Der Trost des Nachthimmels

»Mit unablässigem und souveränem poetischen Charme
überwindet Dževad Karahasan die Grenzen von Ländern,
Zeiten, Kulturen und Religionen.«
Aus der Jurybegründung zur Vergabe des Ehrenpreises der Heinrich-Heine-Gesellschaft
»Ein großer europäischer Schriftsteller,
der auf die Kraft des Erzählens vertraut.«
»Ein erzählerisches Meisterwerk
über Blüte und Zerfall
eines islamischen Reiches.«
www.suhrkamp.de/karahasan
Der neue Roman des bedeutendsten bosnischen
Autors der Gegenwart
Ein erzählerisches Meisterwerk über Blüte und Zerfall eines islamischen Reiches
»Mit der Geschichte will man immer etwas«, schrieb
Alfred Döblin über das Verfassen historischer Romane. Die Zweideutigkeit des Begriffs Geschichte ist beabsichtigt. Auch Dževad Karahasan, der bedeutendste
bosnische Schriftsteller der Gegenwart, will etwas,
wenn er den persischen Dichter, Mathematiker und
Astronomen Omar Chayyam zur Hauptfigur seines
neuen Werkes macht und uns in den Vorderen Orient
des 11./12. Jahrhunderts entführt. Rasch gesagt sei,
was Karahasan nicht will: eine Romanbiographie, eine
nacherzählende, ausschmückende Lebensgeschichte.
Er hat die persischen und arabischen Quellen und die
maßgebliche historische Forschung studiert. Doch er
lässt dieses Wissen nur ahnen, versteckt seine Quellen.
Außer zwei Chayyam-Gedichten und Lektüren seines
Helden – zum Beispiel das Buch der Genesung von Ibn
Sina, den der Westen als den Aristoteliker Avicenna
kennt – wird nicht direkt zitiert.Auch den Großwe-
Karahasan ist ein hinreißender Erzähler von Liebesgeschichten. Das kurze Glück, das den beiden und
ihrer kleinen Tochter beschieden war, durchstrahlt
den gesamten Roman. Ihr tragisches Ende, der Zerfall des Staates, der um sich greifende religiöse Terrorismus treiben Chayyam in die Einsamkeit. Er zieht
sich nach Nischapur, in seine Geburtsstadt, zurück.
Nach Jahrzehnten der Trauer taucht ein junger Bosnier auf, Vukac, der am Kinderkreuzzug teilgenommen hatte. Der alte Mann nimmt ihn zu sich, lehrt
ihn die Sprache – und am Ende erweist sich Vukac
als Erzähler all dessen, was wir bisher gelesen haben.
Oder doch nicht? Sein Manuskript existierte jahrhundertelang in der Bibliothek von Sarajevo, bis es
im August 1992 den Flammen zum Opfer fiel. Überdauert hat es im Gedächtnis eines Emigranten, der
sich in Norwegen an die Arbeit der Rekonstruktion
macht.…
Dževad Karahasan
1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, Erzähler, Dramatiker und Essayist. Die Belagerung Sarajevos war Thema seines in zehn Sprachen übersetzten Tagebuchs
der Aussiedlung (1993), des Essaybands Das Buch der
Gärten (2004) und seiner beiden Romane Schahrijârs
Ring (1997) und Sara und Serafina (2000; st 4521). Es
folgten der Roman Der nächtliche Rat (2006), der Erzählungsband Berichte aus der dunklen Welt (2007) und der
Essayband Die Schatten der Städte (2010). Für sein Werk
wurde der Autor vielfach ausgezeichnet. Karahasan lebt
in Graz und Sarajevo.
Über das Buch
Von der Kraft der Liebe, der Ohnmacht der Vernunft
und dem Versuch, das Verlorene in die Erinnerung zu
retten. Elf Jahre lang hat der bosnische Autor an seinem Roman über Omar Chayyam und den Niedergang
einer blühenden islamischen Kultur gearbeitet. Manche
Passagen nehmen auf verstörende Weise Schreckensszenarien vorweg, wie sie sich heute in Irak und Syrien abspielen. Dennoch: Ein beklemmend schönes Buch, voller
Humor und funkelnder Intelligenz. Ein großer europäischer Schriftsteller, der auf die Kraft des Erzählens
vertraut.
Die Mongolen unter Hulagu-Khan erobern 1256 die Festung Alamut, einst Zentrum der Nizariten, der ersten Suizidattentäter der Geschichte.
Marco Polo nannte ihren Anführer Hassan i-Sabbah den »Alten vom Berg«, seine Sekte die Assassinen.
sir Nizam al-Mulk lernen wir nicht als den herausragenden Staatsmann der islamischen Welt und Autor
einer Schrift über die Staatskunst kennen, sondern
als Chayyams Freund aus Schultagen: als klugen Gesprächspartner und vorausschauenden ›Reichskanzler‹, der seinem Sultan vergeblich rät, einen Nachrichtendienst zu gründen, um einer Gefahr von innen zu
begegnen. Mit den Augen seiner Figuren lässt Karahasan uns die Welt sehen, in der diese Leute zu Hause
waren, und vielleicht ist es einfach dieses geniale erzählerische Verfahren, das uns tief hineinzieht in eine
Epoche, die hinterrücks eine unheimliche Ähnlichkeit
mit unserer eigenen offenbart.
