»Mit unablässigem und souveränem poetischen Charme überwindet Dževad Karahasan die Grenzen von Ländern, Zeiten, Kulturen und Religionen.« Aus der Jurybegründung zur Vergabe des Ehrenpreises der Heinrich-Heine-Gesellschaft »Ein großer europäischer Schriftsteller, der auf die Kraft des Erzählens vertraut.« »Ein erzählerisches Meisterwerk über Blüte und Zerfall eines islamischen Reiches.« www.suhrkamp.de/karahasan Der neue Roman des bedeutendsten bosnischen Autors der Gegenwart Ein erzählerisches Meisterwerk über Blüte und Zerfall eines islamischen Reiches »Mit der Geschichte will man immer etwas«, schrieb Alfred Döblin über das Verfassen historischer Romane. Die Zweideutigkeit des Begriffs Geschichte ist beabsichtigt. Auch Dževad Karahasan, der bedeutendste bosnische Schriftsteller der Gegenwart, will etwas, wenn er den persischen Dichter, Mathematiker und Astronomen Omar Chayyam zur Hauptfigur seines neuen Werkes macht und uns in den Vorderen Orient des 11./12. Jahrhunderts entführt. Rasch gesagt sei, was Karahasan nicht will: eine Romanbiographie, eine nacherzählende, ausschmückende Lebensgeschichte. Er hat die persischen und arabischen Quellen und die maßgebliche historische Forschung studiert. Doch er lässt dieses Wissen nur ahnen, versteckt seine Quellen. Außer zwei Chayyam-Gedichten und Lektüren seines Helden – zum Beispiel das Buch der Genesung von Ibn Sina, den der Westen als den Aristoteliker Avicenna kennt – wird nicht direkt zitiert.Auch den Großwe- Karahasan ist ein hinreißender Erzähler von Liebesgeschichten. Das kurze Glück, das den beiden und ihrer kleinen Tochter beschieden war, durchstrahlt den gesamten Roman. Ihr tragisches Ende, der Zerfall des Staates, der um sich greifende religiöse Terrorismus treiben Chayyam in die Einsamkeit. Er zieht sich nach Nischapur, in seine Geburtsstadt, zurück. Nach Jahrzehnten der Trauer taucht ein junger Bosnier auf, Vukac, der am Kinderkreuzzug teilgenommen hatte. Der alte Mann nimmt ihn zu sich, lehrt ihn die Sprache – und am Ende erweist sich Vukac als Erzähler all dessen, was wir bisher gelesen haben. Oder doch nicht? Sein Manuskript existierte jahrhundertelang in der Bibliothek von Sarajevo, bis es im August 1992 den Flammen zum Opfer fiel. Überdauert hat es im Gedächtnis eines Emigranten, der sich in Norwegen an die Arbeit der Rekonstruktion macht.… Dževad Karahasan 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, Erzähler, Dramatiker und Essayist. Die Belagerung Sarajevos war Thema seines in zehn Sprachen übersetzten Tagebuchs der Aussiedlung (1993), des Essaybands Das Buch der Gärten (2004) und seiner beiden Romane Schahrijârs Ring (1997) und Sara und Serafina (2000; st 4521). Es folgten der Roman Der nächtliche Rat (2006), der Erzählungsband Berichte aus der dunklen Welt (2007) und der Essayband Die Schatten der Städte (2010). Für sein Werk wurde der Autor vielfach ausgezeichnet. Karahasan lebt in Graz und Sarajevo. Über das Buch Von der Kraft der Liebe, der Ohnmacht der Vernunft und dem Versuch, das Verlorene in die Erinnerung zu retten. Elf Jahre lang hat der bosnische Autor an seinem Roman über Omar Chayyam und den Niedergang einer blühenden islamischen Kultur gearbeitet. Manche Passagen nehmen auf verstörende Weise Schreckensszenarien vorweg, wie sie sich heute in Irak und Syrien abspielen. Dennoch: Ein beklemmend schönes Buch, voller Humor und funkelnder Intelligenz. Ein großer europäischer Schriftsteller, der auf die Kraft des Erzählens vertraut. Die Mongolen unter Hulagu-Khan erobern 1256 die Festung Alamut, einst Zentrum der Nizariten, der ersten Suizidattentäter der Geschichte. Marco Polo nannte ihren Anführer Hassan i-Sabbah den »Alten vom Berg«, seine Sekte die Assassinen. sir Nizam al-Mulk lernen wir nicht als den herausragenden Staatsmann der islamischen Welt und Autor einer Schrift über die Staatskunst kennen, sondern als Chayyams Freund aus Schultagen: als klugen Gesprächspartner und vorausschauenden ›Reichskanzler‹, der seinem Sultan vergeblich rät, einen Nachrichtendienst zu gründen, um einer Gefahr von innen zu begegnen. Mit den Augen seiner Figuren lässt Karahasan uns die Welt sehen, in der diese Leute zu Hause waren, und vielleicht ist es einfach dieses geniale erzählerische Verfahren, das uns tief hineinzieht in eine Epoche, die hinterrücks eine unheimliche Ähnlichkeit mit unserer eigenen offenbart. In Isfahan verliebt sich Omar Chayyam in die Tochter eines Mannes, dessen rätselhaften Tod er aufklären sollte. Er kommt zu dem Schluss, dass er vergiftet wurde. Aber