BVV-Sitzung „Soziale Stadt“ auf der Wiesenburg vom 14.Oktober 2015, 18 Uhr Ort: Tanzhalle BVV Soziale Stadt Sehr geehrte Damen und Herren der Bezirksverordnetenversammlung des Ausschusses „Soziale Stadt“, ich begrüße Sie im Namen des Vereins „Die Wiesenburg e.V.“ auf der Wiesenburg. Ich freue mich, dass Sie im Rahmen dieses Ausschusses den Weg zu uns gefunden haben und diesen besonderen Ort etwas kennenlernen können. Bei der Führung konnten Sie schon Einiges erfahren – nun möchte ich allen noch einmal einen kurzen Überblick über diesen sozial und kulturell gewachsenen Ort und unsere Vision der Wiesenburg geben. Im Jahre 1896 entstand hier nach ca. einem Jahr Bauzeit das größte und modernste Obdachlosenasyl der Welt für 700 Männer -1907 wurde es für 400 Frauen und Kinder erweitert. Damals in der am stärksten expandierenden Stadt Europas, wuchsen Not und Wohlstand in der Stadt zeitgleich auf immense Weise. Die Gründungsmitglieder des Berliner Asyl Vereins mit dem Arzt Rudolf Virchow, dem Mitbegründer der SPD Paul Singer, den Industriellen Borsig und Bolle u.a. sahen sich in der Pflicht der Not, die das Wachsen der Metropole Berlin mit sich brachte, mit Selbstlosigkeit zu begegnen und etwas von dem zurück zu geben, was erwachsen war. Erstmals wurden hier die Obdachlosen mit Würde behandelt und mit Offenheit und Fürsorge umgeben. Jeder Obdachlose bekam eine warme Mahlzeit am Abend und ein kleines Frühstück am Morgen. Man war anonym hier, Religion spielte keine Rolle und die Polizei hatte keinen Zutritt. Das Asyl, das teilweise autark existierte - mit eigenem Wärmekraftwerk und einem 100 m tiefen Brunnen, setzte in der seuchenanfälligen Stadt durch moderne Betten, das Desinfizieren und Waschen der Kleidung, die Möglichkeit zum Duschen und Baden der Asylisten und einer innovativen Heiz- und Belüftungstechnik weltweit neue Standards. Schnell nannte der Volksmund im Kiez diesen Ort „die Wiesenburg“ – prominente Künstler und Schriftsteller entdeckten den besonderen Charme des Ortes – Kurt Tucholsky, Rosa Luxemburg, Erich Kästner, Hans Fallada und der Hauptmann von Köpenick (Wilhelm Voigt) nächtigten in den Schlafsälen aus zeitweiser Not oder aus Interesse bzw. Recherchegründen für die neuesten Werke in den Schlafsälen. Filme wie „M- eine Stadt sucht einen Mörder“ oder „Der Vagabund“ wurden in den 20iger/ 30iger Jahren gedreht. Die jüdische Gemeinde wurde Hausherr und Mitte der 30iger okkupierten die Nazis die Wiesenburg, siedelten Rüstungs- und Propagandaindustrie an und versuchten die soziale und jüdische Vergangenheit vergessen zu machen. In den letzten Tagen des Krieges wurden große Teile des Asyls von Brandbomben zerstört – wohnungslose Familien zogen in das ehemalige Verwaltergebäude, so auch die Nachfahren einer der Stifter, welche den Berliner Asyl Verein fortführten und bis zum Jahr 2014 die Hausverwaltung inne hatten. In den 70iger und 80iger Jahren entdeckten weitere Filmemacher diesen verwunschenen und zauberhaften Ort. Schlöndorff drehte hier die Szenen der Reichskristallnacht für seinen oscarprämierten Film „Die Blechtrommel“, Fassbinder drehte auf der Wiesenburg Szenen aus „Lilli Marleen“, Ballmann Szenen für seine ZDF-Fallada-Serie „ein Mann will nach oben“, Filme wie „Tadellöser und Wolf“, „Fabian“, „Der Gehilfe“ und „Die Buschow's“ fanden hier den perfekten Drehort. Familie Dumkow öffnete das Asyl in den vergangenen Jahrzehnten nach und nach für Handwerker, Kleinbetriebe und Künstler. Nachdem Joachim Dumkow 15 Jahre lang große Flächen der Ruine beräumte und somit nutzbar machte, entdeckten immer mehr Künstler verschiedenster Couleur die Wiesenburg als Projektionsfläche. Zahllose Ausstellungen, Fotoshootings, Tanzperformances, Filmdrehs, Konzerte und Kunstworkshops fanden hier statt. In Zusammenarbeit mit dem Quartiersmanagement Pankstr. wurde seit 15 Jahren eine Öffnung und ein Ausbau der Wiesenburg vorangetrieben. 