und leichtsinnig. Sie betrinken sich auf Partys und
setzen sich danach noch ans Steuer, sie treffen sich mit Freunden, um verrückte
Mutproben zu bestehen, sie klauen im Laden, nur des Kicks wegen. Schon die Eltern
kleiner Kinder warnt man vor der anstrengenden Zeit, die beginnt, wenn der
Nachwuchs 12 bis 14 Jahre alt wird. Neu ist das freilich nicht, schon im alten Babylon
vor 3000 Jahren hielt man die Jugend für verdorben, böse, gottlos und faul. Das
Schimpfen über die heutige Jugend ist obendrein auch noch ungerechtfertigt, denn
rund 80 Prozent der Jugendlichen kommen hier zu Lande relativ undramatisch durch
die Adoleszenz.
Doch der verbleibende Teil bereitet Psychologen und Medizinern Kopfzerbrechen. So
hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) letztes Jahr darauf hingewiesen, dass
der Adoleszenz zu wenig Beachtung geschenkt wird. Denn: Lebensgefährliche
Verletzungen durch Verkehrs- und andere Unfälle, Gewalt sowie Selbstverletzungen
und Suizide machen 62 Prozent der Todesfälle bei 15- bis 20-Jährigen aus. Teenager
sind damit dreimal so häufig von vermeidbaren Todesfällen oder Verletzungen
betroffen wie Erwachsene. Die Experten wollen dagegen Präventionsstrategien
entwickeln. Was treibt die jugendlichen Querulanten zu ihrem Tun – und was hält sie
davon ab?
Seit rund 15 Jahren glauben Neurobiologen die Mechanismen zu kennen, die der
pubertären Risikobereitschaft zu Grunde liegen. Denn bei Hirnscanstudien mit Hilfe
der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) hat sich gezeigt: Das Gehirn
wird während dieser Zeit umfassend umgebaut, es wird anders verschaltet und
verkabelt. Eine New Yorker Arbeitsgruppe um die Psychoneurobiologin BJ Casey hat
basierend auf diesen Studien im Jahr 2008 eine Hypothese aufgestellt, die heute von
vielen Wissenschaftlern vertreten wird. Ihr zufolge kommt es in der Pubertät zu
einem entscheidenden Ungleichgewicht im Hirn.
Riskanter Umbau am lebenden Hirn
Betroffen ist laut Casey das für Belohnungs- und Hochgefühle verantwortliche
limbische System, das in der Entwicklung vorausgeeilt ist, während der gleichsam als
Kontrollinstanz fungierende präfrontale Kortex hinterherhinkt. In der Folge neigen
Jugendliche oftmals zu irrationalen Entscheidungen. Das zeigen etwa auch
Labortests, bei denen Jugendliche stets mehr riskieren als Erwachsene, egal ob bei
Glücksspielen oder im Fahrsimulator. Daniel Siegel, Psychiater an der UCLA School of
Medicine, sagt: "Auch Neues kann dieses Hochgefühl triggern."
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Die Suche nach dem Hochgefühl
Jugendliche feiern auf einem Rockkonzert – laute Musik, tanzen und Alkohol sorgen
für Hochstimmung.
Offen ist, welcher evolutionäre Sinn hinter der entwicklungsbedingten Risikofreude
stecken könnte. Gerade Menschen, die sich noch nicht fortgepflanzt haben, sollten
doch tunlichst vermeiden, sich in bedrohliche Situationen zu manövrieren. Aber die
Neustrukturierung im Gehirn lässt sich auch als besondere Anpassungsleistung
verstehen: Durch neugieriges und riskantes Verhalten kommen die Jugendlichen in
Kontakt mit anderen Menschen, sammeln Erfahrungen, erhalten Anerkennung von
Gleichaltrigen und vergrößern ihren Freundeskreis.