durch wen? Chayyams akribische Recherchen erzeugen eine Atmosphäre obsessiver Verdächtigungen, erweisen sich als menschlich zerstörerisch, aber erfolgreich. Würde er seiner Liebsten sagen, wer ihrem Vater das Gift verabreicht hat, wäre ihre gerade aufkeimende Liebe am Ende. Wie also weiterleben? Ein typisches Dilemma Chayyams. Er behält die Wahrheit für sich. Ab 2. Februar 2016 im Buchhandel! ˇ Der arabische Philosoph Ibn Sina (Avicenna), 980-1037, und der persische Dichter Omar Chayyam, 1048-1131. Literatur kommuniziert mit ihrer Zeit, ob sie will oder nicht. Zwischen dem Zerfall des Nahen Ostens, den wir heute erleben, und dem Zerfall des Seldschukenreiches gibt es verblüffende Parallelen. Man spürt, dass das Buch in Sarajevo entstanden ist, dieser fragilen europäisch-orientalischen Stadt, wo die Spuren einer sich radikalisierenden Religiosität beängstigend sichtbar werden – ausgerechnet in der bosnischen Hauptstadt, die einmal als Inbegriff eines liberalen europäischen Islam galt. Dževad Karahasan Der Trost des Nachthimmels Roman Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber Etwa 724 Seiten. Gebunden ca. € 26,95 (D)/€ 27,70 (A) (978-3-518-42531-2) ´ Die Vijecnica, Prunkstück der österreichischen Architektur im pseudomaurischen Stil. Das Rathaus war seit 1947 Sitz der Nationalbibliothek in Sarajevo. Ein Bild aus der Spätzeit Jugoslawiens, Ende der 80er Jahre. »Mich interessiert die innere Wahrheit meiner Figuren.« könne. Chayyam wünschte sich ein Observatorium und ein Stipendium, das ihm ermöglichte, in Ruhe Astronomie und Mathematik zu studieren. Beides bekam er. Hassan-i Sabbah wünschte sich die Macht in der unzugänglichen Festung Alamut, um dort die Vereinigung zu gründen, von der er träumte. Der GroßEin Gespräch zwischen Dževad Karahasan und seiner Lektorin Katharina Raabe wesir erfüllte auch ihm seinen Wunsch. Chayyam, so erzählt die Legende, bedankte sich bei seinem Wohleinander im weiteren Leben beizustehen: Der Erste, täter mit einer Reihe von Büchern, u.a. zur MathemaKatharina Raabe: Die Hauptfigur deines Romans heißt der zu Macht, Einfluss und Reichtum käme, wäre tik, vor allem aber mit dem besten Kalender, den die Omar Chayyam. Was hat dich an ihm fasziniert? verpflichtet, den beiden anderen seinen MöglichWelt je gesehen hat. Der dritte Schulfreund, Hassan-i Wann und wo bist du ihm und deinen anderen Prokeiten entsprechend zu helfen. Als Nizam al-Mulk, Sabbah, gründete in der Festung Alamut den ismailititagonisten zum ersten Mal begegnet? schen Orden der Nizariten, der sich mit seinen Attentaten auf herausragende Persönlichkeiten verewigte. Dževad Karahasan: Schon in meiner Studienzeit hat »In einer Welt, in der man nicht einfach Er dankte es seinem Freund und Wohltäter, indem er mich Chayyams Poesie fasziniert. In den Vierzeilern, seine Meinung sagen darf und Spontanität als ihn zum ersten Opfer seiner Attentäter erwählte. den Rubayyat, gelingt es ihm, die tiefste Verzweiflung Ich glaube nicht, dass diese Legende viel mit den auszudrücken, die man überhaupt empfinden kann, gefährlich gilt, war es besonders wichtig, Tatsachen zu tun hat. Der Altersunterschied zwiaber fast immer mit so viel Humor, dass den Leser zuauch mal Momente der Vertrautheit zu finden, schen den Personen ist zu groß. Aber seit ich sie kengleich das Grauen und das Lachen überkommt - jenes Humor, Überraschung.« ne, fasziniert mich ihre innere Wahrheit. Sie zeigt mir Lachen, von dem Platon spricht, ein Lachen, das in drei Grundformen, drei Prinzipien des menschlichen Selbsterkenntnis aufgeht. Ein Gedicht von Chayyam der Älteste von ihnen, Großwesir des SeldschukenDaseins. Nizam al-Mulk kann als Vertreter des konrichtet sich zum Beispiel an einen Töpfer mit der Bitreichs geworden war, erinnerte er sich an seine Schulservativen Prinzips gelten. Er nimmt an, dass die Welt te, den Ton, aus dem er einen Krug formt, zärtlicher freunde, rief sie zu sich und fragte, was er für sie tun gut ist, und sieht die Aufgabe des Menschen darin, zu kneten, weil der Ton einmal ein Mädchengesicht möglichst viel in dieser Welt zu war, dem junge Männer nachgebewahren, zu verbessern und zu seufzt haben und dessentwegen veredeln. Hassan-i Sabbah, der sie gestorben sind. Nicht einmal Jüngste der drei, steht für das rebei Shakespeare, in der Friedhofsvolutionäre Prinzip. Er will eine szene im Hamlet, findet sich ein völlig neue Welt schaffen. Das so konzentrierter Ausdruck, der Prinzip, das Omar Chayyam verVerzweiflung und Humor, der tritt, könnten wir das philosophiLachen und Aufschrei