Artikel von Botschafter Freytag von Loringhoven

Steuern oder abschotten?
Namensartikel von Botschafter Arndt Freiherr Freytag von Loringhoven
in der tschechischen Tageszeitung Právo, 15.2.2016
Die Atmosphäre in Europa ist zunehmend vergiftet. Fremdenfeindlichkeit wird wieder
hoffähig, Ost- und Westeuropäer driften auseinander wie lange nicht mehr. Anstatt
konstruktiver Lösungssuche bestimmen Legendenbildung und gegenseitige
Schuldzuweisungen den Umgang mit Flüchtlingen. Einige typische Mythen sind:
„Deutschland ist schuld an der Krise.“ Richtig ist: viele Flüchtlinge wollen zu uns, denn
Deutschland ist wohlhabend, sozial, die Menschen sind entgegenkommend. Der Hauptgrund
für den Flüchtlingsstrom ist aber nicht, dass wir „alle eingeladen“ hätten, es sind vielmehr die
Kriege in Syrien, Afghanistan und Irak (den Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern
nicht wollte). Die Flüchtlinge waren längst unterwegs, als im Herbst in Berlin und Brüssel
Entscheidungen getroffen wurden.
„Deutschland ist naiv. Muslime sind nicht integrierbar. Sie bringen Kriminalität und
Terrorismus.“ Selbstverständlich müssen wir alles tun, um die Sicherheit unserer Bürger zu
gewährleisten. In Köln z.B. wurden schwere Fehler gemacht. Aber wir dürfen Muslime nicht
unter einen Generalverdacht stellen. In Deutschland leben heute 4 Mio Muslime, 5% der
Bevölkerung. Sie sind ganz überwiegend in unsere Gesellschaft integriert. Bei der
Kriminalität von Flüchtlingen gibt es Unterschiede zwischen den Herkunftsländern, aber
gerade Syrer, Iraker und Afghanen werden nur sehr selten straffällig. Sie haben alles
Interesse, ihre Chancen zur Integration zu nutzen.
„Es kommen vor allem Wirtschaftsflüchtlinge zu uns“. Richtig ist: früher war ihr Anteil zu
hoch. Deshalb hat Deutschland den Kreis sicherer Herkunftsländer stark ausgeweitet,
Asylverfahren beschleunigt und Rückführungen erleichtert. Unsere Maßnahmen haben
bewirkt, dass heute deutlich weniger Wirtschaftsflüchtlinge zu uns kommen. Drei Viertel der
Flüchtlinge kommen aus Syrien, Irak und Afghanistan, wo Terror und Krieg Leben und
Existenz bedrohen.
„ Deutsche wollen mit ihrem Gutmenschentum eine historische Schuld abtragen. Sie bedrohen
damit erneut Europa.“ Wenn Deutsche heute Kriegsflüchtlingen helfen, dann zeigen sie damit
in der Tat, dass sie aus der Geschichte gelernt haben. Wie zynisch ist es, darin nichts anderes
zu sehen als eine neue Variante deutschen Hegemonialstrebens?
„Wir können das abendländische Europa nur durch Zäune und Stacheldraht verteidigen.“
Gegenfrage: welches Europa retten wir, wenn wir uns abschotten und damit unsere Werte und
rechtlichen Verpflichtungen (aufgrund europäischer Verträge und Genfer
Flüchtlingskonvention) über Bord werfen?
Klar ist: solche Vereinfachungen führen uns nicht weiter. Wir stehen vor einer
grundsätzlichen Weichenstellung in Europa. Zwei Wege stehen sich gegenüber:
Der eine ist Abschottung. Doch wie soll das praktisch gehen? Wenn wir noch so viele
Schlupflöcher stopfen, die Schleuser werden immer neue finden. Wie soll Europa weltoffen
und global wettbewerbsfähig bleiben, wenn es gleichzeitig seine Schotten dicht macht?
Schwer zu verstehen ist auch, wenn ausgerechnet Länder, die selbst lange unter Trennung und
Unfreiheit zu leiden hatten, heute neue Mauern bauen wollen.
Der andere Weg setzt auf die Steuerung und Reduzierung der Flüchtlingsströme. Zugegeben,
dies ist kompliziert und noch funktioniert Vieles nicht befriedigend. Aber wir sind auch noch
am Anfang. Für diesen Weg spricht: Mit ihm halten wir uns an unsere humanitären
Verpflichtungen und wahren europäische Werte. Wir wissen aufgrund der Erfahrungen mit
Gastarbeitern, dass Integration funktionieren kann. Übrigens hat sich auch Tschechien in der
Bosnienkrise als integrationsfähig für Muslime gezeigt. Wir wissen auch, dass Migration
Motor für Fortschritt und wirtschaftlichen Aufschwung sein kann. Zusätzliche Arbeitskräfte
tragen zur Wertschöpfung bei, Aufstiegswille entfacht eine neue Dynamik.
Klar ist aber auch: Die Zahlen müssen sinken. Deutschland kann nicht jedes Jahr eine Million
Flüchtlinge aufnehmen. Begrenzungsstrategien sind nicht per se unethisch, denn sie helfen,
die Akzeptanz der Bevölkerung und die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten.
Deutschland setzt daher auf schnellere Rückführungen, einen besseren Schutz der
Außengrenzen, die rasche Einrichtung von Hotspots für die Registrierung und Verteilung der
Flüchtlinge sowie eine entschlossene Bekämpfung der Fluchtursachen. Gegenwärtig
verhandeln wir mit der Türkei über die Bildung substantieller legaler Kontingente. Damit soll
Schleusern das Handwerk gelegt werden.
Es ist kurzsichtig zu glauben, dass eine Krise von diesem Ausmaß durch einen Zaun oder
irgendeine andere magische Maßnahme quasi per Knopfdruck ausgeschaltet werden kann. Ein
Blick auf Konfliktkarte und die demographische Entwicklung in unserer Nachbarschaft zeigt,
dass Europa die Herausforderung Migration noch lange beschäftigen wird. Sie zwingt uns zu
einer grundlegenden Debatte über die Frage, in welcher Art von Gesellschaft wir künftig in
Europa leben und wieviel Integration wir zulassen wollen. Deutschland und Tschechien, die
auf diesem Gebiet unterschiedliche Erfahrungen haben, sollten diese Debatte gemeinsam
führen.