ICAE Working Paper Series
No. 39
November 2015
Ökonomie und Moral
Eine kurze Theoriegeschichte
Walter Otto Ötsch
Institute for Comprehensive
Analysis of Economy
Institut für
die Gesamtanalyse der
Wirtschaft
Johannes Kepler
Universität Linz
Altenbergerstraße 69
4040 Linz
Austria
Tel.: +49 732 2468 3402
[email protected]
www.icae.at
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Ökonomie und Moral
Eine kurze Theoriegeschichte
Walter Otto Ötsch
Die ökonomische Theorie hat mit Moral wenig oder gar nichts zu tun. In den gängigen Lehrbüchern
der Mikroökonomie findet sich in den Stichwortverzeichnissen kein Eintrag zu Moral oder zu Ethik.
Die Studierenden lernen über die Wirtschaft nachzudenken, aber sie lernen nicht, systematisch über
ethische Fragen zu reflektieren. Nach der neoklassischen Lehre, wie sie in den Lehrbüchern
präsentiert wird, weist wirtschaftliches Handeln nicht grundsätzlich moralische Aspekte auf. Ein
solcher Tatbestand ist erstaunlich. Er widerspricht (phänomenologisch) unseren ökonomischen
Alltagserfahrungen und (theoriegeschichtlich) einer jahrhundertelangen Tradition, die vor gut zwei
Jahrhunderten schrittweise aufgegeben und im 20. Jahrhundert durch dezidiert morallose
Standpunkte ersetzt worden ist.
1. Persönliche Alltagserfahrungen
Unser Leben zerfällt in viele Bereiche: LebenspartnerIn, Kinder, Eltern, Freunde und Freundinnen,
KollegInnen, MitarbeiterInnen, NachbarInnen usw. In jedem Bereich ist es selbstverständlich,
moralisch zu handeln und von anderen ethische Handlungsweisen zu erwarten. Wir vermitteln
Kindern eine Vielzahl von Regeln, Normen, Einstellungen und Wertungen. Das Ziel von Eltern ist es,
ihre Kinder zu moralisch wertvollen Menschen zu erziehen. Wir erwarten von PartnerInnen und
FreundInnen ein ethisch akzeptables Verhalten und wenn uns dies nicht entgegengebracht wird (oder
wenn wir glauben, dass dies nicht getan wird), sind Konflikte oder Trennungen die Folge. Im Streit
oder auf dem Weg zu einer Trennung ist immer von moralischen Sachverhalten die Rede.
Dasselbe gilt für Beruf und Job. Wir akzeptieren vielleicht ein unethisches Verhalten von
Vorgesetzten, aber nur in einem beschränkten Ausmaß. Die meisten Leute kündigen (wenn ihnen dies
möglich ist), wenn an ihrer Arbeitsstelle amoralische Handlungen überhand nehmen. In jedem Fall
wird man oder frau über moralische Verfehlungen entrüstet sein. Im konkreten Umgang mit
konkreten Menschen wird wirtschaftliches Verhalten immer moralisch wahrgenommen und

Dieser Text wurde publiziert in: Seckauer, Hansjörg; Stelzer-Orthofer, Christine; Kepplinger, Brigitte (Hg.): Das
Vorgefundene und das Mögliche. Beiträge zur Gesellschafts- und Sozialpolitik zwischen Ökonomie und Moral.
Festschrift für Josef Weidenholzer, mandelbaum wissenschaft, Wien 2015, 100-110.
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moralisch beurteilt. Wie kann dann die Wirtschaft per se, wie dies die Lehrbücher suggerieren, ohne
Berücksichtigung von Moral bewerkstelligt werden? Wie ist eine moralfreie Theorie der Wirtschaft
überhaupt möglich?
