Henrik Ibsen Gespenster

Henrik Ibsen
Gespenster
Die heutige Einführung in das Stück „Gespenster“ von Henrik Ibsen möchte ich,
nicht zum ersten Mal, mit einigen Überlegungen zur Frage: „was ist ein Drama,
was ist dramatisch“ eröffnen. Henrik Ibsen gehört zu den eindrücklichsten Dramatikern der Weltliteratur, nicht nur seiner Stoffe und Themen wegen, sondern in
erster Linie, weil seine Stücke alle wirklich dramatisch sind, im engeren Sinne.
Ibsen macht keine Theaterexperimente, er ist eigentlich weder modern, noch klassisch, er folgt keiner Theatertheorie, er ist einfach Dramatiker! Nicht mehr, vor
allem aber nicht weniger! So kommt es uns vor, wenn wir Ibsen auf der Bühne
erleben. Natürlich zählt die Literaturwissenschaft zu Naturalismus und natürlich
wollen seine Stücke in uns Zuschauern etwas bewirken. Aber wenn man Ibsen
liest, oder noch besser auf der Bühne verfolgt, dann hat man nicht das Gefühl, er
wolle uns Zuschauer belehren, uns dauernd auf etwas hinweisen, was wir doch
endlich merken sollen, wie Brecht das ja penetrant macht. Nein, seine Stücke sind
echte Dramen, sind phänomenales Theater, sie greifen hinein ins volle Menschenleben und machen es sichtbar. Man spürt in seinen Stücken eigentlich keine Absicht, den Zuschauer zu bessern und ihn zu läutern. Es scheint nichts Didaktisches
in ihnen. Wenn man Ibsen liest, hat man oft den Eindruck, dass er uns Zuschauer
gar nicht im Auge hat. Er stellt einfach ein Stück Welt und Gesellschaft dar, ob wir
als Zuschauer nun dabei sind oder nicht. Die Wirkung aber ist enorm. Wir werden
als Zuschauer, gerade weil nicht um uns gebuhlt wird, mit einer Wucht in das
Bühnengeschehen hinein genommen, der wir uns nicht entziehen können. Wenn
man bei Theaterstücken die Absicht des Autors erkennt, uns belehren zu wollen,
uns sagen zu wollen, wie „es“ ist, dann können wir seine Lehre und seine Belehrungen immer auch ablehnen und sagen: das geht mich nichts an. Bei Ibsen können wir das nicht. Er fragt nicht danach. Und gerade deswegen sind wir förmlich
erschlagen von der Wucht der Ereignisse. Für Schiller, den grössten Dramatiker
der Deutschen Sprache, ist das Theater eine moralische Anstalt. Der Zuschauer
soll geläutert werden durch die Tragödie, Erkenntnis erlangen. Auch die antike
Tragödie hatte diese, fast schon psychoanalytische Funktion. Ibsen verlangt nichts
Derartiges von uns. Umso grösser ist dann die Wirkung. Wie wir noch sehen werden, haben gerade die „Gespenster“ sehr wohl eine tief kathartische Wirkung und
Funktion. Ibsen erreicht sie, indem er darstellt, auf die Bühne bringt, sichtbar
macht, nicht indem er Missstände explizit zum Thema macht.
„Dichten ist Gerichtstag halten“, soll er gesagt haben. Sie werden heute Abend
diese Aussage ganz unmittelbar verstehen. Aber Ibsen verhängt keine Gerichtsurteile und Strafen. Er hält Gericht über die Gesellschaft, indem er schonungslos
darstellt, wie die Menschen sich aufreiben im Kampf zwischen ihrem Drang nach
Freiheit und dem Zwang, den ihnen Gesellschaft und Sitte auferlegt.
Das ist das Thema fast aller seiner Stücke. Der Konflikt zwischen gesellschaftlichem Zwang, zwischen Gefangenschaft in einem Leben, wie es anständigerweise
sein soll und dem Drang, diesen elenden heuchlerischen Zwang abzuwerfen und
frei zu sein! Gesellschaftskritik also! Aber Gesellschaftskritik ist ein Schlagwort und
bedeutet meist nicht viel. Was ist Gesellschaft bei Ibsen?