So haben fMRT-Studien unter anderem von Laurence Steinberg, Psychologe an der
Temple University, gezeigt, dass das Belohnungssystem im Gehirn pubertierender
Kinder besonders stark angekurbelt wird, wenn sie Anerkennung aus der Peergroup
erhalten. Wenn die ganz Clique raucht, ist darum die Wahrscheinlichkeit groß, dass
das eigene Kind trotz bekannter Gefahren irgendwann mitmacht, einfach um
dazuzugehören.
Denn gute soziale Kontakte außerhalb der Familie sind wichtig für ein erfolgreiches,
selbstständiges Leben, sie erleichtern die Abnabelung und die eigene
Familiengründung. Die New Yorker Wissenschaftlerin Casey meint darum: "Das
adoleszente Gehirn ist also keineswegs defizitär." Und auch Siegel betont das
Positive: "Adoleszenz ist vielleicht schwierig für die Beteiligten, aber sie ist
unabdinglich für unsere Spezies als Ganzes." Dafür, dass hinter der Pubertät eine Art
biologisches Programm steckt, spricht auch, dass Forscher in allen menschlichen
Kulturen und sogar bei Tieren eine erhöhte Risikobereitschaft in dieser
Entwicklungsphase beobachtet haben.
Armut verursacht Probleme
Allerdings gibt es auch einige Skepsis an dieser Theorie, die alle Teenager quasi zu
Marionetten ihrer Biologie macht. Mike Males, Soziologe am Center on Juvenile and
Criminal Justice in Kalifornien, sieht das Phänomen als gesellschaftlich gemacht:
"Alle Studien zum Vergleich von Risikoverhalten von Jugendlichen und Erwachsenen
berücksichtigen nicht, dass viel mehr Jugendliche in ärmlichen Verhältnissen leben
als Erwachsene", schreibt er in einer aktuellen Studie. So sind mehr als die Hälfte der
15- bis 24-Jährigen in Kalifornien von Armut betroffen, aber nur 7 Prozent der 40bis 50-Jährigen. "Wenn man Armut und Wohlstand herausrechnet, dann findet man
bei Erwachsenen im mittleren Alter sogar mehr Kriminalität, Todesfälle durch
Waffengewalt oder tödliche Unfälle", so Males. Doch diesen Kritikpunkt lässt
Laurence Steinberg nicht gelten. Er hält Males’ Berechnungen für fehlerhaft, dieser
habe Daten unzulässig zusammengefasst. Seiner Meinung nach ist die höhere
Kriminalitätsrate bei Jugendlichen also unabhängig von Armutsverhältnissen.
Empirische Studien zeigen: Vor allem "Problemkinder"
bereiten später in ihrer Jugendphase Schwierigkeiten
Doch der Soziologe Males geht noch weiter und kritisiert seinerseits die
Hirnscanstudien. Diese basierten auf zu kleinen Stichproben, um belastbare
Aussagen zu machen. Schließlich belegen aktuelle Überblicksartikel, dass zahlreiche
Studien in ihrer Aussagekraft überbewertet und oft nicht reproduzierbar waren. Nötig
seien stattdessen langjährige Projekte, bei denen Probanden immer wieder in den
Hirnscanner geschoben werden, um die Veränderungen in der Gehirnarchitektur mit
dem realen Alltag abzugleichen. Ähnlich sieht es James Bjork, Psychiater an der
Virginia Commonwealth University. Er hält es für spekulativ, jugendliches Verhalten
in der realen Welt durch einzelne Gehirnveränderungen zu erklären.
Riskant verhalten sich eher junge Erwachsene
Auch Bjork macht auf Ungereimtheiten der Casey-Theorie aufmerksam: So finden die
Neurobiologen einen Peak des Ungleichgewichts zwischen Stammhirn und Kortex im
Alter von 14 bis 15 Jahren. Doch das wahre Risikoverhalten zeige sich erst viel
später, nämlich im Alter zwischen 19 und 23. Erst dann ist die Gefahr von tödlichen
Unfällen, Komasaufen, ungeschütztem Sex, Drogenkonsum oder kriminellen
Handlungen am größten. "In dieser Zeitspanne kehren aber die Aktivitäten der
Belohnungszentren auf ihren vorpubertären Wert zurück", schreibt Bjork. Für den
Psychologen Steinberg ist klar, woran das liegt: "Die jüngeren Jugendlichen haben
weniger Zugang zu Waffen, Alkohol und Autos, und darum können sie schlichtweg
nichts Illegales anstellen."
