Predigt zu Jes. 66,13 „Ganz bei Trost“ / Jahreslosung 2016 von

Predigt zu Jes. 66,13 Kreuzberg 3.1.2016, Zepernick 10.1.2016 „Ganz bei Trost“ / Jahreslosung 2016 von Thomas Steinbacher S. mit Kind, Gerhard Richter 1995, 41 cm x 36 cm, Werkverzeichnis 827-­2, Öl auf Leinwand siehe: https://www.gerhard-­richter.com/de/art/paintings/photo-­paintings/mother-­and-­child-­15/s-­with-­child-­
8129/?&categoryid=15&p=1&sp=32 2 „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ (Lutherbibel) „Gott spricht: Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten.“ (Bibel in gerechter Sprache) Liebe Gemeinde, Unter den vielen – zum Teil ziemlich kitschigen – Plakaten und Postkarten zur Jahreslosung hebt sich für mich dieses Bild besonders positiv ab. „Evangelische Frauen in Deutschland e.V.“ hat es als Postkarte und Plakat zur Jahreslosung herausgegeben unter dem Titel: „Urvertrauen“. Eine Mutter, die ihr Baby, ein Neugeborenes, im Arm hält… Eine weiche, himmelblaue Decke wärmt den Rücken des nackten Babys… Niedlich, oder? … Süß! Das Ur-­Bild der Einheit von Mutter und Kind wird hier zitiert. Wir denken vielleicht gleich noch einmal an Weihnachten zurück: Maria mit dem Jesuskind -­ 1000fach dargestellt in der Kunstgeschichte, hier eben als modernes Madonnenbild… Oder: Es könnte auch das erste Foto eines neugeborenen Babys mit seiner Mutter sein, das ein stolzer Papa per Instagram oder (altmodisch!) per E-­Mail an alle Verwandten und Bekannten verschickt: „Ein neuer Erdenbürger ist da! Mutter und Kind sind wohlauf.“ Aber etwas stimmt mit diesem Foto nicht. Es ist nämlich unscharf, Schlieren ziehen sich über das Bild, besonders auf dem Gesicht der Mutter sind dadurch hässliche schwarze Flecken. 3 Nein, das ist nicht irgendein Babyfoto, das wir hier sehen, sondern eine Arbeit des zeitgenössischen deutschen Malers Gerhard Richter. Seine Bilder sind auf dem internationalen Kunstmarkt extrem gefragt und erzielen extrem hohe Preise. (… obwohl der Künstler selbst dies immer wieder als völlig absurd kritisiert!) Die Besonderheit der Bilder von Gerhard Richter ist, dass sie oft fotografisch genau gemalt sind (dieses Bild ist ein Ölbild!), dass sie aber anschließend verwischt und unscharf gemacht worden sind. Gerhard Richter wirft mit dieser „Ästhetik der Unschär-­fe“ immer wieder die Frage auf, „was ein Bild überhaupt wiedergeben kann, ob es einen Inhalt transportiert oder doch nur seine eigene verführerisch schöne Oberfläche darstellt.“1 So auch bei diesem Bild aus dem Jahre 1995, das als Illustration für unsere Jahreslosung 2016 ausgewählt wurde. So ein niedliches, herzerwärmendes Mutter-­Kind-­Bild, wie wir alle es schon tausendfach gesehen und mit „Ach wie süß!“ kommentiert haben, das wird uns auf einmal als „unscharf“ vor Augen gestellt, mit Schlieren und Schrammen. Das stört unsere Sehgewohnheiten und unsere Denkgewohnheiten, vielleicht ver-­
stört es uns sogar ein wenig. Und wir kommen ins Nachdenken, vielleicht auch über eine so eingängige und liebliche Jahreslosung wie die von 2016: „Gott spricht: Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten.“ Jes 66,13 Diese Jahreslosung hat es nämlich in sich. Sie geht tiefer als unser erster Blick… Fragen stellen sich: Was bedeutet es, dass Gott „wie eine 1