Henrik Ibsen hat einen grossen Teil seines Lebens in Italien und Deutschland verbracht. Es ist deswegen nicht ganz unerlaubt, den Norweger ein wenig auch der
deutschen Literatur zuzurechnen. Er ist, neben Gerhart Hauptmann, einer der bedeutendste Vertreter des „Naturalismus“. Naturalismus ist ein Programm, welches
das Literaturlexikon wie folgt umschreibt: „Gesteigerter Realismus, der das Ge-
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gensätzliche zu einer idealistischen Weltauffassung zu verwirklichen sucht.“ Naturalismus ist bestrebt, die Wirklichkeit so, wie sie ist, ungeschminkt und unverhohlen, nackt und so realistisch wie möglich darzustellen und auf die Bühne zu bringen. Es liegt auf der Hand, dass naturalistische Werke nun nicht eine schöne und
unproblematische Wirklichkeit suchen, das wäre eine zu idealistische Wirklichkeit
und auch nicht interessant. Sie suchen die Wirklichkeit der Erniedrigung, des
Schmutzes, des Elends innerhalb der wohlanständigen bürgerlichen Familien oder
im proletarischen Milieu. Sie legen soziale Zustände schonungslos offen und nehmen kein Blatt vor den Mund. Arno Holz – einer der frühen Vertreter des Naturalismus - bringt das Programm auf die berühmte Formel:
Kunst = Natur – x
Mit x meint er all das, was einem Abbild der Realität 1:1 im Wege steht, weil die
Bedingungen der Kunst dummerweise anders sind. X muss aber möglichst klein
gehalten werden.
Damit sind wir beim Stück des heutigen Abends. Schonungslos blickt Ibsen hinter
die Fassade einer bürgerlichen Familie, deckt Zwang, Heuchelei und das Leiden
der Menschen auf. Welche Gesellschaft stellt Ibsen dar? Es ist die Gesellschaft
seiner Zeit, jene des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Und es ist keineswegs die
norwegische Gesellschaft nur. Es ist ebenso die wilhelminische Gesellschaft
Deutschlands.
Kommen wir zum Inhalt:
Das Stück spielt auf Frau Alvings Landgut an einem großen Fjord in West-Norwegen. Die gesamte Handlung findet in einem Gartenzimmer dieses Gutes statt. Es
treten auf: Frau Helene Alving, sie ist die Witwe des Hauptmanns und Kammerherrn Alving, dann Osvald, ihr Sohn, er ist Künstler. Dann der Pastor Manders, ein
Freund und Berater von Frau Alving. Regine Engstrand, sie ist Bedienstete im
Hause Alving und ihr Vater Jakob Engstrand, ein Tischler. Sie sehen, Ibsen ist
äusserst sparsam mit dem Personal. Der ganze dramatische Kosmos wird mit nur
fünf Personen auf der Bühne verwirklicht.
Frau Alving will zum Gedenken an ihren verstorbenen Mann ein Kinderasyl stiften.
Die Arbeiten sind bereits abgeschlossen und es soll zum 10. Todestag des Hauptmanns Alving eingeweiht und eröffnet werden. Oswald, Alvings Sohn, ist extra aus
Paris und Rom, wo er als Künstler gelebt hat, zurückgekehrt. Alles steht zum Besten, doch alles ist Fassade. Pastor Manders erscheint, um mit Frau Alving, der
Stifterin noch einmal alles durchzusprechen. Sie sprechen über das Kinderheim,
über die Finanzen und die Abrechnung. Manders ist der Meinung, dass man das
Heim nicht versichern müsse, da es unter dem Schutz des lieben Gottes stehe.
Manders ist ein Jugendfreund der Frau Alving, eine Jugendliebe. Die Liebe war
gegenseitig. Frau Alving hat sich aber damals, unter dem Einfluss ihrer Verwandtschaft, für eine Heirat mit dem Hauptmann Alving bereden lassen, da dieser wohl
eine bessere Partie war.
