Südtiroler Wirtschaft Dieser Artikel ist in der Ausgabe erschienen: Nr. 33/15 | 04.09.2015 Interview – Der Südtirol‐Fan Gerhard Waldherr über die Südtiroler, deren Stärken und Schwächen und die kognitive Kraft der Mehrsprachigkeit Besonderer als andere Die Südtiroler leben ihre Identität überaus intensiv, meint der Journalist Gerhard Waldherr, der auf Einladung des Global Forum Südtirol in Südtirol weilte. Aber ist diese Identität ein wichtiges Fundament in turbulenten Zeiten oder eine Fußfessel auf dem Weg in die Zukunft? Ein Gespräch. SWZ: Herr Waldherr, Sie sind in Bayern geboren, haben lange in New York gelebt, als Journalist an verschiedenen Orten der Welt gearbeitet und gelten als Südtirol‐Fan. Was hat Südtirol, was andere nicht haben? Gerhard Waldherr: Südtirol ist ein besonderer Platz mit besonderen Menschen. Das hängt mit der natürlichen Topographie und der daraus resultierenden Berg‐Tal‐Dialektik zusammen, genauso wie mit der Geschichte des Landes. Hat nicht jede Gegend dieser Welt ihre Eigenheiten? Ja, selbstverständlich. Trotzdem empfinde ich Südtirol als besonders, genauso wie die Mentalität seiner Bewohner. Die Südtiroler leben ihre Identität sehr viel intensiver, als ich das andernorts erfahren habe. Die Südtiroler wissen, wer sie sind. Und obwohl sich im Laufe der Zeit aus Deutschen in Italien deutschsprachige Italiener entwickelt haben, ist die Kernidentität der Südtiroler nicht verloren gegangen. Was bedeutet für Sie Identität? Ohne irgendwelche Definitionen bemühen zu wollen: Identität ist ganz einfach das, was ich bin – eine Summe aus dem, was ich habe, materiell und immateriell, und dem, was ich mir durch meine Erfahrungen aneigne. Beim GFS‐Dialog in Kurtatsch erörterten Sie die Frage, ob diese Identität eine sichere Basis in turbulenten Zeiten ist oder ein Hindernis für Erneuerung in einer Welt, die sich in einem Wahnsinnstempo wandelt. Was von beidem ist sie denn? Beides. Freilich nützt den Südtirolern Identität überhaupt nichts, wenn der Klimawandel die wirtschaftlich so wichtige Wintersportbranche bedroht. Identität kann aber auch sehr nützlich sein. Das lässt sich an Südtirol gut ablesen. Inwiefern? Nehmen wir stellvertretend den Wein. Er ist Teil der Südtiroler Identität, und es ist den Südtirolern gelungen, diesen Teil ihrer Identität enorm weiterzuentwickeln – sie haben aus dem Vernatsch einen anderen Wein gemacht, obwohl er immer noch ein Vernatsch ist. Oder nehmen wir die unzähligen erfolgreichen Unternehmen, die Teile der Südtiroler Identität zu Produkten gemacht haben. Unternehmen, die aus den lokalen Stärken Geschäftschancen machen, gibt es auch anderswo, aber nicht in dieser Häufigkeit. Sonst wären andere Regionen wirtschaftlich gleich erfolgreich wie Südtirol. Südtirol hat eines der höchsten Pro‐Kopf‐BIPs Europas. Offensichtlich gibt es hierzulande mehr Leute mit guten Ideen und mit der Gabe, Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Wollen Sie damit sagen, dass die Südtiroler Identität mitverantwortlich dafür ist, dass Südtirol wirtschaftlich besser dasteht als die allermeisten anderen Regionen Europas? Die erwähnte natürliche Topographie und die Widrigkeiten des Lebens in den Bergen haben die Südtiroler Identität geprägt. Die kleinteilige Unternehmensstruktur kommt nicht von ungefähr, genauso wenig wie das soziale Wesen der Südtiroler, das sich etwa in den Vereinen ausdrückt. Wer in den Bergen überleben will, muss sozialen Zusammenhalt üben, fleißig sein, mit den beschränkten natürlichen Ressourcen verantwortungsbewusst umgehen und die wirtschaftlichen Möglichkeiten konsequent ausnützen. Das macht die Südtiroler wirtschaftlich erfolgreich, genauso wie die Brückenfunktion zwischen dem deutschen und dem italienischen Kulturraum, die Teil der Identität geworden ist. Südtirol ist tatsächlich zur Brücke geworden, nachdem es zuvor nur eine Art Vorposten des deutschen Kulturraums gewesen war. SWZ Südtiroler Wirtschaftszeitung 3315besondereralsandere 1 / 3 Sie sagten, Identität sei eine Stärke, aber auch eine Fußfessel. Bisher haben wir nur über die Stärken geredet. Zur Südtiroler Identität gehört auch ein politisches System, das sehr speziell ist. In Südtirol regiert seit Jahrzehnten dieselbe Partei, es existieren zwangsläufig Verstrickungen und sogenannte Seilschaften, die letzthin auch in handfeste Skandale mündeten. Auch steht neben der Politik eine starke Verwaltung. Als Beobachter