http://www.hamburger-­‐kunsthalle.de/archiv/seiten/unscharf.html 4 Mutter“ tröstet? Was löst eine solche Rede, ein solches Bild von Gott bei uns aus? Brauche zum Beispiel ich als erwachsener Mann solchen mütterlichen Trost eigentlich noch? Und was ist mit denjenigen unter uns, die Probleme mit diesem hohen Ideal von Mütterlichkeit haben? Die vielleicht zur eigenen Mutter ein eher problemati-­sches Verhältnis haben? Was bedeutet die Jahreslosung für solche unter uns? Die Ausgabe des Magazins DER SPIEGEL vom 19.12.2015 trug den provozierenden Titel: „Sind Väter die besseren Mütter?“ Schon dieser Titel macht deutlich, dass die anscheinend unumstößlichen Rollenbilder von Müttern und Vätern gar nicht so sicher sind. Für manchen von uns war vielleicht wirklich der Vater die bessere Mutter… Oder der Opa. Oder die große Schwester. Oder eine Pflegemutter… Entscheidend ist wohl, dass es für jedes Menschenkind Bezugspersonen gibt, die am Anfang unseres Lebens das in uns geweckt haben, was man „Urvertrauen“ nennt, jemand, der uns hilft, auf eigenen Füßen zu stehen, und der uns tröstet, wie eine Mutter trösten kann. Unscharf ist das Bild mitunter, mit Schlieren und Schrammen. Aber in der Tiefe ein Bild des Trostes. Trostlose Zeiten waren es damals in Judäa – dabei hatten die Propheten doch Trost und Heil versprochen, die Heimkehr in blühende Landschaften! Jahrzehntelang hatte das Volk Gottes im Exil in Babylon festgesessen. Als sie nun heimkehren durften nach Jerusalem, machte sich Ernüchterung breit. Trümmer statt blühende 5 Landschaften! Verarmung und Schuldknechtschaft für viele -­ statt Freiheit und Aufbruch. Im letzten Drittel des Jesajabuches -­ aus dem unsere Jahreslosung stammt – wird deutlich, dass auch nach der Rückkehr der Exilierten viele Menschen des Trostes bedurften. Unrecht und Ungerechtigkeit zerstörten das Zusammenleben, die Gesellschaft war tief gespalten. Doch Gott lässt über seinen Propheten ausrichten, dass Jerusalem bald ein Quell neuer Hoffnung werden wird. Und dass er selbst sich auf ganz unerhörte Weise seiner Kinder annehmen will: „Wie eine Mutter tröstet, so will ich euch trösten.“ Jes 66,13 Liebe Gemeinde, wir alle haben unsere eignen Erfahrungen mit Vater und Mutter. Kinder waren und sind wir alle. Und wir bleiben Kinder -­ unser ganzes Leben lang – selbst wenn wir schon lange erwachsen sind, vielleicht schon alt -­ und selbst dann, wenn unsere Eltern schon gestorben sind. Und viele von uns sind ja selbst Vater oder Mutter... Wir wissen: wahrscheinlich prägt einen Menschen nichts so sehr wie die Beziehung zu seinen Eltern. Und bei jeder und jedem von uns sind sofort bestimmte Bilder präsent, wenn die Wörter „Vater“ oder „Mutter“ fallen: -­ die Bilder vom Vater, der entweder da war für uns oder ständig abwesend… , der sich um uns gekümmert hat oder nichts mit uns anzufangen wusste... -­ Oder eben die Mutter, die streng war und jähzornig, deren Streicheleinheiten man sich verdienen musste … oder die liebevoll war und nachgiebig, die sich sorgte und uns half, die auf die Wunde pustete und „Heile, heile Segen!