Manders spricht kurz mit dem Sohn Oswald und wird gewahr, was dieser für eine
freie Lebensauffassung hat, vor allem in Liebesdingen. Der Pastor macht Frau Alving deswegen bittere ihr Vorwürfe wegen des Lebenswandels von Oswald. Sie
habe ihren Sohn nicht richtig erzogenen! Diese Vorwürfe sind das Signal für die
furchtbaren Enthüllungen der Vergangenheit. Frau Alving sagt, dass der hochgelobte Hauptmann Alving ein unverbesserlicher Wüstling gewesen sei. Ihre Ehe mit
ihm sei ein einziger Abgrund gewesen. Schon kurz nach der Heirat habe er sie
betrogen. Frau Alving ist damals zu Pastor Manders gegangen, weil sie von ihm
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Hilfe erhofft hatte. Dieser bigotte Kerl ist aber dem Konflikt ausgewichen, er bzichtete Helene Alving eines „überspanntes Verhaltens“, und schickt sie zurück auf den
„Weg der Pflicht und in das Haus ihres Eheherrn“. Diese feige Handlung rechnet er
sich selbst als heldenhafte Tat an, weil er die Pflicht über das Glück gestellt habe.
Dabei wollte er vor allem den Skandal verhindern, wenn Helene Alving bei ihm
geblieben wäre.
Manders vernimmt nun, dass Regine, die im Hause als Dienstmädchen arbeitet,
die leibliche Tochter des Hauptmanns ist, gezeugt aber mit dem damaligen Dienstmädchen Johanne. Johanne wurde nach der Geburt aus dem Hause entfernt und
mit dem Tischler Engstrad verheiratet, um den Skandal zu vermeiden. Engstrad
fühlt sich nun als Vater von Regine und sucht, seine Rechte geltend zu machen.
Frau Alving hat, um sie dem Einfluss des Trunkenbolds Engstrad zu entziehen,
Regine in ihr Haus genommen und den Sohn Oswald in die Ferne geschickt, damit
dieser nicht die Wahrheit über den Vater erfahre. Das Kinderheim hat sie gestiftet,
um endlich durch eine gute Tat sich von den „Gespenstern“ der Vergangenheit
lösen zu können.
In diesem Moment hört Frau Alving, wie ihr Sohn sich an Regine heranmacht. Dies
im gleichen Gartenzimmer, in welchem sie einst ihren Mann und das Dienstmädchen erwischt hat. Schlagartig steht ihr diese Szene wieder vor Augen. Die „Gespenster“ sind nicht gebannt, alles kommt wieder. Genau übersetzt heisst Ibsens
Schauspiel nicht „Gespenster“, sondern „Wiedergänger“, ich komme noch auf diesen Titel zu sprechen.
Frau Alving muss nun erfahren, dass ihr Sohn Oswald schwer krank ist. Er leidet
an Gehirnparalyse, einer Krankheit, die ihm sein Vater durch sein ausschweifendes
Leben hinterlassen haben soll. Er will nun Regine heiraten, weil er sich von ihrer
Frische und Lebensfülle Heilung verspricht. Da wird Frau Alving bewusst, wie feige
und dumm es war, ihren Sohn nie aufzuklären über die wahren Verhältnisse. Nun
bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihm zu eröffnen, dass er und Regine Halbgeschwister sind. Eine Ehe ist also ausgeschlossen.
In der Zwischenzeit spricht Engstrad mit Pastor Manders; er bittet ihn, auf Regine
Einfluss zu nehmen, dass sie ihm in die Stadt folge, weil er dort ein „Seemannsheim“ eröffnen will. Der naive und dumme Pastor merkt nicht, dass dieses Heim
wohl nicht viel anderes als ein Bordell sein wird und will Regine hinschicken.