In Isfahan verliebt sich Omar Chayyam in die Tochter eines Mannes, dessen rätselhaften Tod er aufklären sollte. Er kommt zu dem Schluss, dass er vergiftet
wurde. Aber durch wen? Chayyams akribische Recherchen erzeugen eine Atmosphäre obsessiver Verdächtigungen, erweisen sich als menschlich zerstörerisch, aber erfolgreich. Würde er seiner Liebsten sagen,
wer ihrem Vater das Gift verabreicht hat, wäre ihre gerade aufkeimende Liebe am Ende. Wie also weiterleben? Ein typisches Dilemma Chayyams. Er behält die
Wahrheit für sich.
Ab 2. Februar 2016 im Buchhandel!
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Der arabische Philosoph Ibn Sina (Avicenna), 980-1037, und der
persische Dichter Omar Chayyam, 1048-1131.
Literatur kommuniziert mit ihrer Zeit, ob sie will
oder nicht. Zwischen dem Zerfall des Nahen Ostens,
den wir heute erleben, und dem Zerfall des Seldschukenreiches gibt es verblüffende Parallelen. Man spürt,
dass das Buch in Sarajevo entstanden ist, dieser fragilen europäisch-orientalischen Stadt, wo die Spuren
einer sich radikalisierenden Religiosität beängstigend
sichtbar werden – ausgerechnet in der bosnischen
Hauptstadt, die einmal als Inbegriff eines liberalen
europäischen Islam galt.
Dževad Karahasan
Der Trost des Nachthimmels
Roman
Aus dem Bosnischen
von Katharina Wolf-Grießhaber
Etwa 724 Seiten. Gebunden
ca. € 26,95 (D)/€ 27,70 (A)
(978-3-518-42531-2)
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Die Vijecnica,
Prunkstück der österreichischen Architektur im pseudomaurischen Stil. Das Rathaus war seit 1947 Sitz der Nationalbibliothek in Sarajevo. Ein Bild aus der Spätzeit Jugoslawiens, Ende der 80er Jahre.
»Mich interessiert die innere Wahrheit
meiner Figuren.«
könne. Chayyam wünschte sich ein Observatorium
und ein Stipendium, das ihm ermöglichte, in Ruhe
Astronomie und Mathematik zu studieren. Beides bekam er. Hassan-i Sabbah wünschte sich die Macht in
der unzugänglichen Festung Alamut, um dort die Vereinigung zu gründen, von der er träumte. Der GroßEin Gespräch zwischen Dževad Karahasan und seiner Lektorin Katharina Raabe
wesir erfüllte auch ihm seinen Wunsch. Chayyam, so
erzählt die Legende, bedankte sich bei seinem Wohleinander im weiteren Leben beizustehen: Der Erste,
täter mit einer Reihe von Büchern, u.a. zur MathemaKatharina Raabe: Die Hauptfigur deines Romans heißt
der zu Macht, Einfluss und Reichtum käme, wäre
tik, vor allem aber mit dem besten Kalender, den die
Omar Chayyam. Was hat dich an ihm fasziniert?
verpflichtet, den beiden anderen seinen MöglichWelt je gesehen hat. Der dritte Schulfreund, Hassan-i
Wann und wo bist du ihm und deinen anderen Prokeiten entsprechend zu helfen. Als Nizam al-Mulk,
Sabbah, gründete in der Festung Alamut den ismailititagonisten zum ersten Mal begegnet?
schen Orden der Nizariten, der sich mit seinen Attentaten auf herausragende Persönlichkeiten verewigte.
Dževad Karahasan: Schon in meiner Studienzeit hat
»In einer Welt, in der man nicht einfach
Er dankte es seinem Freund und Wohltäter, indem er
mich Chayyams Poesie fasziniert. In den Vierzeilern,
seine Meinung sagen darf und Spontanität als
ihn zum ersten Opfer seiner Attentäter erwählte.
den Rubayyat, gelingt es ihm, die tiefste Verzweiflung
Ich glaube nicht, dass diese Legende viel mit den
auszudrücken, die man überhaupt empfinden kann,
gefährlich gilt, war es besonders wichtig,
Tatsachen zu tun hat. Der Altersunterschied zwiaber fast immer mit so viel Humor, dass den Leser zuauch mal Momente der Vertrautheit zu finden,
schen den Personen ist zu groß. Aber seit ich sie kengleich das Grauen und das Lachen überkommt - jenes
Humor, Überraschung.«
ne, fasziniert mich ihre innere Wahrheit. Sie zeigt mir
Lachen, von dem Platon spricht, ein Lachen, das in
drei Grundformen, drei Prinzipien des menschlichen
Selbsterkenntnis aufgeht. Ein Gedicht von Chayyam
der Älteste von ihnen, Großwesir des SeldschukenDaseins. Nizam al-Mulk kann als Vertreter des konrichtet sich zum Beispiel an einen Töpfer mit der Bitreichs geworden war, erinnerte er sich an seine Schulservativen Prinzips gelten. Er nimmt an, dass die Welt
te, den Ton, aus dem er einen Krug formt, zärtlicher
freunde, rief sie zu sich und fragte, was er für sie tun
gut ist, und sieht die Aufgabe des Menschen darin,
zu kneten, weil der Ton einmal ein Mädchengesicht
möglichst viel in dieser Welt zu
war, dem junge Männer nachgebewahren, zu verbessern und zu
seufzt haben und dessentwegen
veredeln. Hassan-i Sabbah, der
sie gestorben sind. Nicht einmal
Jüngste der drei, steht für das rebei Shakespeare, in der Friedhofsvolutionäre Prinzip. Er will eine
szene im Hamlet, findet sich ein
völlig neue Welt schaffen. Das
so konzentrierter Ausdruck, der
Prinzip, das Omar Chayyam verVerzweiflung und Humor, der
tritt, könnten wir das philosophiLachen und Aufschrei eins wersche oder künstlerische nennen:
den lässt.