2. Antikes und mittelalterliches Gewissen
Ethik und Moral entstehen nicht voraussetzungslos, sie besitzen ihre Kulturgeschichte. Ein knappster
Überblick seit der griechischen Antike könnte so aussehen: In der Ilias gibt es keine Ausdrücke für
„psychisches“ Geschehen. Den Menschen wird kein Gewissen zugesprochen, sie erscheinen „frei“ von
persönlicher Schuld.1 Ein Vorgängerbegriff zu Gewissen ist das spätere syneidesis (wörtlich: mitsehen, vgl. Schinkel 2006, 131ff.). Bei Sokrates erscheint ein eudaimonion in Form einer inneren
Stimme. Sie gibt Sokrates Ratschläge, die er befolgt (Helferich 1998, 22). Plato übernimmt diese
Sichtweise. Zum ersten mal in der Philosophie spricht er von einem einzigen „Innen-Raum“, der „im“
Menschen vorhanden ist (Taylor 1994, 214ff.). In diesem Raum findet Plato eine vernünftige Seele, sie
lenkt den Menschen. Ähnliche Gedanken äußert Aristoteles. In der hellenistischen Zeit (vereinfacht
im 1. Jhdt. vor und im 1. Jhdt. n.Chr.) erscheint das Gewissen als eine Erkenntniskraft des Guten und
Bösen, z.B. bei Philo von Alexandrien (Schinkel 2006, 136ff.). Mit dem Christentum wird das Gewissen
an einen höheren Seelenteil gebunden. Augustinus (vermittelt über Plotin) formuliert ein
siebenstufiges Modell des „Inneren“ mit einer personalen Seele, welche direkt mit dem christlichen
persönlichen Gott in Beziehung steht (Tarnas 1997, 119ff. und Helferich 1998, 81).
3. Wirtschaften in einer moralischen Welt
Die Anthropologie des Menschen mit Gewissen hat direkte Konsequenzen auf die Lehre von der
Wirtschaft. Der Mensch als Moralwesen muss in der Antike und im Mittelalter Wirtschaften moralisch
betreiben. Das Ökonomische ist in die Gesellschaft eingebunden, die ihrerseits auf einem
moralischen Fundament ruht. Geld ist z.B. bei Plato ein soziales Medium. Es dient der Überbrückung
der qualitativen Differenzen von Tätigkeiten und Bedürfnissen. Bei Aristoteles überbrückt Geld die
kategoriale Differenz zwischen der einen Politik und der vielen Häuser (davon die Ökonomie als
1
Das ist die Deutung von Snell 1946, Dodds 1970 und Erbse 1984 und 1986. „Denken“ besitzt in der Ilias immer
einen Bezug auf die Umwelt oder auf andere Personen, aber nicht auf innere Erlebnisqualitäten. Das Wort
psyche hat die Bedeutung von "Leben" oder "Lebenssubstanz". Psyche ist eine Eigenschaft von Lebewesen, aber
nicht von selbst-bewussten Menschen. Es gibt einzelne Aspekte, die wir „psychisch“ verstehen würden (wie
noos, thymos, menos oder psyche), die aber zugleich körperliche Organe oder körperliche Reaktionen meinen:
"Sowohl in der Erzählung des Dichters wie in der Reflexion der Handelnden werden also nur diese seelischen
Wesenheiten sichtbar, die Homer nach Analogie von körperlichen Organen deutet. Wo sie in Beziehung sind,
sind sie auch nur Ergänzung eines unausgesprochenen (körperlichen) Teilaspekts (und umgekehrt)." (Erbse
1984, 213f., vgl. auch Snell 1946, 22ff.)
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Nomos = Gesetz des Oikos = Haus). Geld unterliegt dem Zweck, soziales Glück möglich zu machen
(Brodbeck 2009, 412ff.). In der Nikomachischen Ethik wird die Ökonomie (die Lehre von der rechten
Führung eines Hauses) zwischen Politik und Ethik angesiedelt. Diese Stellung behält sie bis ins 18.
Jahrhundert. Die Nikomachische Ethik fand auch als Lehrbuch im hohen Mittelalter Verwendung.
Thomas von Aquin z.B. nimmt auf Aristoteles direkt Bezug. Seine Wirtschaftslehre ist moralischer Art.
Sie manifestiert sich in ethischen Prinzipien der Wirtschaft (Langholm 1992), wie dem Prinzip des
gerechten Preises (iustum pretium) oder der Lehre vom sündhaften Wucher (usura) (Brodbeck 2009,
446ff.).