Am Ende steht die völlige Zerstörung. Das Kinderheim brennt ab, wahrscheinlich
durch eine Unachtsamkeit des Pastors während einer Erbauungsstunde. Manders,
der den Brand verschuldet, weiss nichts Besseres zu sagen, als dass dies nun ein
„Strafgericht über dem Haus der Verirrung“ sei. Engstrad ist Zeuge jener Unachtsamkeit gewesen, die den Brand verursacht hat. Er hat damit den Pastor in der
Hand, der nun bereit ist, ihm beim Aufbau des Seemannsheims zu helfen; er erkauft damit das Schweigen Engstrads. Regine bleibt nun nichts anderes übrig, als
dem Stiefvater in die Stadt zu folgen, da alle ihre Hoffnungen, Oswald zu heiraten,
zerstört sind. Nun soll das Seemannsbordell, statt des Kinderheims den Namen
des Hauptmanns Alving tragen. Welche Ironie!
Zurück im Hause bleiben Frau Alving und Oswald. Die Mutter muss entscheiden,
ob sie ihrem Sohn die Sterbehilfe leisten soll, um die er sie bittet. Die Paralyse
bricht in jenem Augenblick aus, als nach endlosem Regen endlich die Sonne aufgeht. Am Ende sitzt Oswald als geistiges Wrack auf der Bühne und wiederholt
stumpfsinnig die Worte: „Mutter, gib mir die Sonne – die Sonne, die Sonne.“
Es ist ein geniales Stück, wohl das beste Stück Ibsens. Uraufgeführt wurden die
„Gespenster“ in Amerika, in Chicago und lösten einen Skandal aus. Dass es ein
Dramatiker wagt, die freie Liebe, noch zwischen Halbgeschwistern, zu thematisie3
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ren und dann auch noch die Syphilis als Erbkrankheit darzustellen, war dem Publikum zuviel. Erst viel später konnten die „Gespenster“ auch in Norwegen aufgeführt werden. Medizinisch ist zwar Syphilis nicht erblich. Ob dies Ibsen bereits gewusst hat, weiss ich nicht. Es spielt aber keine Rolle.
In gewisser Weise ist es eine Fortsetzung des Schauspiels: „Nora – ein Puppenheim“. Nora bricht dort aus ihrer Ehe mit Helmer aus, als sie gewahr wird, dass
dieser ein Charakterlump ist. Sie bricht damit mit allen gesellschaftlichen Normen
ihrer Zeit, um sich selbst zu retten. „Gespenster“ nun zeigt die Frau, die eben aus
der Ehe nicht ausbricht, sondern – wenn auch von ihrem Jugendfreud Manders
gezwungen – in die Hölle ihrer Ehe zurückkehrt, um genau diese gesellschaftlichen
Normen mit allen Konsequenzen zu erfüllen. Das Stück zeigt, was auch aus Nora
geworden wäre, hätte sie den Schritt aus dem Puppenheim nicht gewagt.
Ibsen baut sein Stück als Enthüllungsdrama auf. Am Anfang ist alles bestens, ein
Kinderheim ist entstanden, der Ruf des Hauptmanns Alving scheint gerettet. Der
Sohn ist zurückgekommen, Regine ist ein blühendes Mädchen. Der bornierte Pastor Manders bringt die ganze Enthüllung ins Rollen und ruft die Wiedergänger auf
den Plan. Als er im Gespräch merkt, dass Oswald eine ziemlich freie Vorstellung
hat von der Liebe, macht er Frau Alving bittere Vorwürfe. Sie habe den Sohn weggeben, weil sie frei sein wollte. Sie habe ihre Pflichten als Mutter und die Normen
der Gesellschaft verletzt, wirft er ihr vor. Das Gegenteil trifft zu. Helene hat das
Kind weggeben, gerade, weil sie die gesellschaftlichen Normen hat erfüllen wollen,
um dem Sohn einen tadellosen Vater zu bewahren. Mit den Vorwürfen des Pastors,
die er eigentlich in erster Linie sich selbst machen müsste, beginnen die Enthüllungen. Genial ist es nun, dass Ibsen diese Katastrophen nicht nur für uns Zuschauer enthüllt. Sondern wir werden ihrer im gleichen Moment gewahr, wie die
Hauptpersonen. Die „Gespenster“ sind ein Enthüllungsdrama in doppeltem Sinne.