Er will die Welt nicht beherrschen
Damals habe ich auch die
und fühlt sich auch nicht dazu bewunderbare Legende von den drei
rufen, sie zu verbessern oder neu
Schulfreunden gehört, die kurz
zu formen. Er bemüht sich, die
nach Chayyams Tod entstanden
Welt zu verstehen. So ist es auch
sein muss. Sie erzählt, Nizam
mit den Menschen – der Konseral-Mulk, Omar Chayyam und
vative bemüht sich, sie zu verHassan-i Sabbah seien die besbessern, der Revolutionär richtet
ten Absolventen der berühmten
über sie, und Chayyam, der DichSchule von Muwaffak in Nischater und Gelehrte, bemüht sich, sie
pur gewesen. Vor dem Ende ih- Am 25. August 1992 ging die Bibliothek unter dem Beschuss durch die bosnischen Serben in Flammen auf.
zu verstehen.
rer Schullaufbahn schworen sie, Mehr als 2 Millionen Manuskripte und Bücher verbrannten.
Die Kuppel der Imam-Moschee in Isfahan aus dem 16. Jahrhundert.
»Die Kunst kann sich gegen die Wirklichkeit
auflehnen, zu der wir verurteilt sind, sie
kann ein Mittel sein, das uns hilft, unserer
Begegnung mit der Welt Form zu geben.«
der Verzweiflung Ausdruck, von der wir alle erfüllt
sind, ich, die Leute um mich herum, die Welt, zu der
wir verurteilt sind... Die Distanzierung durch Humor
hilft mir, dem Entsetzen eine Form aufzuzwingen,
Hier Chayyams unvergleichliche Dichtung, dort
die Legende von den drei Schulfreunden – dieser doppelten Faszination muss das Bedürfnis entsprungen
sein, irgendwann darüber zu schreiben.
KR: Wie verlief die Arbeit?
DK: Ich denke, der Roman begann während der Belagerung Sarajevos Gestalt anzunehmen, als ich durch
die unmittelbare Erfahrung entdeckte, wie nah Lachen und Verzweiflung beieinanderliegen. Sie sind in
unserem Leben unauflösbar ineinander verwirkt und
verflochten. Damals habe ich mit Schauspiel- und Regiestudenten gearbeitet, wir mussten Theatervorstellungen unter ganz besonderen Bedingungen auf die
Beine stellen – ohne Wasser und Strom, ohne Schminke und Kulissen, ohne speziell für diese Inszenierung
genähte Kostüme und ohne Beleuchtung, die geholfen hätte, eine eigene Stimmung zu erzeugen. Es galt
zu arbeiten, zu polemisieren, zu diskutieren, Anweisungen zu geben, und all das nach der wahnsinnigen
Freude, die ich jedes Mal empfand, wenn ich sah, dass
die Studenten zum Unterricht erschienen waren. Das
Warten auf sie war ja von der panischen Angst erfüllt,
sie könnten auf dem Weg zur Schule getötet werden.
Ich redete den Studenten zu, Komödien auszuwählen – unter den Bedingungen, unter denen wir lebten
und arbeiteten, das einzig Sinnvolle. Warum hätten
wir auf der Bühne die unerträgliche Wirklichkeit
wiederholen sollen? Die Kunst kann sich gegen die
Wirklichkeit auflehnen, zu der wir verurteilt sind, sie
kann ein Mittel sein, das uns hilft, unserer Begegnung
mit der Welt Form zu geben, sie kann ein Instrument
sein, durch das wir uns selbst und andere Menschen
verstehen und erkennen, aber sie soll keine pleonastische Wiederholung der Wirklichkeit sein, das darf sie
nicht, wenn sie relevante Kunst sein will.
Nachdem wir einige Monate so gearbeitet hatten, begriff ich, dass ich mich die ganze Zeit um genau das
bemühte, worauf es Chayyam in seiner Poesie angekommen war: Mit Humor versuche ich Distanz zu
mir selbst und zu der unerträglichen Welt herzustellen, weil sich dank dieser Distanz das Leben und die
Welt leichter ertragen lassen, und gleichzeitig gebe ich
Erste Seite von Ibn Sinas (Avicennas) Kitab al-Qanun fi’t-tibb, seinem
Kanon der Medizin. 1025 vollendet, wurde es zum Grundlagenwerk
der wissenschaftlichen Medizin.
ohne die Unmittelbarkeit des Aufschreis zu verlieren.
Chayyam war die ganze Zeit da, bei uns, mit uns, er
sprach zu uns und sprach über uns. Damals war mir
das nicht bewusst, aber heute zweifle ich nicht daran,
dass Der Trost des Nachthimmels schon damals in mir
zu arbeiten begann.
KR: Kannst du etwas zu deiner Erzähltechnik
sagen? Wer erzählt da überhaupt?