Im Merkantilismus vereinigen sich Polis und Oikos zu dem neuen Konzept einer politischen
Ökonomie, z.B. bei Montchretien im Traité de l‘economie politique 1615 (Bürgin 1996, 235ff.). Sie
dient dem absolutistischen Herrscher, der ein flächenmäßig abgestecktes Territorium regiert.
Ökonomie als Kunst für den Herrscher unterwirft sich politischen Zielen, traditionelle moralische
Prinzipien werden damit ausgehöhlt (Zaratiegui 1999, 211). Aber noch 150 Jahre später finden wir bei
Adam Smith ein explizites moralisches Argument. Der Mensch besitzt nach Smith ein „moralisches
Vermögen“, es entspringt seiner göttlichen „Natur“:
„Da dieses Vermögen also offenbar dazu bestimmt war, das herrschende Prinzip der
menschlichen Natur zu werden, müssen die Regel, welche es vorschreibt, als die Gebote
und Gesetze der Gottheit angesehen werden, welche uns durch jenen Statthalter
kundgemacht wurden, den die Gottheit in uns eingesetzt hat.“ (Smith 1994, 250).
In der Theory of Moral Sentiments entwirft Smith eine Theorie einer „inneren Welt“ (Ötsch 2007).
Hier laufen die Basisoperationen des sozialen Zusammenhalts ab. De Menschen verfügen nach Smith
über imagination: die Fähigkeit sich die „Innen-Räume“ anderer kognitiv und emotional zugänglich zu
machen. Weil alle dies gegenseitig tun (müssen), etabliert sich ein internal spectator, mit dem andere
und das eigene „Innere“ bewertet werden (Alvey 1999, 56ff.). Diese Instanz lenkt das Verhalten, sie
bildet den Rahmen auch für die wirtschaftliche Praxis. Die Menschen leben nach Smith in einem
moralischen Universum, das nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Natur selbst umfasst.
Naturgesetze werden in der Naturtheologie dieser Zeit auch als moralische Kommandos eines
wohlwollenden Gottes an die Natur verstanden (Ötsch 2007). Die Natur selbst bekommt
utilitaristische Züge, sie erscheint mit Moral „getränkt“ (Clark 1992, 44f.). Bei Smith bildet der Glaube
an ein moralisches Design der Welt und an eine Moralität, die aus dem Innen-Raum des Menschen
kommt, eine Einheit.
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4. Der moralfreie Homo Oeconomicus
Diese Tradition setzt sich in der Theoriegeschichte nicht fort. Als Antwort auf die „Soziale Frage“ im
Gefolge der Industriellen Revolution wird das Konzept eines moralischen Menschen schrittweise
modifiziert und dann aufgegeben. Diese Umdeutung von Moralität geht auf John Locke zurück (Taylor
1994, 438 spricht vom Lockeschen Deismus im Unterschied zum Deismus bei Smith). Meilensteine
finden sich bei Jeremy Bentham und dann (abgeschwächt) bei Robert Malthus sowie (verstärkt) bei
David Ricardo. Nach Locke (An Essay concerning Human Understanding, 1690) kommt der Mensch als
geistige tabula rasa zur Welt, er verfügt über keine angeborenen Ideen (Tarnas 1997, 389ff.). Der
Geist besteht nach Locke aus Ideen-Atomen, die aus Sinneswahrnehmung und Reflexion entspringen.
Der Innen-Raum des Menschen wird letztlich von „außen“ erklärt (Taylor 1994, 301ff.). Moralische
Einstellungen müssen durch andere anerzogen werden (ebenda, 448). Die jahrhundertelange Trinität
von Gott, Moral und Innen-Raum wird gesprengt. Natur hat nun nichts mehr mit Moral zu tun,
Naturgesetze sind moralfrei, - daraus entwickelt sich das positivistische Wissenschaftsverständnis.
Was früher als „Innen-Raum“ im Menschen gegolten hat, wird objektiviert und aus der „äußeren“
Umwelt erklärt.
