Die Burg der Armen

Berlin
DON N ERSTAG, 27. AUGUST 2015
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
23
Die Burg der Armen
AUFWERTUNG Mehr als ein Jahrhundert lang bot die Weddinger Wiesenburg Obdachlosen ein Dach über dem Kopf und Künstlern
wie Schülern einen Ort für Kreativität. Seit November 2014 gehört das Gelände der Degewo. Seither steht der Kulturbetrieb still
VON MATTHIAS BOLSINGER
Osloer
Straße
lst
ra
ße
150 m
Pa
n
ke
W
ie
er Str.
se
ns
Wiesenburg
nk
Pa
WEDDING
str
aß
e
Nauener
Platz
endorf
ker und Filmemacher. Volker
Schlöndorff drehte dort Szenen
der Reichs­pogromnacht für die
„Blechtrommel“, Rainer Wer­
ner Fassbinder nutzte die Ku­
lisse für „Lili Marleen“ und „Ein
Mann will nach oben“. Bis heute
ist das Gelände an der Panke
Arbeitsplatz und Treffpunkt
für ­Filmemacher, Tänzer und
Maler.
Auch für Kinder und Jugend­
liche ist die Wiesenburg zu­
gänglich. Im Jahr 1999 öffnete
Familie Dumkow das Gelände
für SchülerInnen aus den um­
liegenden Schulen, wie für die
Humboldthain-Grundschule.
Schulfeste fanden hier statt,
Schüler durften in Zelten über­
nachten. Vor allem aber soll­
ten sie lernen können. Regel­
mäßig kamen Klassen, um den
ansässigen Imkern oder Kunst­
handwerkern über die Schulter
zu gucken. Die Wiesenburg, ein
großes Klassenzimmer. „In ge­
wisser Weise ist der Ort immer
Reinick
Die Räume, die Dumkow jahre­
lang für Künstler sowie für Schü­
lerInnen aus dem Quartier be­
reitgestellt hatte, sind seither
nicht mehr begehbar. Das kul­
turelle Leben der Wiesenburg ist
zum Erliegen gekommen. Der
Dreh eines Kinofilms, ein mehr­
tägiges Filmfestival, Gartenfeste
für Schüler, Ausstellungen und
Konzerte – alles musste abge­
sagt werden. Die meisten Ate­
liers und ein Tanzstudio sind
weiterhin begehbar. Nicht aber
der Garten und große Teile der
Ruine. Das sind mehr als zwei
Drittel des Areals. „Erst wurde
den Kindern und Künstlern die
Wiesenburg genommen“, sagt
Dumkow enttäuscht, „und jetzt
geht nichts voran.“
Die 76-Jährige, wohnt hier seit
Jahrzehnten. Tiefe Stimme, wa­
cher Blick, großes Herz – mit no­
bler Note. Ihre Familie hat das
ehemalige Verwaltungsgebäude
auf dem Gelände mit eigener
Hand renoviert. Sie hat den Ort
geprägt wie vielleicht niemand
anderes. Jetzt fühlt Dumkow
sich ohnmächtig. Man merkt,
dass ihr etwas fehlt. Seit der
Sperrung vor mehr als vier Mo­
naten ist den „Wiesenburgern“,
Familie Dumkow und den gut
20 aktiven Künstlern, ihre Mis­
sion abhandengekommen: für
den Kiez da zu sein.
Dabei steckt genau das in der
DNA des Gebäudes. Es war schon
immer eine Antwort auf die so­
ziale Frage. 1895 wurde es vom
Berliner Asyl-Verein erbaut. Paul
Singer, Mitbegründer der SPD,
der Mediziner Rudolf Virchow,
der Unternehmer August Borsig
und andere hatten den Verein
gegründet. Berlin war Europas
größte Industriestadt. Obdach­
lose, Wanderarbeiter, Erntehel­
fer, Dienstmädchen fanden in
dem Asylneubau in der Wiesen­
straße, mitten im „roten Wed­
ding“, einen Ort zum Schlafen,
Essen und Waschen. Hier waren
sie geschützt – und so nannten
sie das Asyl „Wiesenburg“.