2010 wurde diese Tanzhalle erbaut. Entstanden aus den Visionen von Einigen, wurde hier durch Eigeninitiative und EU-Mittel ein Ort des interkulturellen und internationalen Austausches für Tanz geschaffen. Das besondere Engagement der Familie gilt bis heute aber auch vor allem den Schülern mehrerer Schulen im Kiez, welche „Grüne Klassenzimmer“, Workshops und unterschiedlichste Veranstaltungen auf der Wiesenburg erleben durften, die teilweise von Vertretern der Politik wie Wolfgang Schäuble kuratiert wurden. Auf der Wiesenburg waren für die Kinder andere Dinge als Herkunft, Status und Religion wichtig. Hier gab es eine Offenheit für die Bedürfnisse, Verständnis für die Schwächen und durch das besondere Miteinander wirkten die Aktivitäten, Erlebnisse und Erfahrungen an diesem Orte auf sie besonders nachhaltig. Im vergangenen Herbst hat die Degewo das Gelände übernommen und mit Verweis auf die fehlende Verkehrssicherheit, wurde im April 2015 ein Großteil des Grundstücks gesperrt und somit die soziale und kulturelle Nutzung zum größten Teil beendet. Die Wiesenburg war bis zu diesem Zeitpunkt zu einem lebendigen Kulturort Berlins gewachsen, der die Tanzhalle, ein vollausgestattetes Tonstudio, zwei metallverarbeitende Kleinbetriebe beherbergt. Es gibt Ateliers einer britischen Bildhauerin, eines schwedischen Malers, eines Produktdesigners und eines Holzbildhauers mit einem aus 80000 Teilen bestehenden Pharaonenbett. Zudem haben wir Imker, welche mit ihren Asyl-Bienen Wiesenburger Honig und Met herstellen. Auf dem Gelände leben und arbeiten Musiker, Filmemacher, Bildhauer, Maler, Metallverarbeiter, Tänzer, Imker, Produktdesigner nebeneinander und miteinander, welche sich in den vergangenen Jahrzehnten ihre Orte durch eigenes Engagement, viel Geld und große Mühen aufgebaut haben - in Räume, die teilweise vorher nur Ruinen waren, wie dieser Raum. Die Menschen die hier arbeiten, wurden national und international ausgezeichnet für ihre Projekte, genießen in ihren Bereichen große Anerkennung und sind vielfältig vernetzt - miteinander und außerhalb der Wiesenburg. Nach einem sehr holprigen Start ist es nun gelungen mit der Degewo einen Dialog zu beginnen. Gestern gab es ein erstes Gespräch. Daraus ergab sich, dass die Wohnungsbaugesellschaft diesen Ort sukzessive sanieren will. Nach hingebungsvollen Verhandlungen wurde erreicht, dass die Wiesenburger am Prozess der Weiterentwicklung beteiligt werden. Wir hoffen dass diese Beteiligung wirklich mitbestimmender Natur ist. Signalisiert wurde uns, dass man mit uns auf Augenhöhe umgehen werde. Über die von uns angeregte Zwischennutzung der Sammelhalle, um die Wiesenburg auch während der Planungsphase zu aktivieren, wird nachgedacht und es wurde uns versprochen, dass dies mit in das Werkstattverfahren der Architektenbüros einfließt. Dieser Ort muss wieder zum Leben erwachen! Leider konnte man uns keine Zusagen zu den Ateliers und Werkstätten der Gewerbetreibenden geben. Wir Wiesenburger haben uns zu einem Verein zusammengeschlossen, um nicht nur gemeinsam