Eine traurige Bilanz für die Freiheit - Hayek

Gedanken zum Jahreswechsel 2015/2016:
Eine traurige Bilanz für die Freiheit
Die Einschläge kommen näher. Wer für eine freiheitliche Ordnung eintritt, für den hat es im
vergangenen Jahr wenig Anlass zur Freude, aber viel Anlass zur Sorge gegeben. Manchmal konnte
man gar Angst bekommen.
Wir haben einige der schwersten Anschläge auf die Freiheit seit langem erlebt, beginnend mit dem
Massaker an Redakteuren der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ im Januar. Ihr Vergehen: Sie hatten
Mohammed verhöhnt. Als Bürger und Journalist habe ich einen Schauder gespürt angesichts dieses
abscheulichen Anschlags auf die Pressefreiheit. Am gleichen Tag wurde noch ein jüdischer Markt in
Paris attackiert, insgesamt gab es gut ein Dutzend Tote. Gewalttätige Islamisten haben im November
in Paris noch einmal zugeschlagen, dabei gab es sogar 130 Tote.
Die Freiheit und Sicherheit in Europa waren schon lange nicht mehr so gefährdet wie jetzt. Und wie
reagieren wir darauf? In seinem Buch „Keine Toleranz den Intoleranten“ über den schizophrenen
Umgang der Intellektuellen des Westens mit dem Vordringen des radikalen Islams schreibt der
Kulturjournalist Alexander Kissler, dass es eine Tendenz zu einer „mentalen Islamisierung“ gebe –
nämlich die Scheu, den inakzeptablen, totalitären Kern der islamischen Polit-Religion konsequent zu
kritisieren. Stattdessen hören wir viel Appeasement.
„Bloß nicht provozieren“, lautete die Devise, die viele Politiker, Gutmeinende und professionelle
Beschwichtiger befolgen. Ich meine, eine der größten Gefahren für die Freiheit in den kommenden
Jahren wird darin bestehen, dass das – oft auch schleichende – Vordringen des radikalen Islams in
Europa im Namen einer falsch verstandenen Toleranz geduldet wird und dass Kritik aus Gründen der
„Political Correctness“ unterdrückt oder als „islamophob“ oder gar „fremdenfeindlich“ diffamiert wird.
Die „Schere der Selbstzensur in den Köpfen“ (Kissler) schneidet scharf.
Vor siebzig Jahren, als Friedrich August von Hayek sein politisches Werk „Der Weg zur Knechtschaft“
veröffentlicht hatte, war die freie Gesellschaft vor allem durch den Megatrend zur Planwirtschaft
gefährdet. Nicht nur im Osten, auch in Europa gab es viele, die sozialistische Planungstechniken in
Wirtschaft und Gesellschaft dem freien Markt als überlegen ansahen. Obwohl der real existierende
Sozialismus im Osten krachend gescheitert ist, bleiben unterschwellig viel Sozialismus-Sympathien
und viel Ressentiments gegen den Kapitalismus bestehen.
Bis heute haben viele nicht verstanden, dass der Markt – in einer Ordnung, die den Wettbewerbs
sichert – Chancen für nahezu jeden bietet und durch Wahlmöglichkeiten die Freiheit sichert. Hinzu
kommt, dass die Marktwirtschaft in allen Ländern, in denen sie konsequent verwirklich wurde, zu einer
erstaunlichen Zunahme des Wohlstandes geführt hat. Die Bundesrepublik hatte nach dem Zweiten
Weltkrieg das Glück, dass sie einen Wirtschaftspolitiker hervorbrachte, der – inspiriert von der
Freiburger Schule um Eucken und auch von Hayek – eine (soziale) Marktwirtschaft errichtete – im
Unterschied zum vorherrschenden planwirtschaftlichen Zeitgeist. Ludwig Erhard war ein großes Glück
für Deutschland.
Leider haben die Deutschen nach und nach das geistige Erbe Erhards vergessen. Die soziale
Marktwirtschaft wird in Sonntagsreden gepriesen, doch im Alltag versündigen sich die Politiker immer
wieder an den Grundprinzipien, dass der Staat zwar den Rahmen errichten soll, nicht aber in den
Preismechanismus eingreifen soll.