eins wersche oder künstlerische nennen: den lässt. Er will die Welt nicht beherrschen Damals habe ich auch die und fühlt sich auch nicht dazu bewunderbare Legende von den drei rufen, sie zu verbessern oder neu Schulfreunden gehört, die kurz zu formen. Er bemüht sich, die nach Chayyams Tod entstanden Welt zu verstehen. So ist es auch sein muss. Sie erzählt, Nizam mit den Menschen – der Konseral-Mulk, Omar Chayyam und vative bemüht sich, sie zu verHassan-i Sabbah seien die besbessern, der Revolutionär richtet ten Absolventen der berühmten über sie, und Chayyam, der DichSchule von Muwaffak in Nischater und Gelehrte, bemüht sich, sie pur gewesen. Vor dem Ende ih- Am 25. August 1992 ging die Bibliothek unter dem Beschuss durch die bosnischen Serben in Flammen auf. zu verstehen. rer Schullaufbahn schworen sie, Mehr als 2 Millionen Manuskripte und Bücher verbrannten. Die Kuppel der Imam-Moschee in Isfahan aus dem 16. Jahrhundert. »Die Kunst kann sich gegen die Wirklichkeit auflehnen, zu der wir verurteilt sind, sie kann ein Mittel sein, das uns hilft, unserer Begegnung mit der Welt Form zu geben.« der Verzweiflung Ausdruck, von der wir alle erfüllt sind, ich, die Leute um mich herum, die Welt, zu der wir verurteilt sind... Die Distanzierung durch Humor hilft mir, dem Entsetzen eine Form aufzuzwingen, Hier Chayyams unvergleichliche Dichtung, dort die Legende von den drei Schulfreunden – dieser doppelten Faszination muss das Bedürfnis entsprungen sein, irgendwann darüber zu schreiben. KR: Wie verlief die Arbeit? DK: Ich denke, der Roman begann während der Belagerung Sarajevos Gestalt anzunehmen, als ich durch die unmittelbare Erfahrung entdeckte, wie nah Lachen und Verzweiflung beieinanderliegen. Sie sind in unserem Leben unauflösbar ineinander verwirkt und verflochten. Damals habe ich mit Schauspiel- und Regiestudenten gearbeitet, wir mussten Theatervorstellungen unter ganz besonderen Bedingungen auf die Beine stellen – ohne Wasser und Strom, ohne Schminke und Kulissen, ohne speziell für diese Inszenierung genähte Kostüme und ohne Beleuchtung, die geholfen hätte, eine eigene Stimmung zu erzeugen. Es galt zu arbeiten, zu polemisieren, zu diskutieren, Anweisungen zu geben, und all das nach der wahnsinnigen Freude, die ich jedes Mal empfand, wenn ich sah, dass die Studenten zum Unterricht erschienen waren. Das Warten auf sie war ja von der panischen Angst erfüllt, sie könnten auf dem Weg zur Schule getötet werden. Ich redete den Studenten zu, Komödien auszuwählen – unter den Bedingungen, unter denen wir lebten und arbeiteten, das einzig Sinnvolle. Warum hätten wir auf der Bühne die unerträgliche Wirklichkeit wiederholen sollen? Die Kunst kann sich gegen die Wirklichkeit auflehnen, zu der wir verurteilt sind, sie kann ein Mittel sein, das uns hilft, unserer Begegnung mit der Welt Form zu geben, sie kann ein Instrument sein, durch das wir uns selbst und andere Menschen verstehen und erkennen, aber sie soll keine pleonastische Wiederholung der Wirklichkeit sein, das darf sie nicht, wenn sie relevante Kunst sein will. Nachdem wir einige Monate so gearbeitet hatten, begriff ich, dass ich mich die ganze Zeit um genau das bemühte, worauf es Chayyam in seiner Poesie angekommen war: Mit Humor versuche ich Distanz zu mir selbst und zu der unerträglichen Welt herzustellen, weil sich dank dieser Distanz das Leben und die Welt leichter ertragen lassen, und gleichzeitig gebe ich Erste Seite von Ibn Sinas (Avicennas) Kitab al-Qanun fi’t-tibb, seinem Kanon der Medizin. 1025 vollendet, wurde es zum Grundlagenwerk der wissenschaftlichen Medizin. ohne die Unmittelbarkeit des Aufschreis zu verlieren. Chayyam war die ganze Zeit da, bei uns, mit uns, er sprach zu uns und sprach über uns. Damals war mir das nicht bewusst, aber heute zweifle ich nicht daran, dass Der Trost des Nachthimmels schon damals in mir zu arbeiten begann. KR: Kannst du etwas zu deiner Erzähltechnik sagen? Wer erzählt da überhaupt? DK: Ich denke, die Erfahrung, die ich während der Belagerung Sarajevos gemacht habe, hat mir geholfen, den Grundton des Romans zu finden, seine Atmosphäre zu erahnen. Aber sie hat auch die Erzähltechnik bestimmt. Ich musste eine Technik finden, die die Unmittelbarkeit des Ausdrucks, wie sie das Erzählen in der ersten Person erlaubt, bewahrt; der Aufschrei muss etwas von seiner Aufrichtigkeit und Kraft behalten, gleichzeitig muss ich Distanz zu den Gestalten und zum Geschehen aufbauen. Anders sind Humor und (Selbst-)Erkenntnis im Lachen nicht möglich. All diesen Anforderungen kann