“ flüsterte, wenn das Knie aufgeschürft war… 6 -­ Und wenn wir krank waren, haben sich vielleicht Vater und Mutter abgewechselt und am Bett Wache gehalten. Wohl dem Kind, das ungefähr solche Eltern hatte. Denn sie haben uns zutiefst geprägt, die Bilder aus der Kindheit. Und sie bestimmen bis ins Altwerden unsere Wahrnehmungen und Gefühle, unser Hören und unser Reagieren – bis hinein in unseren Glauben, bis hinein in unser Bild von Gott. Liebe Gemeinde, wenn ich in unser Glaubensbuch schaue, die Bibel, dann finde ich da alle möglichen Gottesbezeichnungen: der Allmächtige, der Retter, der Schöpfer, der König, der Richter und so weiter. Schließlich beginnt mit Jesus etwas Neues. Er redet Gott als seinen Vater an. „Abba, lieber Vater“! Jesus hat damit eine ganz neue Dimension in die Rede von Gott und mit Gott gebracht. Gott ist nicht mehr die entfernte Macht, vor der Ehrfurcht die einzig angemessene Haltung ist. Jesus betont nicht mehr die große Distanz zwischen Gott und Mensch, sondern es kommt eine Nähe, eine Vertrautheit in die Sprache, die es so vorher nicht gegeben hat. Jesus redet von Gott wie von einem Menschen, den man lieben kann. Gott – ein guter Vater, ein liebender Vater, einer, an den du dich wenden kannst mit dem, was dich bewegt oder gar belastet: Das war neu. Und so befreiend! Und nun, unerwartet und überraschend, finden wir eine ganz andere Bezeichnung für Gott -­ und das mitten im Alten Testament, das doch angeblich vor allem den strafenden Gott predigt. 7 Falsch! Gott ist auch im AT nicht nur der Richter, nicht mehr nur der Mächtige, der kommt, um die Gefangenen Israels zu befreien. Er ist nicht mehr nur der, vor dem alle Wege begradigt und alle Berge eingeebnet werden müssen – weil er der König aller Könige ist. Nein, da klingen ganz andere Töne an. „Gott spricht: ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes. 66,13). Liebe Gemeinde, auch das ist neu – ganz neu. Vielleicht sogar für uns heute?! Vor diesem Gott musst du keine Furcht haben, vor ihm musst du dein Haupt nicht verbergen. Vielmehr kannst du deinen Kopf in ihrem Schoß bergen. Nicht Gott, der König, nicht der Herr der Heerscharen, nicht einmal der Vater. Nein, tatsächlich und auch wenn das in unser gelerntes Bild vielleicht nur schwer hineinpasst: Gott die Mutter, Gott die tröstet. Gott, die reagiert: auf Schmerz, auf Trauer, auf Einsamkeit, wenn wir nicht verstanden werden, oder wenn wir verspottet werden, oder wenn unsere Hoffnung zuschanden wird und wir enttäuscht oder traurig sind. Gott, die reagiert mit Nähe, mit einem heilsamen Wort, mit einer sanften Berührung, mit einer Perspektive, die wir vorher nicht gesehen haben. „ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes. 66,13). Liebe Gemeinde, vorhin hatte ich gefragt, ob denn ich als Erwachsener solchen mütterlichen Trost überhaupt noch brauche? 8 Intressanterweise müsste man den hebräischen Originalltext so übersetzen: „Wie ein Mann von seiner Mutter getröstet wird, so will ich euch trösten.“ Es ist also gar nichts Kindlich-­Infantiles gemeint… Ich stelle mir eher das Bild eines erwachsenen Menschen vor, für den die alte Mutter oder der alte Vater immer noch Worte der Weisheit und Gesten des Trostes übrig haben… Wohl dem, der solche Eltern hat. „Gott spricht: ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ (Jes. 66,13). Liebe Schwestern und Brüder, das ist also die Jahreslosung für dieses neue Jahr. Wenn wir uns umschauen nach hinten und nach vorn, dann sehen wir eine Welt, die „nicht mehr ganz bei Trost“ zu sein scheint. Ach Gott, die Welt hat so viel Trost nötig: -­ Die, die einen geliebten Menschen verloren haben. -­ Die, die gesundheitlich so sehr beeinträchtigt sind, dass sie ihr Leben, wie sie es kannten, nicht mehr weiterführen können. -­ Die, die eine Arbeitsstelle und damit auch soziale und wirtschaftliche Sicherheit suchen. -­ Die, die vor Krieg und Gewalt fliehen und ihre Heimat verlassen und auf ungesicherten Wegen in eine unbekannte Zukunft ziehen müssen. -­ Die, deren Seelen Angst quält – egal woher die kommt. -­ Die, deren Gemüt von Schwermut und Depression befallen wird, immer wieder. 