DK: Ich denke, die Erfahrung, die ich während der Belagerung Sarajevos gemacht habe, hat mir geholfen,
den Grundton des Romans zu finden, seine Atmosphäre zu erahnen. Aber sie hat auch die Erzähltechnik bestimmt. Ich musste eine Technik finden, die die
Unmittelbarkeit des Ausdrucks, wie sie das Erzählen
in der ersten Person erlaubt, bewahrt; der Aufschrei
muss etwas von seiner Aufrichtigkeit und Kraft behalten, gleichzeitig muss ich Distanz zu den Gestalten
und zum Geschehen aufbauen. Anders sind Humor
und (Selbst-)Erkenntnis im Lachen nicht möglich. All
diesen Anforderungen kann ein auktorialer Erzähler
natürlich nicht genügen. Ich brauchte eine in sich paradoxe Erzählinstanz, die ich während der Arbeit für
mich »skeptischer allwissender Erzähler« genannt
habe. Er muss etwas vom »allwissenden Erzähler«
haben, um das Innenleben der Gestalten ausdrücken zu können, muss aber zugleich ausgesprochen
skeptisch sein, um von außen beobachten, Abstand
wahren, verstehen und zweifeln zu können. Das war
vor allem für den zweiten Teil des Romans, Der Duft
der Angst, wichtig, der ein spezifisches »Anti-Epos«
oder ein »umgekehrtes Epos« darstellt. Im Gegensatz
zum klassischen Epos, das von der Entstehung einer
Gemeinschaft erzählt, geht es hier um den Zerfall
einer Gemeinschaft und ihrer Welt. Dennoch muss
die Erzähltechnik sich etwas von der Erzähltechnik des Epos aneignen, weil sie ein breites Bild der
Epoche liefern soll, wie es sich für ein richtiges Epos
nun mal gehört. Dabei kann unser Erzähler natürlich
kein echter »Epiker« sein, weil er kein Angehöriger
der Gemeinschaft ist, von deren Entstehung das Epos
handelt, er ist auch kein Angehöriger der im Zerfall
begriffenen Gemeinschaft. Er ist ein Fremder, ein
distanzierter Beobachter, der sich zu verstehen bemüht, was sich vor seinen Augen abspielt, so dass er
die ganze Dramatik des Geschehens sieht, aber auch
seine komischen Seiten mitkriegt. Dieser Erzähler ist
dabei nie sicher, ob er recht hat, ob wahr ist, was er
sich überlegt hat, ob alles, was er gesehen und durch
»Die Erfahrung, die ich während der
Belagerung Sarajevos gemacht habe,
hat mir geholfen, den Grundton des
Romans zu finden.«
logisches Denken erkannt hat, die einzig mögliche
Sicht ist. Er weiß in jedem Augenblick, dass sich alles, was er sieht, aus einer anderen Perspektive völlig
anders darstellt. Dass das, was ihm tragisch erscheint,
auf einen anderen Blick womöglich urkomisch wirkt.
Aber ich bin bei der Arbeit an einzelnen Episoden auch auf konkrete Schwierigkeiten gestoßen. Ich
erinnere mich zum Beispiel dankbar an die wertvolle
Hilfe eines Ernährungswissenschaftlers bei der Lösung eines zentralen Problems: die Vergiftung von
Mirchond im ersten Teil des Romans. Als mein werter Gesprächspartner Hans Konrad Biesalski und ich
uns im Wissenschaftskolleg in Berlin trafen, standen
bereits einige Dinge fest: Ich wusste, dass Mirchond
vergiftet werden soll, dass Chayyam das Geheimnis
der Vergiftung lüften, sprich den Mörder finden muss,
dass die Lösung des Rätsels auf den physiologischen
Kenntnissen seiner Epoche basieren muss (die Instrumente zur Lösung des Rätsels müssen ihm die Schriften seiner Lehrer Ar-Razi, Ibn Sina und anderer liefern). Außerdem muss Chayyam am Ende begreifen,
dass seine Entdeckung keinerlei Nutzen bringt, weil
sie reine Information ist und niemandem hilft. Aber
das Vergiften selbst war ein unlösbares Problem für
mich. Wie wurde Mirchond vergiftet? Womit? Über
einen Monat lang suchten Hans Konrad und ich nach
einem Gift, das ein Nahrungsmittel ist. Er schlug mir
Pfirsichsamen vor, ein Kraut, das beinahe genauso
aussieht und duftet wie ein populäres Gewürz, Safran
... Er konsultierte auch seine Kollegen vom Institut, an
dem er arbeitet, so dass ein ganzes Team von Wissenschaftlern darum bemüht war, den armen Mirchond
zu vergiften. Am Ende gelang es uns. Mirchond starb
an Botox, einem Gift, mit dem die Leute im Westen
heutzutage ihre Falten bügeln. Ich erinnere mich noch
lebhaft an unsere Freude, als wir
diese konnotationsreiche, aktuelle und kulturhistorisch verbürgte
Lösung gefunden hatten.
Die Festung Alamut (Adlernest) im unzugänglichen Bergland zwischen den iranische Küstenprovinzen Mazandaran und Gilan und dem Irak.
gebaut sei. Ich sah ihn bestürzt an, als hätte er den
Verstand verloren. Doch heute würde ich ihm recht
geben, ich glaube, diese Traumata sind in den Roman
eingezogen und haben bei seiner Gestaltung mitgewirkt, wie wenig ich mir dessen auch bewusst war.
KR: Bereits in deinem Roman Schahrijars Ring (1997)
bestimmte die Rekonstruktion eines verlorenen
bzw. zerstörten Manuskripts die Architektur des
Werkes. Hier ist das wieder der Fall. Es ist, wie du
KR: Am Ende stellt sich der
Roman als der irrwitzige Versuch heraus, etwas über Jahrhunderte Verlorenes aus dem
Gedächtnis wiederherzustellen.