Nicht nur wird dem Zuschauer enthüllt, was in der Vergangenheit passiert ist, sondern die Wiedergänger suchen die Protagonisten im gleichen Moment heim wie
uns. Frau Alving wird sich bewusst, wie feige sie war, als sie in die Ehehölle mit
dem Hauptmann zurückgekehrt ist. Ihre Lebenslüge wird ihr in diesem Moment
bewusst. Dem eigentlich Schuldigen, dem Pastor, wird gar nichts bewusst. Die
Feigheit hat aber noch weit grössere Konsequenzen für den Sohn Oswald. Sie
schickt ihren Sohn weg und verurteilt ihn damit zum geistigen Tod. Ihr Selbstopfer,
auf das sie sich sehr viel eingebildet hat, erweist sich in Wahrheit als Opferung des
eigenen Kindes. Opferung des eigenen Kindes ist nun mit den gesellschaftlichen
Normen in keiner Weise mehr vereinbar. Sie gerät in einen unlösbaren Konflikt mit
den Normen, die sie um alles in der Welt hat einhalten wollen. Trotz ihres guten
Willens bewirkt sie eine Katastrophe nach der anderen.
Man hat Ibsens „Gespenster“ mit einer antiken Tragödie verglichen. Dies nicht zu
Unrecht. In der Tat ist auch Helene Alving, wie etwa König Ödipus, eine tragische
Heldin, weil sie letztlich unschuldig schuldig ist und sich in einer ausweglosen Situation befindet. Zweck der griechischen Tragödie war es, den Menschen zu läutern, sie hatte eine, fast könnte man sagen, psychoanalytische Dimension. In der
antiken Tragödie war jedoch den Protagonisten ihre Schuld bewusst, und der
Zweck bestand darin, den Zuschauer in der Katharsis diese Schuld als eine allgemein menschliche Schuld vor Augen zu führen. Bei Ibsen jedoch wird Frau Alving
des ganzen Ausmasses ihrer Schuld eigentlich erst mit den letzten Worten des
Dramas ganz bewusst und dies im gleichen Moment wie auch uns Zuschauern.
Katharsis, Läuterung ist aber auch der Zweck von Ibsens Tragödie. Nur ist es nicht
das Individuum, das sich seiner Schuld bewusst werden muss, sondern es ist die
Gesellschaft als Ganzes. Die Gesellschaft soll sich ihrer rigiden Normen bewusst
werden, welche die Menschen schuldig machen. Helenes Fehler bestand darin,
dass sie sich von Manders in die Ehe zurückstiessen liess, um die Normen dieser
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Gesellschaft nicht zu verletzten. Das Grauenhafte besteht nun vor allem darin,
dass genau jener Mensch aufs Härteste bestraft wird, der diese Normen mit allen
Mitteln erfüllen wollte. Jene, die sie nicht erfüllen, gehen ohne Strafe aus. Der
bornierte Pastor, der seine Feigheit hinter den grossen Worten von Pflicht und Ehre
versteckt und Engstrad, ein Lügner, der die Normen zu seinen Gunsten auszulegen
weiss. Wer aber die Normen verinnerlicht und sie kompromisslos zu leben gewillt
ist, geht daran zu Grunde. Das ist die Lebenslüge, nicht nur der Frau Alving, sondern der ganzen Gesellschaft.
Ibsens Schauspiel oder seine Tragödie ist aber noch weit mehr: Sie ist auch eine
Tragödie, welche die Aufklärung zum Thema macht. Sie ist ein aufklärerisches
Drama.
Im zweiten Akt sagt Frau Alving: „Ich glaube fast, wir sind allesamt „Gespenster“.