Oder ausgedrückt in der Sprache des Fußballs: Der Staat soll die Spielregeln aufstellen und lediglich
Schiedsrichter sein, aber er ist immer öfter Mitspieler, weil den Politikern die Rolle des Unparteiischen
nicht reicht. Sie wollen das Spielergebnis bestimmen, und sorgen so für ein schlechtes Spiel.
Im vergangenen Jahr haben sich die Politiker in Deutschland weitere Eingriffe in den Markt erlaubt
oder diese fortgeführt. Das wird sich rächen, es kostet Wohlstand und Freiheit. Die planwirtschaftliche
Energiewende, die auf einer absurden „Anmaßung von Wissen“ der Politik über die richtige
Stromerzeugungstechnik beruht, wird fortgeführt. Vorwärts, mit dem Kopf gegen die Wand. Die Kosten
für die gesamte absurde Energieplanwirtschaft wachsen in dreistellige Milliardenhöhe. Jährlich werden
allein über 20 Milliarden Euro zwangsweise von den Stromkunden zu privilegierten „grünen“
Stromproduzenten umverteilt.
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Beim Versuch, das Weltklima zu retten, setzt die Politik weiterhin auf zahlreiche EU-weite und
nationale Einzelregulierungen, aber nicht auf das naheliegende marktwirtschaftliche Instrument eines
globalen Emissionszertifikate-Handelssystem, das die angestrebte Minderung zu den günstigsten
Grenz- und Gesamtkosten erreichen würde. Der gegenwärtige Weg, den vor allem die deutschen
Grünmenschen und Ökoplanwirtschaftler fast aller Parteien mit sturer Beharrlichkeit gehen, ist extrem
teuer und ineffizient.
Erstmals seit 1949 gilt in der Bundesrepublik seit Anfang vergangenen Jahres ein staatlich gesetzter
Mindestlohn. Zuvor galt die Tarifautonomie als zentrale Säule der sozialen Marktwirtschaft, sie ist eng
mit der Vertragsfreiheit verbunden. Doch die Vertragsfreiheit wird immer mehr ausgehöhlt und
beschädigt (auch durch die Antidiskriminierungsgesetze). Zwar kam es durch den Mindestlohn-Eingriff
nicht direkt zu Verwerfungen am Arbeitsmarkt, doch stellt der Mindestlohn künftig eine Hürde für
Geringqualifizierte dar, so dass diese einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Gleiches
gilt für die im vergangenen Jahr eingewanderten rund eine Million Asylbewerber.
Die Regulierung des Arbeitsmarktes in Deutschland gilt im internationalen Vergleich als hoch. Zum
Jahreswechsel tritt die gesetzliche Frauenquote in Aufsichtsräten für mehrere Tausend Unternehmen
in Kraft. Zur Krönung der Überregulierung betreibt das SPD-geführte Bundesfamilienministerium für
2016 weiter die Einführung eines „Entgeltgleichheitsgesetzes“ voran. Es soll sicherstellen, dass
Frauen und Männer für „gleiche Tätigkeiten“ gleichen Lohn erhalten, doch wie will der Staat feststellen
und überprüfen, was gleiche Tätigkeiten und gleiche Karrierewege sind. Hier droht das nächste
Bürokratiemonster, wenn Arbeitgeber die entsprechenden Nachweispflichten erbringen müssten.
Außerdem wäre ein solches Gesetz ein weiterer Nagel am Sarg der Vertragsfreiheit und
Tarifautonomie in Deutschland.
Die Flüchtlingskrise ist seit vergangenem Sommer das beherrschende Thema und wird wohl auch
2016 die politischen Diskussionen dominierten. Auch freiheitlich gesinnte Menschen sind besorgt, wie
tiefgreifend der Strom der Asylsuchenden überwiegend aus islamischen Regionen, in denen
Religionsfreiheit, politische Freiheit und Gleichberechtigung von Männern und Frauen verwehrt
werden, dieses Land verändern wird. Zugleich hat sich Deutschland durch seinen Sonderweg in der
Asylpolitik, beginnend mit dem Alleingang der Bundeskanzlerin zur Öffnung der Grenzen, in der EU
isoliert. Die Spannungen in Europa angesichts der Flüchtlingskrise werden wohl noch diejenigen
während der Euro-Krise übertreffen.