als starke Stimme aufzutreten und für den Bestand jedes Einzelnen einzustehen. Wir haben das Ziel die Wiesenburg wieder als Teil der Infrastruktur an den Kiez anzuschließen und in ihr die sozialen und kulturellen Bedürfnisse zu erfüllen, die hier gebraucht werden. Es geht darum, in enger Zusammenarbeit mit dem Quartiersmanagement, eine Öffnung des Ortes zu schaffen - für Kulturschaffende und ihr Publikum, für die Themen nachhaltiger Gesundheit, die kulturelle Bildung, für das Thema Obdachlosigkeit und die Kinder und Jugendlichen im Kiez, die sich hier heimisch fühlen. Fast 30 % der Weddinger Bevölkerung war 2013 18 und jünger, 63 % haben einen Migrationshintergrund, ca. 10 % sind arbeitslos, 41 % beziehen Transferleistungen. Die neue zukunftsfähige Wiesenburg soll an seine Wurzeln anknüpfen und die Eigenschaften ihrer unterschiedlichen Phasen der Geschichte und ihres Ursprungs wiederspiegeln: Ganzheitlich, sozial, kulturell und offen. Sie soll ein Wiesenburgmuseum, eine Veranstaltungshalle für den Kiez, Bereiche zur nachhaltigen Obdachlosen- und Gesundheitsbetreuung, Ateliers und Studios für Künstler, ein grünes Klassenzimmer und Räume für nachbarschaftliche Begegnungen beherbergen. Wir Wiesenburger sind mit unserem künstlerischen, architektonischen und intellektuellen Know-How die Experten für diesen Ort und wissen, was notwendig ist, um diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Alles das, was von sozialer und kultureller Interaktion im Kiez z.B. im Brunnenviertel angestrebt wird, hat sich auf der Wiesenburg schon seit Jahren etabliert - Offenheit und Partizipation sind Schlagworte, die diesen Ort gut beschreiben. Auf dem internationalen Kongress „Players of change“ für innovative Stadtentwicklungsideen am vergangenen Samstag wurde unsere Vision ausgewählt und wir konnten diese unterschiedlichen Menschen (Politikern, Stadtentwicklern, Projektförderern und Institutionen) vorstellen und trafen auf große Befürwortung und Unterstützung für unsere Idee. Wir wollen diesen Ort zu einem Leuchtturm im Wedding machen und ihn in der Tradition der Stifter und der Verwalterfamilie Dumkow bewahren - ein Ort an dem nicht nur die Türen geöffnet werden, sondern auch die Herzen. Der regierende Bürgermeister Michael Müller sagte im Tagesspiegel am 10.10.: Die Hauptstadt wird besonders durch ihr kulturelles Leben und ihren kulturellen Anspruch wahrgenommen. Vieles von der positiven Entwicklung Berlins haben wir der Kultur zu verdanken. Die Verdrängung der kleineren Kulturakteure, in einer teuren, touristischen City ist eine Gefahr – und die große Aufgabe der Berliner Politik, nicht nur der Kulturpolitik. Wir müssen die Stärken der Stadt erhalten. Das ist wahnsinnig schwer. Wenn wir über unser Zusammenleben reden, geht es um Kiezkultur, die Freie Szene. Grün ist für eine wachsende Stadt genauso wichtig wie Gewerbe und Wohnungsbau, wir brauchen Kitas und Gesundheitseinrichtungen. Die Künstler brauchen ihre Freiräume. Wie gesagt, Berlin macht eben auch das Unfertige, das Freie aus. Sie, die Politiker sind die Abgeordneten der Bevölkerung. Bitte helfen Sie uns zu erreichen, dass niemand von hier vertrieben wird und wir die Möglichkeit bekommen, diesen Ort auf Augenhöhe nachhaltig mit weiterzuentwickeln für den Kiez – für Berlin! Ein überlieferter Satz aus Zeiten des Asyls ist unser Leitspruch: „Die Wiesenburg wird so lange stehn, bis dass die Welt mag untergehn.“
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