9 Trost haben viele, viele unter uns nötig, noch viel mehr Menschen und aus noch viel mehr Gründen als ich hier nennen kann. Gut, wenn dann jemand da ist, der sich kümmert. -­ Freunde, die zuhören und nicht gleich alles wegreden wollen, weil sie selbst das Elend nicht aushalten. -­ Geschwister, die die Tür aufmachen. -­ Eltern für ihre Kinder oder Kinder für ihre Eltern. -­ Väter anders als Mütter und Mütter anders als Väter. -­ Alte Menschen mit ihrer Lebenserfahrung und Weisheit -­ aber auch Kinder, die mitunter schon sehr genau spüren, wo Trost nottut. Und dann eben Gott: so überraschend damals, dass mit seinem Namen das feine Gespür für Trostsituationen verbunden wurde. Die mütterliche Seite Gottes. Die behutsame, ja die zärtliche Seite Gottes, die wir so oft verschweigen und verdrängen. Gott, die Trösterin will gar nicht mehr alles erklären. Sie weiß, dass wir Menschen manches nicht erklären und nicht verstehen können – auch nicht erklären oder verstehen müssen. Aber sie weiß um unseren Schmerz, unseren Kummer, unsere Ängste angesichts von Verlusten oder einer Zukunft, die unsicher ist. Echter Trost heißt ja nicht: „alles nicht so schlimm“, sondern: „du wirst weiterleben können.“ So ist er, unser Gott. So ist sie. Und ich sage das mit „er“ oder „sie“ nicht, weil es modern wäre 10 oder weil ich damit an liebgewordenen Sprachregeln kratzen wollte – einfach so, zum Spaß. Ich sage es deshalb, weil mir immer wichtiger wird: Wir können Gott nie ganz erfassen, immer wieder ist das Bild unscharf. Wir werden mit Gott immer wieder aufs Neue vor Überraschungen stehen – Unerwartetes erleben. Und es ist gut, wenn wir das erkennen und in unseren Glauben hineinlassen, so wie es zum Beispiel auch Gerhard Schöne gemacht hat, der einen neuen schönen Text für das alte Lied geschrieben hat: Nun danket alle Gott. Wir singen es gleich nachher. Ja, Gott ist Vater und Mutter, Schöpfer und Vollender, allmächti-­
ger Herr und schutzbedürftiges Kind, gerecht und barmherzig, mahnend und trostreich. Gott will in unser Leben hinein: zu den Zeiten, in denen es uns gut geht und wir voller Lebenskraft und Selbstvertrauen sind. Aber eben genauso – und vielleicht sogar noch mehr – wenn wir Trost brauchen, guten Zuspruch, die mütterliche Seite Gottes. Die Bilder unseres Glaubens sind mitunter unscharf, mit Schlieren und Schrammen, wie das Bild von Gerhard Richter. Aber in der Tiefe sind es Bilder des Trostes. Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht trostlos sein. Weil Gott in Jesus Christus selber unsere Schlieren und Schrammen auf sich genommen, erlitten und überwunden hat, deshalb sind wir „ganz bei Trost“. 11 Und am Ende wird Gott abwischen alle Tränen von unseren Augen. Und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein;; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron sitzt, spricht: Siehe, ich mache alles neu! (nach Offenbarung 21,4-­5) Amen.