ein auktorialer Erzähler natürlich nicht genügen. Ich brauchte eine in sich paradoxe Erzählinstanz, die ich während der Arbeit für mich »skeptischer allwissender Erzähler« genannt habe. Er muss etwas vom »allwissenden Erzähler« haben, um das Innenleben der Gestalten ausdrücken zu können, muss aber zugleich ausgesprochen skeptisch sein, um von außen beobachten, Abstand wahren, verstehen und zweifeln zu können. Das war vor allem für den zweiten Teil des Romans, Der Duft der Angst, wichtig, der ein spezifisches »Anti-Epos« oder ein »umgekehrtes Epos« darstellt. Im Gegensatz zum klassischen Epos, das von der Entstehung einer Gemeinschaft erzählt, geht es hier um den Zerfall einer Gemeinschaft und ihrer Welt. Dennoch muss die Erzähltechnik sich etwas von der Erzähltechnik des Epos aneignen, weil sie ein breites Bild der Epoche liefern soll, wie es sich für ein richtiges Epos nun mal gehört. Dabei kann unser Erzähler natürlich kein echter »Epiker« sein, weil er kein Angehöriger der Gemeinschaft ist, von deren Entstehung das Epos handelt, er ist auch kein Angehöriger der im Zerfall begriffenen Gemeinschaft. Er ist ein Fremder, ein distanzierter Beobachter, der sich zu verstehen bemüht, was sich vor seinen Augen abspielt, so dass er die ganze Dramatik des Geschehens sieht, aber auch seine komischen Seiten mitkriegt. Dieser Erzähler ist dabei nie sicher, ob er recht hat, ob wahr ist, was er sich überlegt hat, ob alles, was er gesehen und durch »Die Erfahrung, die ich während der Belagerung Sarajevos gemacht habe, hat mir geholfen, den Grundton des Romans zu finden.« logisches Denken erkannt hat, die einzig mögliche Sicht ist. Er weiß in jedem Augenblick, dass sich alles, was er sieht, aus einer anderen Perspektive völlig anders darstellt. Dass das, was ihm tragisch erscheint, auf einen anderen Blick womöglich urkomisch wirkt. Aber ich bin bei der Arbeit an einzelnen Episoden auch auf konkrete Schwierigkeiten gestoßen. Ich erinnere mich zum Beispiel dankbar an die wertvolle Hilfe eines Ernährungswissenschaftlers bei der Lösung eines zentralen Problems: die Vergiftung von Mirchond im ersten Teil des Romans. Als mein werter Gesprächspartner Hans Konrad Biesalski und ich uns im Wissenschaftskolleg in Berlin trafen, standen bereits einige Dinge fest: Ich wusste, dass Mirchond vergiftet werden soll, dass Chayyam das Geheimnis der Vergiftung lüften, sprich den Mörder finden muss, dass die Lösung des Rätsels auf den physiologischen Kenntnissen seiner Epoche basieren muss (die Instrumente zur Lösung des Rätsels müssen ihm die Schriften seiner Lehrer Ar-Razi, Ibn Sina und anderer liefern). Außerdem muss Chayyam am Ende begreifen, dass seine Entdeckung keinerlei Nutzen bringt, weil sie reine Information ist und niemandem hilft. Aber das Vergiften selbst war ein unlösbares Problem für mich. Wie wurde Mirchond vergiftet? Womit? Über einen Monat lang suchten Hans Konrad und ich nach einem Gift, das ein Nahrungsmittel ist. Er schlug mir Pfirsichsamen vor, ein Kraut, das beinahe genauso aussieht und duftet wie ein populäres Gewürz, Safran ... Er konsultierte auch seine Kollegen vom Institut, an dem er arbeitet, so dass ein ganzes Team von Wissenschaftlern darum bemüht war, den armen Mirchond zu vergiften. Am Ende gelang es uns. Mirchond starb an Botox, einem Gift, mit dem die Leute im Westen heutzutage ihre Falten bügeln. Ich erinnere mich noch lebhaft an unsere Freude, als wir diese konnotationsreiche, aktuelle und kulturhistorisch verbürgte Lösung gefunden hatten. Die Festung Alamut (Adlernest) im unzugänglichen Bergland zwischen den iranische Küstenprovinzen Mazandaran und Gilan und dem Irak. gebaut sei. Ich sah ihn bestürzt an, als hätte er den Verstand verloren. Doch heute würde ich ihm recht geben, ich glaube, diese Traumata sind in den Roman eingezogen und haben bei seiner Gestaltung mitgewirkt, wie wenig ich mir dessen auch bewusst war. KR: Bereits in deinem Roman Schahrijars Ring (1997) bestimmte die Rekonstruktion eines verlorenen bzw. zerstörten Manuskripts die Architektur des Werkes. Hier ist das wieder der Fall. Es ist, wie du KR: Am Ende stellt sich der Roman als der irrwitzige Versuch heraus, etwas über Jahrhunderte Verlorenes aus dem Gedächtnis wiederherzustellen. Verstehst du das Erzählen als Ars memoriae? DK: Ob und wieweit dieses Erzählen etwas Verlorenes wiederherstellt, ist eine schwierige, ich fürchte, unbeantwortbare Frage. Oft denke ich, mein Erzählen kann gar nichts anderes sein als Gedächtniskunst, eine spezifische Art des Erinnerns. Was ist das