Verstehst du das Erzählen als
Ars memoriae?
DK: Ob und wieweit dieses Erzählen etwas Verlorenes wiederherstellt, ist eine schwierige,
ich fürchte, unbeantwortbare
Frage. Oft denke ich, mein Erzählen kann gar nichts anderes
sein als Gedächtniskunst, eine
spezifische Art des Erinnerns.
Was ist das Erzählen anderes
als ein Denken und Erinnern in
Formen? Einzig durch Erzählen
können wir gewisse komplexe Das Mausoleum für Omar Chayyam, 1963 errichtet. Nischapur, Iran.
Phänomene verstehen und vollsagtest, ein Lieblingsmotiv aller Manieristen und
ständig behalten, deshalb erklären wir uns zum BeiPostmodernisten. Doch deine Bibliothek brennt
spiel die Entstehung grundlegender Existenzformen
wirklich, die Zerstörung deiner Manuskripte ist
immer mit einem Mythos.
kein Motiv, sondern du hast diese Katastrophe am
eigenen Leibe erfahren. Ist deine Besessenheit von
der Form eine Antwort auf diese Zerstörung?
»Mein Erzähler weiß in jedem Augenblick,
dass sich alles, was er sieht, aus einer anderen Perspektive völlig anders darstellt.«
Gelingt es dem Erzählen wenigstens teilweise, das
Verlorene zu rekonstruieren? Ich weiß es nicht. Zumindest rettet es das Verlorene vor dem Vergessen,
und zwar ohne Vereinfachung, in seiner ganzen
Komplexität. Unlängst fragte mich ein Freund, ob das
Trauma des Zerfalls Jugoslawiens und der Zerstörung
des bosnischen Kulturmosaiks in diesen Roman ein-
DK: Ich bin tatsächlich besessen von der Form, wie
alle Leute, die die klassische Literatur lieben und im
Kopf tragen. Ich habe nichts gegen Literatur, die auf
Form verzichtet oder sie absichtlich zerstört. Sie interessiert mich nur einfach nicht. Wie könnte jemand,
der wie ich vom Theater besessen ist, etwas gegen das
Spiel haben?! Aber weder das Theater noch mich interessiert ein Spiel, das keine Emotionen weckt und
an sich bindet. Gute Kunst hat ja immer etwas von
einem Spiel. Aber es ist ein Spiel, in dem wir uns selbst
befragen, in dem wir uns sogar selbst in Frage stellen.
»Meine Romane sind ein Mosaik, zusammengefügt aus den Steinchen, zu denen
die einstigen Monolithen zerfallen sind.«
Ein Spiel hingegen, das des Risikos und der Emotion entbehrt, interessiert mich nicht, es mag Spaß und
Vergnügen sein, aber ich habe
niemals geglaubt, dass es sich
lohne, das Leben um des Vergnügens willen zu ertragen. Deshalb
muss ich die Motive meiner Erzählkompositionen mit Emotion
und Leidenschaft, Erinnerung
und Schmerz aufladen ... Warum
sollte ich mich mit einem Manuskript befassen, das mir nichts
bedeutet, warum sollte ich nach
ihm suchen und über ihm verrecken?! Wenn es mir etwas bedeutet, kann es nicht Gegenstand
eines Spiels bar jeder Leidenschaft und jedes Risikos sein.
Ein Spiel ist eine zu ernste Angelegenheit, als dass es jemals ganz
harmlos sein könnte.
Mir ist klar, dass auch mein
Erzählen nicht ganz von seiner
Entstehungszeit losgelöst bleiben konnte. Eine starke Leidenschaft unserer Epoche ist die
Zerstörung der Form, und diese
Zerstörung wird auch in meinem Erzählen reflektiert. Sosehr ich mich um die
Form meiner Romane bemüht habe, sie zeigen den
Zerfall, die Zerstreuung der Form, sie parodieren
den klassischen Roman nahezu. Meine Romane sind
keine Monolithen, aufgebaut um einen großen Helden, um ein Ereignis, mit dem sich das Erzählen
befasst, solange es jenes nicht aus allen Perspektiven
beleuchtet, um eine große Idee ... Sie sind ein Mosaik,
zusammengefügt aus den Steinchen, zu denen die
einstigen Monolithen zerfallen sind. Dagegen hilft
weder Wissen noch Wollen, die Literatur spricht mit
ihrer Zeit, auch wenn der Autor es nicht will.
Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber
Dževad Karahasan
Der Trost des
Nachthimmels
Aus dem Bosnischen von
Katharina Wolf-Grießhaber
Leseprobe
Ein unklarer Verlust
C
hayyam irrte durch die Stadt, ohne zu wissen, wohin er
ging, und ohne wirklich wahrzunehmen, wo er sich befand,
aber eiligen Schrittes, als rennte er hinter irgendetwas her,
so dass er irgendwann schweißnass war. Als er erschöpft innehielt,
war er in einem ihm unbekannten Stadtteil, offensichtlich einem der
neugebauten Stadtviertel, in denen die armen Leute wohnten, die in
die Städte strömten, Lohnarbeiter, die mit Leder, Papier und Seife
arbeiteten, alte städtische Familien, die verarmt waren und dorthin
hatten umziehen müssen, wo das Leben weniger kostete, ausgediente Soldaten, die von ihren Ersparnissen lebten und dorthin gingen,
wo ihre Ersparnisse am längsten hielten. Jene, die das Glück hatten,
anderswo zu wohnen, nannten solche Siedlungen spöttisch Schlafzimmer, weil es in ihnen meist nicht einmal Wächter gab, dort gab
es außer einer Moschee und mancher neuen, in der Regel armseligen Schule nichts, was sie zu einem Stadtteil machen würde. Die
Bewohner solcher Siedlungen übernachteten in ihren Häusern, und
am Morgen, gleich nach dem Morgengebet, gingen sie in die Stadt,
um Arbeit und Lebensunterhalt zu suchen, und ließen in den Häusern nur jene zurück, die krank waren, im Sterben lagen oder zu
jung waren, um eine Arbeit zu bekommen.