Die Euro-Krise ist zwar bei weitem nicht ausgestanden, doch wird sie durch das starke BreitbandAntibiotikum der Europäischen Zentralbank (EZB) überdeckt. Durch das billige Geld wird in Teilen des
Kontinents eine Art Konkursverschleppung betrieben, bankrotte Banken und Staaten wurden durch
das Billiggeld gerettet und die notwendigen Reformen und die Haushaltskonsolidierung eher auf die
lange Bank geschoben. Die EZB hat angekündigt, 1,5 Billionen Euro Anleihen, überwiegend
Staatsanleihen zu kaufen. Der Ausgang dieses geldpolitischen Experiments ist völlig offen. Wenn es
schlecht läuft, verliert die EZB ihre Unabhängigkeit und wird zum Staatsfinanzierer, der sich auf
Gedeih und Verderben mit hochverschuldeten Regierungen verbunden hat.
Mit dem dritten sogenannten Hilfspaket ist das Trauerspiel der „Griechenland-Rettung“ einen Akt
weitergekommen. Am Ende dieser Tragödie wird die Erkenntnis stehen, dass große Teile der
Hilfskredite (von derzeit schon rund 200 Milliarden Euro) unwiederbringlich verloren sind und
abgeschrieben werden müssen. Diesen Verlust für die europäischen Steuerzahler werden die
verantwortlichen „Rettungspolitiker“ indes zu verschleiern versuchen, indem die ohnehin schon sehr
niedrigen Zinsen weiter gesenkt werden und die Lautzeiten bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag (ad
calendas graecas) verlängert werden. Es bleibt abzuwarten, ob der deutsche Steuermichel das
durchschaut. Schon jetzt findet im Zuge der Euro-Rettung (via Geldpolitik) eine große Umverteilung
statt: von Sparern zu Schuldnern und vom Privatsektor zum Staat.
Als Hayek 1944 seine Streitschrift „Der Weg zur Knechtschaft“ publizierte, widmete er sie den
„Sozialisten in allen Parteien“. Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft hat den Weg in die
Knechtschaft zunächst gestoppt und umgekehrt, aber seit den siebziger Jahren wurde er wieder
beschritten und in vergangenen Jahr ist er dem Ziel ein gehöriges Stück nähergekommen. „Mit dem
Rückgang der freien Marktwirtschaft ging auch die Erkenntnis dessen, was von ihrer Existenz abhing,
verloren“, schrieb Hayek.
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Der Markt ist die wirtschaftliche Manifestation der Freiheit. Gleichzeitig ist aber die Marktwirtschaft
auch die Bedingung der Freiheit, denn mit der wirtschaftlichen Entmündigung geht auch die
persönliche Freiheit verloren. Der Wert der Ersparnisse der Bürger wird durch die EZBGeldschwemme und die Null-Zinsen gefährdet, wenn es wie in der Vergangenheit zu Inflation kommt.
So oder so belasten die hohe Staatsverschuldung und die Billionen-Haftung kommende
Generationen. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit in Teilen Südeuropas destabilisiert die EU
politisch, indem Bewegungen wie Syriza, Podemos, aber auch der Front National Auftrieb erhalten
oder gar an die Macht kommen.
Nicht der totalitäre Sozialismus des 20. Jahrhunderts ist die heutige ökonomisch-politische
Hauptgefahr, sondern der „schleichende Sozialismus“, der sich in den Reglementierungen und
Markteingriffen durch Mindestlohn, Quoten, Regulierungen, die hohe Steuer- und Abgabenlast und die
umfassende Bürokratie zeigt. Einer der größten Kostentreiber bleibt die Energiewende. Unerfreuliche
„Fortschritte“ haben auch die sich herausbildenden europäischen Transferunion und der EUZentralismus im vergangen Jahr gemacht. Hinzu kommen Erosionstendenzen des Bildungswesens.