von außen habe ich den Eindruck, dass das Land primär verwaltet wird, ohne dass Visionen für die Zukunft entwickelt werden. Das hängt wohl damit zusammen, dass man keine unmittelbare Notwendigkeit für Erneuerung und Wandel sieht. Wenn der Kühlschrank voll ist, muss ich nicht vor die Türe. Ich finde, dass keine tiefere Auseinandersetzung mit den Megatrends stattfindet. Der Fairness halber muss man aber sagen, dass das auch anderswo so ist. Beispielsweise wird in dem Land, das so stark vom Schnee abhängt, über den Klimawandel geredet, als handle es sich lediglich um eine leichte Grippe. Und noch etwas: Für mich könnte Südtirol als Ökoregion ein Vorbild schlechthin für Europa werden. In gewissen Teilen ist es das bereits, aber da schlummert noch viel Potenzial. Spüren Sie unter dem neuen Landeshauptmann Arno Kompatscher keinen frischen Wind? Da geht es nicht um den Landeshauptmann alleine. Politik ist ein komplexes, mühsames Geschäft. Und es steht mir nicht zu, den Südtirolern Ratschläge zu erteilen. Aber es liegt für meinen Geschmack derzeit eine Aura der Ohnmacht über Südtirol. Da gibt es eine ewige Debatte um den Flugplatz, beim Kaufhaus‐Projekt in Bozen kommt nach jahrelanger Diskussion nichts heraus, im Land der Seilbahnbauer versandet ein Seilbahnprojekt wie jenes in Brixen. Politische Verantwortung zu tragen, bedeutet, Entscheidungen zu treffen. Und dabei muss man den Mut haben, auch einmal Fehler zu machen. Ist Sprache Identität? Auch Sprache ist Teil der Identität, gerade in Südtirol. Hierzulande hat die Mehrsprachigkeit den Südtirolern geholfen, ihre eigene Identität zu ergänzen und anzureichern. Heute gereicht der Region zum Vorteil, was die Menschen damals, als es ihnen oktroyiert wurde, massiv abgelehnt haben. Gerade diese Erkenntnis passt in die moderne Welt: Wir müssen die Herausforderungen, die auf uns hereinbrechen und die wir mitunter als Bedrohung für unsere Identität empfinden, akzeptieren und sie als Chance sehen. Wahrscheinlich zeichnet die Südtiroler diese Gabe ebenfalls aus. Es hat zwar lange gedauert, aber die Südtiroler haben es verstanden, eine Belastung als Chance zu begreifen und zu nutzen. Können Sie nachvollziehen, dass im mehrsprachigen Land Südtirol die Angst vor Experimenten im Sprachunterricht umgeht, weil solche die Muttersprache und damit zusammenhängend die Identität gefährden? Vielleicht lösen solche Experimente Irritationen aus, weil das Trauma der Italianisierung im Faschismus immer noch nachwirkt. Gleichzeitig muss man wissen, dass Mehrsprachigkeit nicht nur die Kommunikation mit mehr Menschen ermöglicht, sondern laut Hirnforschung die kognitive Entwicklung positiv beeinflusst, gerade bei Kindern und Jugendlichen, genauso wie das die Musik tut. Sprachliche Experimente bedrohen die starke Identität der Südtiroler sicher nicht. Und ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich die dreisprachige Bozner Uni als Leuchtturn betrachte. Würde ich nochmals Wirtschaft studieren, ich würde es lieber in Bozen als in München tun. Was mir außerdem auffällt, ist, dass in Südtirol zwar viel über die Mehrsprachigkeit und über den Schnittpunkt der Kulturen gesprochen wird, eine deutliche Trennung zwischen den Kulturen aber trotzdem nach wie vor wahrnehmbar ist. Interview: Christian Pfeifer Infobox Global Forum am 2. Oktober Der GFS‐Dialog zum Thema „Identität – das ambivalente Gut“ am Firmensitz von ewo in Kurtatsch auf Einladung von „Global Forum Südtirol“ war vergangene Woche sozusagen die Vorspeise zum siebten Global Forum Südtirol (GFS), das sich am Freitag, 2. Oktober, in der Freien Universität Bozen dem Thema „Südtirol 2030 – einzigartig oder austauschbar?“ annimmt. Hauptredner sind dann David Bosshart, Geschäftsführer des Gottlieb Duttweiler Institut (GDI), und Matthias Tauber, Partner bei Boston Consulting Group. Nachdem das Global Forum Südtirol im vergangenen Jahr erörtert hat, was Südtirol von den wirtschaftlich erfolgreichen Schweizer Kantonen lernen kann, geht es diesmal darum, wie Südtirol seine Besonderheiten – vor dem Hintergrund von Megatrends – zu Chancen für die Zukunft machen kann. Gründer und Veranstalter des Global Forum Südtirol ist Christian Girardi. SWZ Südtiroler Wirtschaftszeitung 3315besondereralsandere 2 / 3 Informationen: www.globalforum‐suedtirol.com SWZ Südtiroler Wirtschaftszeitung 3315besondereralsandere 3 / 3
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