Er blieb mitten auf der Straße stehen, um Atem zu holen und
sich zu fassen, wobei er sich auf der Stelle drehte, damit der trockene Wind, ein unerträglicher heißer Wind, der den ganzen Tag
nicht einen Augenblick aufgehört hatte, seine Kleidung trocknete.
Er versuchte, sich an sein Umherirren in der Stadt zu erinnern. Aus
Gewohnheit hatte er sich, wie ein Hund, zur Baustelle des Observatoriums aufgemacht, war aber vorher abgebogen und einen anderen
Weg gegangen. Er erinnerte sich, dass er auch unweit seines Hauses
gewesen war, nur etwa fünfzig Schritte entfernt. Der Körper war
einfach in die Richtung gegangen, die er gewohnt war, wo ein Ziel
oder ein Grund hätten liegen können. Eine Zeitlang hatte er auch
vor dem Haus seines armen Freundes Sali gestanden, ziemlich lange
übrigens, war aber nicht hineingegangen. Warum, wusste er nicht,
genauso wenig wie er wusste, was ihn dort hingeführt hatte. Im
Haus hätten ihm keine Begegnungen gedroht, keine Schwierigkeiten, Sali hatte hier niemanden, so wenig wie er, Chayyam, selbst.
Vielleicht war das der Grund für ihre Nähe gewesen, gewiss war
es eine der Grundlagen dafür gewesen, dass sie sich so gut verstanden hatten, was ihnen bereits bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen
war – beide waren hier allein, waren Teil eines ungeheuren Heeres von vereinzelten Menschen, die diese Stadt überschwemmten,
Menschen ohne Vorfahren und Verwandte, sie waren derart allein,
dass sie manchmal auf die Idee kommen konnten oder sogar mussten, sie hätten sich selbst geboren. Die Empfindsameren unter ihnen erkannten sich auf den ersten Blick, so wie er und Sali sich erkannt hatten, und zwischen ihnen entwickelte sich eine Nähe ohne
wirkliche Freundschaft, eine seltsame Nähe bar aller Gründe und
Freuden. Sie wussten nichts übereinander, verstanden sich aber vollkommen, sie hatten keinen Grund, miteinander zu verkehren, weil
sie einander weder Freude noch Nutzen brachten, waren aber viel
zusammen, wohl deshalb, weil sie sich ineinander wiedererkannten.
Nicht nur diese Stadt, die ganze Welt war überschwemmt von solchen Menschen, einsamen Menschen in ständiger Bewegung.
War es die Erinnerung an Sali, die das Gefühl völliger Einsamkeit
hervorgerufen hatte, das ihn anbrandete und fast ertränkte, oder
war dieses Gefühl von der Erinnerung an den Bruder in der Einsamkeit ausgelöst worden? Und warum dachte er, dieses Gefühl sei
jetzt stärker und tiefer als je zuvor? Hatte sich sein Gefühl nur verstärkt, oder konnte die Einsamkeit wirklich größer, tiefer, umfassender werden? Ging es darum, dass er jetzt, nachdem ihn Suhrab
unabsichtlich ausgelacht hatte, schwächer und verletzbarer war als
sonst und auch seine Einsamkeit stärker empfand, oder hatte sich
diese Einsamkeit in letzter Zeit wirklich vergrößert, irgendwie vervollständigt und offenbarte ihm das jetzt? Wie konnte sich Einsamkeit verstärken, war das logisch überhaupt möglich? Allein bist du,
wenn du keinen vertrauten Menschen in deiner Nähe hast, kann
sich also die Abwesenheit, das heißt das Nicht-Haben, verstärken
und vergrößern? Logisch oder wenigstens mathematisch kann sie es,
von Null aus kommt man weiter in die negativen Zahlen, in denen
das Defizit bis zur Unendlichkeit anwachsen kann. War das bei ihm
der Fall, war er bereits unter den negativen Zahlen? Die Einsamkeit
eines Menschen, sagen wir, verstärkte und vervollständigte sich,
wenn er anfing, wirklich all jene zu spüren, die er verloren hatte: Es
ging nicht darum, dass er niemanden gehabt hätte, sondern darum,
dass er jemanden verloren hatte. Und der, den du verloren hast, ist
nicht einfach abwesend, er ist negativ anwesend, anwesend wie das
starke Gefühl der Leere, des Mangels, des Entzugs. Alle Verluste,
die dieser erlitten hatte, spürte er wirklich und konkret, wie seine
Haut und seine Nägel, über dieses Gefühl war seine Einsamkeit
angewachsen und hatte sich vervollständigt.