Zeitgleich zur Neoklassik (im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts) entstanden zwei Strömungen in der
Wissenschaft: erstens in der Physiologie das Konzept des Gehirns (es löst das alte Seelenorgan ab,
Hagner 1997) und zweitens in der neuen Wissenschaft der Psychologie eine Richtung, in der das
Psychische als direkte Funktion des Physischen verstanden wird (z.B. Fechners „Psychophysik“ oder
Wundts Konzept des Bewusstseins, das aus psychologischen Gegenständen zusammengesetzt wird).
Diese Entwicklung mündete am Ende des Jahrhunderts in den Behaviorismus. Die tradierte
Bewusstseinspsychologie wandelte sich dabei zu einer Verhaltenspsychologie. Bei Watson wurde
schließlich der Begriff „Bewusstsein“ als unwissenschaftlich aufgegeben. Nur das extern
beobachtbare Verhalten galt als wissenschaftlicher Tatbestand. Es musste durch die Konditionierung
von „außen“, d.h. in Reiz-Reaktions-Modellen, erklärt werden.
Die Parallelen zur Neoklassik liegen auf der Hand (vgl. Brodbeck 2009, 731ff.). In beiden Fällen geht es
um eine Mechanisierung des Geistes: Psychophysik und Behaviorismus auf der einen, „psychomathematische Wissenschaft“ (Walras 1965, 71) und „Mechanik des Nutzens und des
Selbstinteresses“ (Jevons 1965, 2) auf der anderen Seite. Damit verblasst in der Wirtschaftstheorie
die Vorstellung von einem „Innen-Raum“. Moral besitzt keinen konzeptionellen Ort, an dem sie
entstehen könnte. Die ökonomische Theorie wird moralfrei. Die Psyche des neuen Homo
Oeconomicus erscheint zur Gänze objektiviert. Sie wird Gesetzen analog der Mechanik unterworfen.
Das, was früher Bewusstsein genannt wurde, wird von den ersten Neoklassikern durch ein quasi-
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mechanisches Feld (Nutzenfunktion bzw. Präferenzordnung) modelliert (Mirowski 1990, Ötsch 1990
und 2009, 145ff.), später wird dann jede psychologische Deutung abgelehnt.
„Neoklassische „Modellsubjekte [dürfen] keine über einen Objektcharakter
hinausgehenden Eigenschaften haben. Sie sind prinzipiell durch nichts außer ihrem Etikett
qualitativ von Automaten oder Programmen unterscheidbar. […] Statt von Subjekt kann
[…] mit gleicher Berechtigung von einem Programm gesprochen werden.“ (Blaseio 1986,
140 und 136f.)
In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird dieses Konzept weiter zugespitzt. Die topologische
Neuformulierung der allgemeinen Gleichgewichtstheorie durch Arrow und Debreu (z.B. Debreu 1959:
eine Grundlage für die Lehrbücher der modernen Mikroökonomie) basiert auf der Metapher eines
digitalen
Computers
(Mirowski
2002).
Der
wirtschaftende
Mensch
wird
als
informationsverarbeitendes Wesen konzipiert. Er verarbeitet „innerlich“ anhand eines fix
vorgegebenen Algorithmus Daten der Außenwelt und gibt sie „nach außen“ in Form von Angebotsoder Nachfragesignalen weiter (Ötsch 2009, 137ff.). Wirtschaftliches Handeln beruht auf der
optimalen Verarbeitung von Informationen, die den Individuen von „außen“ zufließen (die Preise auf
den Märkten). „Innere“ Informationen können nicht eigenständig generiert werden. Die Nutzen- bzw.
Präferenzordnung ist vorgegeben, ihre Entstehung oder Veränderung wird nicht erklärt. (Die
Manipulation von KonsumentInnen durch Werbung bleibt unerklärt bzw. wird bestritten.) Ein
neoklassischer „Akteur“ besitzt keine Reflexion, Selbstbezogenheit oder Kreativität. Was für Adam
Smith für den Menschen konstitutiv war, kann in der neoklassischen Wirtschaftstheorie nicht mehr
behandelt werden (Mirowski 2002, 438ff.). „Entscheidung“ hat in der Neoklassik mit einer Wahl von
selbstbewussten Individuen nichts gemein. „Wählen“ meint nur die automatische Reaktion einer
bewusstlosen Kalkulationsmaschine, die einem vorgegebenen Algorithmus folgt (Fullbrook 2005, 81).