Erzählen anderes als ein Denken und Erinnern in Formen? Einzig durch Erzählen können wir gewisse komplexe Das Mausoleum für Omar Chayyam, 1963 errichtet. Nischapur, Iran. Phänomene verstehen und vollsagtest, ein Lieblingsmotiv aller Manieristen und ständig behalten, deshalb erklären wir uns zum BeiPostmodernisten. Doch deine Bibliothek brennt spiel die Entstehung grundlegender Existenzformen wirklich, die Zerstörung deiner Manuskripte ist immer mit einem Mythos. kein Motiv, sondern du hast diese Katastrophe am eigenen Leibe erfahren. Ist deine Besessenheit von der Form eine Antwort auf diese Zerstörung? »Mein Erzähler weiß in jedem Augenblick, dass sich alles, was er sieht, aus einer anderen Perspektive völlig anders darstellt.« Gelingt es dem Erzählen wenigstens teilweise, das Verlorene zu rekonstruieren? Ich weiß es nicht. Zumindest rettet es das Verlorene vor dem Vergessen, und zwar ohne Vereinfachung, in seiner ganzen Komplexität. Unlängst fragte mich ein Freund, ob das Trauma des Zerfalls Jugoslawiens und der Zerstörung des bosnischen Kulturmosaiks in diesen Roman ein- DK: Ich bin tatsächlich besessen von der Form, wie alle Leute, die die klassische Literatur lieben und im Kopf tragen. Ich habe nichts gegen Literatur, die auf Form verzichtet oder sie absichtlich zerstört. Sie interessiert mich nur einfach nicht. Wie könnte jemand, der wie ich vom Theater besessen ist, etwas gegen das Spiel haben?! Aber weder das Theater noch mich interessiert ein Spiel, das keine Emotionen weckt und an sich bindet. Gute Kunst hat ja immer etwas von einem Spiel. Aber es ist ein Spiel, in dem wir uns selbst befragen, in dem wir uns sogar selbst in Frage stellen. »Meine Romane sind ein Mosaik, zusammengefügt aus den Steinchen, zu denen die einstigen Monolithen zerfallen sind.« Ein Spiel hingegen, das des Risikos und der Emotion entbehrt, interessiert mich nicht, es mag Spaß und Vergnügen sein, aber ich habe niemals geglaubt, dass es sich lohne, das Leben um des Vergnügens willen zu ertragen. Deshalb muss ich die Motive meiner Erzählkompositionen mit Emotion und Leidenschaft, Erinnerung und Schmerz aufladen ... Warum sollte ich mich mit einem Manuskript befassen, das mir nichts bedeutet, warum sollte ich nach ihm suchen und über ihm verrecken?! Wenn es mir etwas bedeutet, kann es nicht Gegenstand eines Spiels bar jeder Leidenschaft und jedes Risikos sein. Ein Spiel ist eine zu ernste Angelegenheit, als dass es jemals ganz harmlos sein könnte. Mir ist klar, dass auch mein Erzählen nicht ganz von seiner Entstehungszeit losgelöst bleiben konnte. Eine starke Leidenschaft unserer Epoche ist die Zerstörung der Form, und diese Zerstörung wird auch in meinem Erzählen reflektiert. Sosehr ich mich um die Form meiner Romane bemüht habe, sie zeigen den Zerfall, die Zerstreuung der Form, sie parodieren den klassischen Roman nahezu. Meine Romane sind keine Monolithen, aufgebaut um einen großen Helden, um ein Ereignis, mit dem sich das Erzählen befasst, solange es jenes nicht aus allen Perspektiven beleuchtet, um eine große Idee ... Sie sind ein Mosaik, zusammengefügt aus den Steinchen, zu denen die einstigen Monolithen zerfallen sind. Dagegen hilft weder Wissen noch Wollen, die Literatur spricht mit ihrer Zeit, auch wenn der Autor es nicht will. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber Dževad Karahasan Der Trost des Nachthimmels Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber Leseprobe Ein unklarer Verlust C hayyam irrte durch die Stadt, ohne zu wissen, wohin er ging, und ohne wirklich wahrzunehmen, wo er sich befand, aber eiligen Schrittes, als rennte er hinter irgendetwas her, so dass er irgendwann schweißnass war. Als er erschöpft innehielt, war er in einem ihm unbekannten Stadtteil, offensichtlich einem der neugebauten Stadtviertel, in denen die armen Leute wohnten, die in die Städte strömten, Lohnarbeiter, die mit Leder, Papier und Seife arbeiteten, alte städtische Familien, die verarmt waren und dorthin hatten umziehen müssen, wo das Leben weniger kostete, ausgediente Soldaten, die von ihren Ersparnissen lebten und dorthin gingen, wo ihre Ersparnisse am längsten hielten. Jene, die das Glück hatten, anderswo zu wohnen, nannten solche Siedlungen spöttisch Schlafzimmer, weil es in ihnen meist nicht einmal Wächter gab, dort gab es außer einer Moschee und mancher neuen, in der Regel armseligen Schule nichts, was sie zu einem Stadtteil machen würde. Die Bewohner solcher Siedlungen übernachteten in ihren Häusern, und am Morgen, gleich nach dem Morgengebet, gingen