Es ist ja nicht nur, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, das in uns herumgeistert; auch alte, abgestorbene Meinungen aller Art, alte abgestorbene Überzeugungen und ähnliches. Sie sind nicht lebendig in uns, aber sie sitzen doch in uns
fest und wir können sie nicht loswerden. Die „„Gespenster““ scheinen im ganzen
Land zu leben. Sie scheinen so zahllos zu sein, wie Sandkörner. Und darum sind
wir alle so gotterbärmlich lichtscheu; wir alle miteinander.“ Licht ist die Metapher
der Aufklärung. Die Vernunft ist das Licht, das die alten Meinungen und die zwanghaften Normen überwinden müsste, wenn wir „aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ausgehen“ wollen. Wir Menschen müssen, so Ibsens Aufruf, unsere
Vernunft einsetzen und die Bigotterie und die Verderbnis der Normen erkennen
und uns vor allem von ihnen befreien. Dies gelingt Frau Alving nicht, sie entzündet
die Lampe der Aufklärung zu spät. Ibsen macht uns klar, dass es zu spät sein
kann, Erkenntnis zu leben. Eine verspätete Rebellion ist keine mehr! Die Versäumnisse der Vergangenheit lassen sich nicht mehr ausräumen, sie kommen als Wiedergänger, als Untote, immer wieder mit Macht. Hauptmann Alving vergeht sich
am Dienstmädchen im Wintergarten in einer ungesetzlichen und von der Gesellsc
haft geächteten Beziehung. Die Beziehung von Oswald und Regine, die sich im
Wintergarten anbahnt – oder mehr, das hängt von Regisseur ab – ist Inzest, also
ein Tabubruch gegen die Gesetze der Natur. Die Wiedergänger werden stärker.
Das heuchlerische Kinderheim brennt ab durch die Schuld des Pastors, der aber
dadurch keineswegs zu Einsichten gelangt. Helenes Idee, die Sünden ihres Mannes
durch eine gute Tat zu sühnen, geht in Rauch auf.
Das Stück endet mit den Worten „Mutter, gib mir die Sonne!“ Die Sonne ist im
ganzen Stück präsent, dadurch, dass sie nicht scheint. Im Moment, in dem
Oswalds Krankheit ausbricht, bricht auch die Sonne durch und damit die Erkenntnis. Aber es ist zu spät. Oswald stirbt und wird zum Untoten, zum Gespenst und
Wiedergänger. Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr bewältigen.
Sie sehen, meine Damen und Herren, ein Schauspiel oder eine Tragödie von einer
gewaltigen Reichweite. Ich habe zu Beginn gesagt, Ibsen sei einer der bedeutendsten Dramatiker überhaupt. Die „Gespenster“ sind ein Musterbeispiel.
Alles wird in die Handlung eingebunden. Alle dramatische Bewegung geschieht im
Moment und vor unseren Augen. Es braucht in diesem Stück niemanden, der uns
die Vorgeschichte erzählt. Die Vorgeschichte ist gleichsam die Handlung selbst.
Wir sind in diese dramatische Bewegung völlig eingebunden, die Protagonisten erkennen mit uns zusammen oder vielmehr wir mit ihnen. Das gibt dem Drama eine
ungeheure Bühnenpräsenz. In der Mitte steht Frau Helene Alving als tragische Figur, ihre Tragik, ihre Schuld, in die sie unschuldig gerät, entfaltet sich vor unseren
Augen. Am Schluss steht die alles umfassende Katastrophe, alle Hoffnung geht
verloren.
Trotz dieser umfassenden Bedeutung ist das Drama im äusseren Rahmen denkbar
einfach: die ganze Handlung spielt in einem einzigen Schauplatz, im Salon des
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Hauses der Frau Alving. Das Einzige, das ausserhalb passiert, ist der Brand des
Kinderheims. Er wird durch einen Blick durchs Fenster in das Drama einbezogen.
Das ganze Drama geht in einem Zug durch. Alles geschieht auch hier vor unseren
Augen. Die dargestellte Zeit entspricht ziemlich genau der Zeit, die wir im Theater
verbringen. Erzählzeit ist erzählte Zeit. Es gibt keine Nebenhandlungen. Alles, was
auf der Bühne geschieht, hängt zusammen, kein Satz, der nicht Folgen und Bedeutung hätte. Ibsens Drama folgt damit absolut den aristotelischen Kriterien.
Trotz dieses antiken Vorbildes steht Ibsens Drama am Beginn der Moderne.
7. Mai 2015
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