Während der Weimarer Re­
publik hielten sich unter ande­
ren Rosa Luxemburg, Kurt Tu­
cholsky, Heinrich Zille und ­Erich
Kästner hier auf – teils aus Not,
teils zu Recherchezwecken. 1926
wurde das Gelände an die Jüdi­
sche Gemeinde verpachtet, 1935
rissen es die Nationalsozialis­
ten an sich, eine Fahnendrucke­
rei zog ein. Brandbomben zer­
störten in den letzten Tagen des
Zweiten Weltkriegs die Gebäude.
Anna-Christin Dumkow ist
die Urenkelin eines Vereins­
gründers. Sie wollte die Tradi­
tion der Wiesenburg wieder auf­
leben lassen. 1961 re­aktivierte
die damals 22-Jährige den Ver­
ein, sammelte Kleidung für Be­
dürftige und bot Menschen ein
Obdach, die an die Tür der Wie­
senburg klopften.
Nach und nach öffnete
Dumkow
die
Wiesenburg
auch für Künstler, Handwer­
hu
Stillstand auf dem Gelände
1895 wurde die Wiesenburg vom Berliner Asyl-Verein erbaut. Zu den Gründern des Vereins gehörten Rudolf Virchow und August Borsig Foto: Miguel Lopes
Sc
Hier muss es oft laut gewesen
sein. Die Tausende Obdachlo­
sen, die Ende des 19. Jahrhun­
derts hier wohnten. Die Bom­
ben, die im Zweiten Weltkrieg
hier fielen. Die Musik, die die
Ruine bei Konzerten erfüllte.
Jetzt ist es still geworden in der
Wiesenburg, im Norden Berlins,
am Ufer der Panke.
Nur der Lärm der vorbeirat­
ternden Züge hallt noch zwi­
schen den roten Backsteinwän­
den. Von der Straße aus sieht
das Gebäude aus wie eine Fa­
brik. Von Nahem erkennt man:
Es fehlen Dächer, Schutt liegt in
so mancher Ecke. Pflanzen klet­
tern an den Wänden empor. Ein
Gelände, wie aus der Zeit gefal­
len. Eines, über das schon viel
geschrieben wurde und von
dem trotzdem noch nicht alles
erzählt ist.
Vieles könnte noch gesche­
hen – wären da diese Zäune
nicht. Das Geschehen rund um
die Wiesenburg ist ins Stocken
geraten. War’s das? Oder geht es
weiter? Und falls ja – wie?
All diese Fragen treiben An­
na-Christin Dumkow seit Lan­
gem um. Genauer gesagt. seit
November 2014, seit die kom­
munale Wohnungsgesellschaft
Degewo das rund 12.500 Qua­
dratmeter große Areal besitzt.
Anfang April sperrte die De­
gewo weite Teile des Geländes
ab. Ein baustatistisches Gutach­
ten hatte ergeben, dass in eini­
gen Bereichen der Wiesenburg
Einsturzgefahr besteht.
tra
ße
Humboldthain
Wedding
taz.Grafik: infotext-berlin.de
ein Asyl geblieben“, sagt Dum­
kow. „Heute eben für Kinder,
Kreative und soziale Projekte.“
Das kommt an im Kiez.
„Die Wiesenburg spielt hier
eine große Rolle“, sagt Sükran
Altunkaynak vom Quartiers­
­
manage­
ment Pankstraße. Die
meis­ten Menschen im Quartier
haben einen Migrationshinter­
grund. Die Arbeitslosenquote
Anna-Christin Dunkow, Urenkelin eines der Wiesenburg-Gründer, öffnete das Gelände für Künstler Foto: M. Lopes
liegt bei 10 Prozent, 41 Prozent
der Bewohner beziehen Trans­
ferleistungen. Die Wiesenburg
sei eine kulturelle Oase in einer
vergleichsweise armen Gegend
mit nur wenig Orten, von de­
nen sich das Quartiersmanage­
ment Impulse für die Kiezent­
wicklung erhofft. „Fragt man die
Kiezbewohner, wem die Wiesen­
burg gehört, sagen sie: Uns!“, er­
zählt Altunkaynak. „Die Schul­
kinder empfinden sich dort als
Hausherren.“
Schutz vor dem Verfall
Mit der Teilsperrung ist es da­
mit erst einmal vorbei. Wie es
weitergeht, ist unklar. Nach ei­
nem jahrzehntelangen Rechts­
streit zwischen den Dumkows
und dem Land Berlin gehört das
Gelände der Degewo. Das Woh­
nungsunternehmen selbst sieht
sich als Retter der Wiesenburg.