Zu schlechter Letzt muss man das Gender Mainstreaming als freiheitsfeindliche neue
Umerziehungsideologie erwähnen, die sich immer weiter ausbreitet – in der Alltagssprache wie auch
in Gesetzen und Verordnungen.
Hayek war einer der Warner vor dem Verlust bürgerlicher Freiheit. Im totalitären Sozialismus war es
die Stasi, die den „Primat der Politik“ absicherte. Heute ist es die politische Korrektheit, die nicht
Telefone abhört, dafür aber die Zensurschere schon im Kopf ansetzt. „Der Wandel läuft auf eine
völlige Umkehrung…hinaus, auf eine völlige Aufgabe der individualistischen Tradition, der wir die
abendländische Kultur verdanken“, schrieb Hayek.
Das Wort von der „Alternativlosigkeit“ sollte zum Unwort nicht des Jahres, sondern des Jahrzehnts
ernannt werden. Es beschreibt den beklagenswerten Zustand unserer „politischen Kultur“. Demokratie
hat Hayek als „Regierung durch Diskussion“ bezeichnet (Verfassung der Freiheit, S. 142). Mehrheiten
beschreiben nur den Willen, garantieren aber nicht die Richtigkeit einer Entscheidung. Daher setzt
Demokratie voraus, „dass eine Minderheitsansicht die Ansicht einer Mehrheit werden kann“ (S. 140).
Die Merkel-Politik lebt nicht von demokratischen gesellschaftlichen Diskussionen, Argumenten und
Wahlmöglichkeiten, sondern von „Alternativlosigkeit“. Sie bricht sogar sehenden Auges Verträge.
Zunächst den von Maastricht (mit der No-Bailout-Klausel), im vergangenen Jahr dann wurde in
Europa die Verletzung der Regeln von Dublin III und Schengen in der Asylkrise endemisch. Nach der
Euro-Rettung und der Energiewende ist nun auch die „Politik der offenen Grenze“ alternativlos.
Demokratie lebt von einer starken Opposition. In der Merkel-Republik werden „Dissidenten“ in ihrer
Partei ausgegrenzt, Kritiker als „Europafeinde“ oder „Asylfeinde“ stigmatisiert. Das spaltet die
Gesellschaft und macht eine lebendige Diskussion unmöglich. Wie nennt man eine Demokratie ohne
Opposition?
Zunehmend wird Krisenpolitik unter Umgehung oder Übergehung des Parlaments gemacht. Die
Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungen sind extrem stark exekutiv vorgeprägt, die
Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes“ wurden entweder nicht gefragt oder ihre Zustimmung
unter (Zeit-)Druck quasi erpresst. Bei den Euro-Hilfspaketen hatte der Bundestag keine wirkliche Wahl
(die Unterlagen für Abstimmung über das dritte Griechenpaket gab es beispielsweise erst am Morgen
der Abstimmung), bei der Entscheidung über die „Aussetzung“ der Dublin-Regeln wurde es noch nicht
einmal gefragt.
Wir erleben damit die schleichende Veränderung der staatlichen Ordnung von der parlamentarischen
hin zu einer exekutiven Demokratie – kurz und bewusst überspitzend kann man es auch „PostDemokratie“ nennen. So gesehen war das Jahr 2015 kein gutes für die Freiheit. Die Demokratie und
der Wettbewerb der Ideen dürfen nicht völlig erstickt werden unter der Grabplatte der
„Alternativlosigkeit“, sondern müssen wieder aufleben.
Philip Plickert, 1. Januar 2016
Ich danke einigen Vorstandskollegen des Frankfurter Hayek-Clubs, namentlich Harald Oestreich,
Thorsten Lieb, Gerd Robanus und Ramin Peymani, sowie Mustafa Basak für sehr hilfreiche
Anregungen und teils größere Textzulieferungen. Die Aussagen des Gesamttextes bleiben
selbstverständlich nur mir zuzuordnen.
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