Er hatte in der letzten Zeit zuerst Sali verloren, den ersten zufälligen Bekannten, dem er sich nach seiner Ankunft in Isfahan
angenähert hatte. Und dann hatten seine unseligen Ermittlungen
begonnen, die ihm Feridun, die ihm seinen lieben Freund und Kollegen in der Astronomie, Musaffer Samarkandi, nahmen, den er
unlängst in einem Wutanfall beschuldigt hatte, für das Verschwinden astro-nomischer Instrumente verantwortlich zu sein. Die Ermittlungen hatten ihm zu Beginn die Sympathie von Suhrab und
vor allem Fuzail und vielleicht eine gute Freundschaft mit ihnen
in Aussicht gestellt, fast versprochen, aber sie schienen es ihm nur
deshalb versprochen zu haben, damit er jetzt spüren konnte, dass
daraus nichts geworden war und auch nichts werden würde. Allen
Leuten, die er in den Gast- und Teehäusern kennengelernt hatte, mit
denen er manchmal auch jetzt am selben Tisch saß, hatte er sich nun
entfremdet. Nicht dass er angefangen hätte, die Leute als potentielle Verdächtige zu betrachten, aber etwas davon hatte es doch. Er
war den Menschen gegenüber offen gewesen, war unter sie gegangen, hatte Gedanken und Gefühle empfangen und gegeben, wie er
den Körpergeruch empfangen und gegeben hatte, aber das war ihm
schon vor einer Weile abhanden gekommen. Während seiner unseligen Ermittlungen, genau gesagt. Am schlimmsten war vielleicht,
dass er mit allen Menschen, die er verloren hatte, scheinbar normal
sprach, dabei aber die Kluft spürte, die sie trennte. Musaffer hatte
sich zum Beispiel entfernt, nachdem er ihn angeschrien hatte. Sie
wohnten weiterhin im selben Haus, redeten miteinander, nachts beobachteten sie gemeinsam den Himmel. Aber es gab nicht mehr das,
was er, Chayyam, den Trost des Nachthimmels genannt hatte. Wenn
du den Nachthimmel lange genug beobachtest, begreifst du, dass
jeder Stern allein und unendlich weit vom nächsten entfernt ist, aber
dass sie alle einem Gesetz unterliegen und dass dieses Gesetz ihre
Einsamkeit aufhebt. Es verbindet sie, stellt Beziehungen zwischen
ihnen her, es beginnt ein Gespräch unter ihnen, selbst wenn sie sich
dessen nicht bewusst sind. So muss es auch mit den Menschen sein,
hatten er und Musaffer philosophiert. Wir sind tatsächlich allein
und jeder für sich, aber wir wissen, dass es ein Gesetz gibt, das uns
verbindet, weil wir ihm alle unterliegen. Solange es existiert, solange
es uns verbindet, sprechen wir mit unseren unbekannten Brüdern.
In letzter Zeit, nach jenem Ausfall von ihm, hatten er und Musaffer
zweimal zusammen den Nachthimmel beobachtet, aber sie hatten
nicht so miteinander geredet. Sie hatten geredet, aber nicht so.
Das hatte seine Einsamkeit wohl verstärkt und vervollständigt.
Er spürte den Verlust eines jeden dieser verlorenen Menschen, wie
man die Hand oder das Bein spürt, die man verloren hat. Und alles
hatte mit Salis Weggang begonnen. War das die Einleitung zu den
Ermittlungen gewesen, die ihn in absolute Einsamkeit hüllen sollten, oder waren die Ermittlungen und die Einsamkeit, zu der sie
geführt hatten, Teil des Schicksals, das ihm bestimmt war?
Es riecht nach Angst
E
ines Morgens tauchten auf dem Großen Platz plötzlich Vertriebene aus Mazandaran auf. Die Leute, die zum Morgengebet gingen, trafen vor der Weißen Moschee eine Gruppe
von etwa fünfzig Menschen an mit einer dicken Staubschicht auf
Kleidern, Gesichtern, Köpfen. Einige saßen auf dem Platz, ein paar
lagen sogar herum und schliefen, aber die meisten standen da, mit
dem Rücken an die Mauer des zur Moschee gehörenden Friedhofs
gelehnt. Aber alle waren, ungeachtet der Stellung, in der sie den
Tagesanbruch erwarteten, sichtlich erschöpft und am Ende ihrer
Kräfte.
Sie erzählten, Hassan-i Sabbah beziehungsweise seine Leute hätten sie vertrieben. Diese hätten praktisch die Macht in Mazandaran übernommen, vorerst eigentlich nur in der Gegend um Alamut,
aber das Gebiet, das sie beherrschten, dehne sich täglich aus. Vor
ungefähr einem Monat, vielleicht etwas mehr, hätten sie verkündet, in den Moscheen sei in der Predigt nach dem Freitagsgebet von
nun an als Erstes Hassans Name zu erwähnen. Die Namen des Sultans und des Kalifen von Bagdad könnten die Imame der einzelnen
Moscheen nennen, das verbiete ihnen niemand, aber sie müssten
es nicht, vielleicht sei es sogar besser, sie nicht zu erwähnen, um
die Leute nicht zu verwirren. Aber nach jedem Freitagsgebet müsse man um den Segen und das Glück von Hassan-i Sabbah beten.