Die denkmalgeschützten Ge­
bäude wolle man vor dem Ver­
fall schützen. Außerdem wolle
man die Nutzerinnen und Nut­
zer nicht vertreiben, teilte ein
Sprecher im April mit, sondern
mit ihnen ein Konzept entwi­
ckeln.
Doch das kann dauern. Erst
gegen Ende des Jahres will die
Degewo in einem Werkstattver­
fahren mit Architektur- und Pla­
nungsbüros ein Standortkon­
zept entwickeln. Das wird, so
lässt Projektleiterin Cordula Fay
durchblicken, sowohl Wohnun­
gen als auch gewerbliche und
gemeinschaftlichen Nutzungen
einschließen. In welchem Um­
fang und in welcher Form, steht
noch nicht fest. Zwar betont die
Degewo, sie sei auf dem Gelände
nicht auf Profit aus. Aber kann
sich das Unternehmen ein Mil­
lionengrab leisten? Bislang be­
deutet das Gelände für die De­
gewo nur eines: Ausgaben.
Die Wiesenburger sind da­
her skeptisch. Sie bangen um
die Zukunft ihres Raumes.
Umso mehr, als sie sich ausge­
schlossen fühlen. „Der Dialog
findet leider nur auf dem Pa­
pier statt“, beklagt Anna-Chris­
tin Dumkow. „Seit dem ersten
offiziellen Treffen im Mai gab
es keine ernsthaften Gespräche
mehr“, erklärt Robert Bittner.
Der Regisseur und Schauspieler
lebt und arbeitet in der Wiesen­
burg. Mit anderen Künstlern hat
er den Wiesenburg e. V. gegrün­
det, der das Gelände und seine
Menschen nach außen vertreten
will. „Wir wollen gern zur Her­
stellung der Verkehrssicherheit
für eine Zwischennutzung bei­
tragen“, sagt er, „bisher wurden
unsere Vorschläge dazu leider
nur abgelehnt“.
Von den Wohnungsplänen
der Degewo hält man in der
Wiesenburg wenig. Man könne
zwar verstehen, dass das Unter­
nehmen die Kosten für die In­
standsetzungsarbeiten wieder
reinholen wolle – aber Woh­
nungen? „Wir würden die Wie­
senburg lieber weiter für nach­
barschaftliche und soziale Akti­
vitäten im Quartier öffnen“, sagt
Bittner. Daher wolle man aktiv
am Werkstattverfahren teilneh­
men und seiner Stimme Gehör
verschaffen. Lauter, aber „mit
Contenance“, sagt Dumkow. Die
Ruhe auf dem Gelände soll end­
lich ein Ende haben.
Die Wiesenburg
■■ Das Obdachlosenasyl an der
Wiesenstraße war das landesweit
größte: Bis zu 1.100 Menschen
konnten dort bis zu viermal
im Monat übernachten und
bekamen ein Frühstück und eine
warme Mahlzeit am Abend. Die
1895 erbaute Wiesenburg war
wohl auch das fortschrittlichste
Asyl seiner Zeit: eigene Stromversorgung, eigener Brunnen – das
Gebäude war autark. Religion
spielte dort gar keine Rolle.
■■ Besonders progressiv im
­seuchenanfälligen Berlin war
die Wiesenburg auch in Sachen
Hygiene. Die Wäsche der Gäste
wurde desinfiziert, es gab moderne Betten, man konnte duschen
und baden. (mat)