sie in die Stadt, um Arbeit und Lebensunterhalt zu suchen, und ließen in den Häusern nur jene zurück, die krank waren, im Sterben lagen oder zu jung waren, um eine Arbeit zu bekommen. Er blieb mitten auf der Straße stehen, um Atem zu holen und sich zu fassen, wobei er sich auf der Stelle drehte, damit der trockene Wind, ein unerträglicher heißer Wind, der den ganzen Tag nicht einen Augenblick aufgehört hatte, seine Kleidung trocknete. Er versuchte, sich an sein Umherirren in der Stadt zu erinnern. Aus Gewohnheit hatte er sich, wie ein Hund, zur Baustelle des Observatoriums aufgemacht, war aber vorher abgebogen und einen anderen Weg gegangen. Er erinnerte sich, dass er auch unweit seines Hauses gewesen war, nur etwa fünfzig Schritte entfernt. Der Körper war einfach in die Richtung gegangen, die er gewohnt war, wo ein Ziel oder ein Grund hätten liegen können. Eine Zeitlang hatte er auch vor dem Haus seines armen Freundes Sali gestanden, ziemlich lange übrigens, war aber nicht hineingegangen. Warum, wusste er nicht, genauso wenig wie er wusste, was ihn dort hingeführt hatte. Im Haus hätten ihm keine Begegnungen gedroht, keine Schwierigkeiten, Sali hatte hier niemanden, so wenig wie er, Chayyam, selbst. Vielleicht war das der Grund für ihre Nähe gewesen, gewiss war es eine der Grundlagen dafür gewesen, dass sie sich so gut verstanden hatten, was ihnen bereits bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war – beide waren hier allein, waren Teil eines ungeheuren Heeres von vereinzelten Menschen, die diese Stadt überschwemmten, Menschen ohne Vorfahren und Verwandte, sie waren derart allein, dass sie manchmal auf die Idee kommen konnten oder sogar mussten, sie hätten sich selbst geboren. Die Empfindsameren unter ihnen erkannten sich auf den ersten Blick, so wie er und Sali sich erkannt hatten, und zwischen ihnen entwickelte sich eine Nähe ohne wirkliche Freundschaft, eine seltsame Nähe bar aller Gründe und Freuden. Sie wussten nichts übereinander, verstanden sich aber vollkommen, sie hatten keinen Grund, miteinander zu verkehren, weil sie einander weder Freude noch Nutzen brachten, waren aber viel zusammen, wohl deshalb, weil sie sich ineinander wiedererkannten. Nicht nur diese Stadt, die ganze Welt war überschwemmt von solchen Menschen, einsamen Menschen in ständiger Bewegung. War es die Erinnerung an Sali, die das Gefühl völliger Einsamkeit hervorgerufen hatte, das ihn anbrandete und fast ertränkte, oder war dieses Gefühl von der Erinnerung an den Bruder in der Einsamkeit ausgelöst worden? Und warum dachte er, dieses Gefühl sei jetzt stärker und tiefer als je zuvor? Hatte sich sein Gefühl nur verstärkt, oder konnte die Einsamkeit wirklich größer, tiefer, umfassender werden? Ging es darum, dass er jetzt, nachdem ihn Suhrab unabsichtlich ausgelacht hatte, schwächer und verletzbarer war als sonst und auch seine Einsamkeit stärker empfand, oder hatte sich diese Einsamkeit in letzter Zeit wirklich vergrößert, irgendwie vervollständigt und offenbarte ihm das jetzt? Wie konnte sich Einsamkeit verstärken, war das logisch überhaupt möglich? Allein bist du, wenn du keinen vertrauten Menschen in deiner Nähe hast, kann sich also die Abwesenheit, das heißt das Nicht-Haben, verstärken und vergrößern? Logisch oder wenigstens mathematisch kann sie es, von Null aus kommt man weiter in die negativen Zahlen, in denen das Defizit bis zur Unendlichkeit anwachsen kann. War das bei ihm der Fall, war er bereits unter den negativen Zahlen? Die Einsamkeit eines Menschen, sagen wir, verstärkte und vervollständigte sich, wenn er anfing, wirklich all jene zu spüren, die er verloren hatte: Es ging nicht darum, dass er niemanden gehabt hätte, sondern darum, dass er jemanden verloren hatte. Und der, den du verloren hast, ist nicht einfach abwesend, er ist negativ anwesend, anwesend wie das starke Gefühl der Leere, des Mangels, des Entzugs. Alle Verluste, die dieser erlitten hatte, spürte er wirklich und konkret, wie seine Haut und seine Nägel, über dieses Gefühl war seine Einsamkeit angewachsen und hatte sich vervollständigt. Er hatte in der letzten Zeit zuerst Sali verloren, den ersten zufälligen Bekannten, dem er sich nach seiner Ankunft in Isfahan angenähert hatte. Und dann hatten seine unseligen Ermittlungen begonnen, die ihm Feridun, die ihm seinen lieben Freund und Kollegen in der Astronomie, Musaffer Samarkandi, nahmen, den er unlängst in einem Wutanfall beschuldigt hatte, für das Verschwinden astro-nomischer Instrumente verantwortlich zu sein. Die Ermittlungen