Diejenigen, die sich aufgelehnt hätten, seien gleich an Ort und Stelle
von weiß gekleideten Burschen in Stiefeln und mit Brustgurten, gefertigt aus rotem Leder, niedergemetzelt worden. Doch diejenigen,
die bereit seien, diese Verfügung zu achten, könnten ruhig in ihren
Häusern bleiben, als wäre nichts geschehen. Von nun an würden sie
ihre Steuern an die in Alamut residierende Macht zahlen und wenigstens jeweils einen Sohn zur Ausbildung in die Festung geben,
alles andere bleibe, wie es gewesen sei. Alle, die sich diesen Verordnungen nicht beugen wollten, könnten gerne gehen und von ihrem
Besitz mitnehmen, was in eine Tasche passe.
haben sie sich herausgewunden. Sie bestechen ein wenig, wen man
muss, und stellen sich ein wenig dumm, tun, als hätten sie etwas
nicht verstanden, wo es ihrer Einschätzung nach helfen könnte, die
Macht zeigt sich andererseits ein wenig nachgiebig und entspannt,
sobald sie sich gefestigt hat, und ist bereit, ein Auge zuzudrücken.
So findet man jenen Mittelweg, den die Menschen vom Land seit eh
und je suchen und in der Überlistung der Macht finden, den Weg,
der ihnen zu überleben ermöglicht und der Macht, ihre Pläne auszuführen. Sie hatten damit gerechnet, dass es auch dieses Mal, mit
der neuen Macht, so sein würde, fast alle waren zu Hause geblieben
und hatten darüber nachgedacht, wie sie sich arrangieren könnten.
Bis sich die neue Macht zurechtgefunden hätte, bis sie die Haushalte und Besitzungen aufgelistet, die Kontrolle über die Dörfer
und Städte erlangt hätte, würden die Leute schon einen Weg finden, ihre Söhne in Sicherheit zu bringen und sich mit den Vertretern
der Macht über einen Ersatz, eine Strafe oder worüber auch immer
zu verständigen. Aber es war nicht so, nicht einmal annähernd. Sie
hatten genaue Listen der Haushalte und Besitztümer, die sie offensichtlich von jemandem aus der vorherigen Regierung bekommen
hatten, so dass sie in jedes Haus mit dem genauen Wissen gingen,
was und wen sie haben wollten. Und es gab keine Anzeichen, dass
sie nachgiebiger werden und ihre Forderungen mäßigen würden,
im Gegenteil, von Tag zu Tag verschärften sie ihren Ton und ihr
Verhältnis zu den Untertanen. Die Abgesandten der neuen Macht
kamen ins Haus, den Namen dessen kennend, den sie zur Ausbildung hinauf in die Festung mitnehmen wollten, wie sie auch auf
den Dirhem genau wussten, was und wie viele Steuern sie vom
betreffenden Haus eintreiben konnten. War der junge Mann, den
sie zur Ausbildung mitnehmen wollten, nicht daheim, und hatten
die Hausbewohner keine Ahnung, wo er sich befand und wann er
zurückkommen könnte, ermordeten die Burschen in Weiß der Reihe nach alle Hausbewohner, weil sie ihr Verhalten als Auflehnung
deuteten. Die Macht verkündete jeden Freitag nach dem Gebet, wen
sie alles wegen Auflehnung oder Verrats umgebracht hatte, wobei
sie wiederholte, dass jeder, der nicht hier leben wolle, gerne wegziehen könne.
In dem Maße, wie die Zahl der ermordeten Familien wuchs,
wuchs auch die Zahl derer, die bereit waren wegzugehen, und sei
es unter den schrecklichen Bedingungen, welche die neue Macht
diktierte. Aber wohin? Und wie? Am Ende war die Angst so groß,
dass sich die Menschen auch das nicht mehr fragten, sondern in die
Tasche stopften, was hineinpasste, und sich auf eine Reise ohne Ziel
und Rückkehr machten. Ihre Gruppe zum Beispiel, die hier in Isfahan aufgetaucht war, bestand aus etwa hundert Familien. Die Kinder und Älteren hatten sie bei Verwandten, Freunden, Bekannten
gelassen, überall, wo es überhaupt möglich war, während die Männer und erwachsenen Frauen, die noch bei Kräften waren, ja hierher
kamen, um die Hilfe und den Schutz des Sultans zu suchen.
Fast keiner ging im ersten Moment weg, weil die Leute hofften,
sie würden sich irgendwie durchschlängeln und einen Mittelweg
finden, um die neue Macht zu überlisten. Kein normaler Mensch
gibt gern sein Zuhause auf, keiner lässt freiwillig sein von gutem
Klima und Fruchtbarkeit gesegnetes Land zurück, wie in den Tälern um Alamut, und seit Gott und die Welt bestehen, sind die Menschen, die ihr Land bestellen, gezwungen, die Macht zu überlisten
und einen Weg zu finden, mit ihr zurande zu kommen. Und immer
Foto Dževad Karahasan: © Isolde Ohlbaum. Alle anderen Fotos: Die Besetzung von Alamut 1256, Dschami‘ at-tawarich von Raschid ad-Din (13. oder 14. Jahrhundert), Pictures from History / Bridgeman Images; Imaginäres Porträt von Avicenna,
Öl auf Leinwand, Französische Schule / Bibliothèque de la Faculté de Médecine, Paris / Archives Charmet / Bridgeman Images; Omar Chayyãm, Privatsammlung / Bridgeman Images; Kanon der Medizin, Iranische Handschrift aus dem frühen
15. Jahrhundert, IAM / akg-images / National Institutes of Health / U.S. Department of Health; Das Mausoleum für Omar Chayyãm in Nischapur, Roger Wood / CORBIS. Wolkenmotiv: Vierzeiler von Omar Chayyãm, Abb.: Maksim, lizenziert über
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