Sein Kollege Bjork vermutet jedoch einen anderen Zusammenhang: "Man sieht diese
Besonderheiten im Gehirn vor allem bei einer Untergruppe der Kinder bereits vor der
Pubertät." Und nicht nur das: Die Betroffenen zeigen schon mit 14 oder 15 Jahren
ein hochriskantes Verhalten. Er vermutet daher, dass die Hirnscanstudien bislang
nicht diagnostizierte soziale Verhaltensstörungen aufdecken, die in der frühen
Kindheit entstanden sind. Zu diesen Leiden zählen die AufmerksamkeitsdefizitHyperaktivitätsstörung (ADHS) und die oppositionell-aufsässige sowie die antisoziale
Verhaltensstörung. "Diese Kinder sind aber eben nicht neurotypisch für die
Altersgruppe", so Bjork. Das heißt, ihre Gehirnentwicklung verläuft möglicherweise
ganz anders als bei der Mehrheit der Heranwachsenden.
Diese Beobachtung deckt sich mit empirischen Studien. Auch hier wurde belegt, dass
vor allem "Problemkinder" in der Jugendphase weiterhin Schwierigkeiten bereiten,
während in Familien mit einer guten Eltern-Kind-Beziehung auch in der Adoleszenz
selten fundamentale Konflikte vorkommen. Von diesen Verhaltensstörungen sind nun
ihrerseits auch wieder häufiger Jugendliche in sozialen Brennpunkten betroffen, was
sich mit der Armutstheorie von Males decken würde.
Wo kommt die Natur zur Geltung?
So dreht sich der Streit im Grunde um die Frage, wie viel Biologie in der jugendlichen
Risikobereitschaft steckt – und wie viel davon letztlich kulturell geprägt ist. Hier
liegen die Meinungen der beiden Parteien gar nicht so weit auseinander. Denn auch
die Verfechter der Casey-Theorie gehen davon aus, dass das Gehirn durch seine
immense Plastizität veränderbar ist. "Die für Emotionen zuständigen limbischen
Schaltkreise hängen von Umwelterfahrungen ab", meint BJ Casey. So ist
unumstritten, dass frühkindliche Erfahrungen einen Einfluss darauf haben, wie Kinder
mit negativen Gefühlen, etwa Wut und Enttäuschung, umgehen können und wie gut
das Belohnungssystem anspringt.
Steinberg hält dagegen vor allem die späteren Reifeprozesse im Kontrollzentrum des
Gehirns für stark beeinflussbar. "Wenn ein Teenager schnell Selbstkontrolle lernt und
dadurch nicht verhaltensauffällig oder kriminell wird, ist das wahrscheinlich
gesellschaftlich bedingt", sagt Steinberg. In westlichen Industrienationen verstärkt
etwa das Internet eher Regelverstöße. Es ist voll von glorifizierenden Geschichten
über verrückte Partys, Drogen- und Sexorgien. Auch der Zugang zu Drogen wird
durch soziale Netzwerke erleichtert. Auf der anderen Seite bieten die westlichen
Gesellschaften auch wenig Orientierung durch die Erwachsenenwelt. Erwachsensein
gilt eher als uncool. Ganz anders auf der Pazifikinsel Samoa. Hier gab es lange Jahre
strenge Klanhierarchien, die den Pubertierenden ihren Platz zuwiesen. Erst als im
Jahr 1976 das Fernsehen auf die Insel kam, heißt es, seien vermehrt die typischen
Teenagerprobleme aufgetreten.
© Spektrum.de
Quellen