hatten ihm zu Beginn die Sympathie von Suhrab und vor allem Fuzail und vielleicht eine gute Freundschaft mit ihnen in Aussicht gestellt, fast versprochen, aber sie schienen es ihm nur deshalb versprochen zu haben, damit er jetzt spüren konnte, dass daraus nichts geworden war und auch nichts werden würde. Allen Leuten, die er in den Gast- und Teehäusern kennengelernt hatte, mit denen er manchmal auch jetzt am selben Tisch saß, hatte er sich nun entfremdet. Nicht dass er angefangen hätte, die Leute als potentielle Verdächtige zu betrachten, aber etwas davon hatte es doch. Er war den Menschen gegenüber offen gewesen, war unter sie gegangen, hatte Gedanken und Gefühle empfangen und gegeben, wie er den Körpergeruch empfangen und gegeben hatte, aber das war ihm schon vor einer Weile abhanden gekommen. Während seiner unseligen Ermittlungen, genau gesagt. Am schlimmsten war vielleicht, dass er mit allen Menschen, die er verloren hatte, scheinbar normal sprach, dabei aber die Kluft spürte, die sie trennte. Musaffer hatte sich zum Beispiel entfernt, nachdem er ihn angeschrien hatte. Sie wohnten weiterhin im selben Haus, redeten miteinander, nachts beobachteten sie gemeinsam den Himmel. Aber es gab nicht mehr das, was er, Chayyam, den Trost des Nachthimmels genannt hatte. Wenn du den Nachthimmel lange genug beobachtest, begreifst du, dass jeder Stern allein und unendlich weit vom nächsten entfernt ist, aber dass sie alle einem Gesetz unterliegen und dass dieses Gesetz ihre Einsamkeit aufhebt. Es verbindet sie, stellt Beziehungen zwischen ihnen her, es beginnt ein Gespräch unter ihnen, selbst wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. So muss es auch mit den Menschen sein, hatten er und Musaffer philosophiert. Wir sind tatsächlich allein und jeder für sich, aber wir wissen, dass es ein Gesetz gibt, das uns verbindet, weil wir ihm alle unterliegen. Solange es existiert, solange es uns verbindet, sprechen wir mit unseren unbekannten Brüdern. In letzter Zeit, nach jenem Ausfall von ihm, hatten er und Musaffer zweimal zusammen den Nachthimmel beobachtet, aber sie hatten nicht so miteinander geredet. Sie hatten geredet, aber nicht so. Das hatte seine Einsamkeit wohl verstärkt und vervollständigt. Er spürte den Verlust eines jeden dieser verlorenen Menschen, wie man die Hand oder das Bein spürt, die man verloren hat. Und alles hatte mit Salis Weggang begonnen. War das die Einleitung zu den Ermittlungen gewesen, die ihn in absolute Einsamkeit hüllen sollten, oder waren die Ermittlungen und die Einsamkeit, zu der sie geführt hatten, Teil des Schicksals, das ihm bestimmt war? Es riecht nach Angst E ines Morgens tauchten auf dem Großen Platz plötzlich Vertriebene aus Mazandaran auf. Die Leute, die zum Morgengebet gingen, trafen vor der Weißen Moschee eine Gruppe von etwa fünfzig Menschen an mit einer dicken Staubschicht auf Kleidern, Gesichtern, Köpfen. Einige saßen auf dem Platz, ein paar lagen sogar herum und schliefen, aber die meisten standen da, mit dem Rücken an die Mauer des zur Moschee gehörenden Friedhofs gelehnt. Aber alle waren, ungeachtet der Stellung, in der sie den Tagesanbruch erwarteten, sichtlich erschöpft und am Ende ihrer Kräfte. Sie erzählten, Hassan-i Sabbah beziehungsweise seine Leute hätten sie vertrieben. Diese hätten praktisch die Macht in Mazandaran übernommen, vorerst eigentlich nur in der Gegend um Alamut, aber das Gebiet, das sie beherrschten, dehne sich täglich aus. Vor ungefähr einem Monat, vielleicht etwas mehr, hätten sie verkündet, in den Moscheen sei in der Predigt nach dem Freitagsgebet von nun an als Erstes Hassans Name zu erwähnen. Die Namen des Sultans und des Kalifen von Bagdad könnten die Imame der einzelnen Moscheen nennen, das verbiete ihnen niemand, aber sie müssten es nicht, vielleicht sei es sogar besser, sie nicht zu erwähnen, um die Leute nicht zu verwirren. Aber nach jedem Freitagsgebet müsse man um den Segen und das Glück von Hassan-i Sabbah beten. Diejenigen, die sich aufgelehnt hätten, seien gleich an Ort und Stelle von weiß gekleideten Burschen in Stiefeln und mit Brustgurten, gefertigt aus rotem Leder, niedergemetzelt worden. Doch diejenigen, die bereit seien, diese Verfügung zu achten, könnten ruhig in ihren Häusern bleiben, als wäre nichts geschehen. Von nun an würden sie ihre Steuern an die in Alamut residierende Macht zahlen und wenigstens jeweils einen Sohn zur Ausbildung in die Festung geben, alles andere bleibe, wie es gewesen sei. Alle, die sich diesen Verordnungen nicht beugen wollten, könnten gerne gehen und von ihrem Besitz mitnehmen, was in eine Tasche passe. haben sie sich herausgewunden. Sie bestechen ein wenig, wen man muss, und stellen sich ein wenig dumm, tun, als hätten sie etwas nicht verstanden, wo es ihrer Einschätzung nach helfen könnte, die Macht zeigt sich andererseits ein wenig nachgiebig und entspannt, sobald sie sich gefestigt hat, und ist bereit, ein Auge zuzudrücken. So findet man jenen Mittelweg, den die Menschen vom Land seit eh und je suchen und in der Überlistung der Macht finden, den Weg, der ihnen zu überleben ermöglicht und der Macht, ihre Pläne auszuführen. Sie hatten damit gerechnet, dass es auch dieses Mal, mit der neuen Macht, so sein würde, fast alle waren zu Hause geblieben und hatten darüber nachgedacht, wie sie sich arrangieren könnten. Bis sich die neue Macht zurechtgefunden hätte, bis sie die Haushalte und Besitzungen aufgelistet, die Kontrolle über die Dörfer und Städte erlangt hätte, würden die Leute schon einen Weg finden, ihre Söhne in Sicherheit zu bringen und sich mit den Vertretern der Macht über einen Ersatz, eine Strafe oder worüber auch immer zu verständigen. Aber es war nicht so, nicht einmal annähernd. Sie hatten genaue Listen der Haushalte und Besitztümer, die sie offensichtlich von jemandem aus der vorherigen Regierung bekommen hatten, so dass sie in jedes Haus mit dem genauen Wissen gingen, was und wen sie haben wollten. Und es gab keine Anzeichen, dass sie nachgiebiger werden und ihre Forderungen mäßigen würden, im Gegenteil, von Tag zu Tag verschärften sie ihren Ton und ihr Verhältnis zu den Untertanen. Die Abgesandten der neuen Macht kamen ins Haus, den Namen dessen kennend, den sie zur Ausbildung hinauf in die Festung mitnehmen wollten, wie sie auch auf den Dirhem genau wussten, was und wie viele Steuern sie vom betreffenden Haus eintreiben konnten. War der junge Mann, den sie zur Ausbildung mitnehmen wollten, nicht daheim, und hatten die Hausbewohner keine Ahnung, wo er sich befand und wann er zurückkommen könnte, ermordeten die Burschen in Weiß der Reihe nach alle Hausbewohner, weil sie ihr Verhalten als Auflehnung deuteten. Die Macht verkündete jeden Freitag nach dem Gebet, wen sie alles wegen Auflehnung oder Verrats umgebracht hatte, wobei sie wiederholte, dass jeder, der nicht hier leben wolle, gerne wegziehen könne. In dem Maße, wie die Zahl der ermordeten Familien wuchs, wuchs auch die Zahl derer, die bereit waren wegzugehen, und sei es unter den schrecklichen Bedingungen, welche die neue Macht diktierte. Aber wohin? Und wie? Am Ende war die Angst so groß, dass sich die Menschen auch das nicht mehr fragten, sondern in die Tasche stopften, was hineinpasste, und sich auf eine Reise ohne Ziel und Rückkehr machten. Ihre Gruppe zum Beispiel, die hier in Isfahan aufgetaucht war, bestand aus etwa hundert Familien. Die Kinder und Älteren hatten sie bei Verwandten, Freunden, Bekannten gelassen, überall, wo es überhaupt möglich war, während die Männer und erwachsenen Frauen, die noch bei Kräften waren, ja hierher kamen, um die Hilfe und den Schutz des Sultans zu suchen. Fast keiner ging im ersten Moment weg, weil die Leute hofften, sie würden sich irgendwie durchschlängeln und einen Mittelweg finden, um die neue Macht zu überlisten. Kein normaler Mensch gibt gern sein Zuhause auf, keiner lässt freiwillig sein von gutem Klima und Fruchtbarkeit gesegnetes Land zurück, wie in den Tälern um Alamut, und seit Gott und die Welt bestehen, sind die Menschen, die ihr Land bestellen, gezwungen, die Macht zu überlisten und einen Weg zu finden, mit ihr zurande zu kommen. Und immer Foto Dževad Karahasan: © Isolde Ohlbaum. Alle anderen Fotos: Die Besetzung von Alamut 1256, Dschami‘ at-tawarich von Raschid ad-Din (13. oder 14. Jahrhundert), Pictures from History / Bridgeman Images; Imaginäres Porträt von Avicenna, Öl auf Leinwand, Französische Schule / Bibliothèque de la Faculté de Médecine, Paris / Archives Charmet / Bridgeman Images; Omar Chayyãm, Privatsammlung / Bridgeman Images; Kanon der Medizin, Iranische Handschrift aus dem frühen 15. Jahrhundert, IAM / akg-images / National Institutes of Health / U.S. Department of Health; Das Mausoleum für Omar Chayyãm in Nischapur, Roger Wood / CORBIS. Wolkenmotiv: Vierzeiler von Omar Chayyãm, Abb.: Maksim, lizenziert über Wikipedia. Weitere Nachweise über das Archiv des Suhrkamp Verlags. © Suhrkamp Verlag AG, Pappelallee 78-79, 10437 Berlin. Preisänderungen und Lieferbarkeit vorbehalten. www.suhrkamp.de
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