Der moderne neoklassische Homo Oeconomicus (wie er in den Lehrbüchern der Mikroökonomie
erscheint) hat keinen Ort für genuin moralische Überlegungen. Weil die Quelle von Moral spätestens
seit Descartes zur Gänze im „Inneren“ des Menschen angesiedelt wird (Taylor 1994, 276ff.), muss eine
Theorie des Menschen, die auf „Innerlichkeit“ verzichtet, zwangsläufig ohne Moral auskommen.
„Moral“ wird in der Neoklassik - wenn überhaupt - in die Ausgestaltung der Präferenzrelationen
gepackt. Eine qualitativ-wertende Differenz von „egoistischem“ zu „altruistischem“ Handeln kann in
diesem Ansatz nicht mehr getroffen werden.
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5. Markt und Moralität bei Mises
Neben der Neoklassik ist im heutigen Neoliberalismus die Österreichische Schule in der Tradition von
Hayek und Mises bedeutsam. Hier geht man unmittelbar von Subjekten und ihrem Bewusstsein aus, ein scheinbarer Widerspruch zu der bisher vorgelegten Darstellung. Aber die Subjektivität bei Mises
und Hayek kommt zum einen ohne Moralität aus und will zum andern eine moralische Kritik des
Kapitalismus unmöglich machen.
Mises baut seine Wirtschaftstheorie auf einer Handlungstheorie auf. Er geht zwar von Subjekten aus,
beschränkt sich aber gleichzeitig auf das, „was am Handeln allgemeinmenschlich und notwendig ist,
also auf das, was nicht individuell und nicht persönlich ist“ (Mises 1940, 593). Dem folgend wird das
subjektive Bewusstsein so eingeschränkt, dass kein Platz für Moralität bleibt. Dafür ist der Konnex von
Bewusstsein, Handeln und Systembezug entscheidend. Handeln ist nach Mises direkt mit Bewusstsein
gekoppelt (ebenda, 14): „Handeln ist bewusstes Verhalten“ (ebenda, 11). Aber das „Bewusstsein“
spielt für seine Wirtschaftstheorie nur eine bedingte Rolle. Es besitzt nach Mises zwei Teile, - die
Einteilung selbst ist willkürlich (vgl. Thomasberger 2012, 110): einen notwendig und fixen und einen
variablen und veränderbaren Teil. Für das wirtschaftende Handeln ist der „fixe“ Teil des Bewusstseins
entscheidend. Hier finden sich nach Mises Kategorien, die dem Menschen „ewig und unwandelbar“
(Mises 1940, 185) vorgegeben sind, Mises spricht von Praxeologie. Sie wird a priori gesetzt. Eine
Begründung wird nicht geboten, aber ihre „Gewissheit“ ist „apodiktisch“ (ebenda, 61). Die
praxeologischen Kategorien können nach Mises zwar reflexiv erkannt, aber nicht verändert werden
(ebenda, 249). Im Widerspruch zu allen kulturwissenschaftlichen und reflexiv-philosophischen
Richtungen postuliert er: „Für die Praxeologie ist auch Bedeutung ein formaler Begriff ohne
materiellen Inhalt.“ (ebenda, 75, im Original kursiv). Der Mensch verliert damit seine Eigenschaft als
bedeutungsgebendes Wesen.
Ein derart reduzierter Mensch muss eine reduzierte Theorie der Wirtschaft zur Folge haben. Mises
„sucht“ ein Wirtschaftssystem, das der praxeologischen „Natur“ seines Menschen entspricht, und
„findet“ sie in der Marktordnung. Ihr Kern liegt in „dem“ Markt: „Der Mechanismus des Marktes gibt
der kapitalistischen Wirtschaft ihren Sinn“ (Mises 1929, 10). Mises läutet damit eine folgenreiche
Wende in der Theoriegeschichte ein, die Auswirkungen bis heute hat. Seine Denkfigur „des Marktes“
(im Singular), der als eine übergeordnete Instanz erscheint und wie ein Akteur auftritt, ist heute
ungemein populär geworden. Sie stellt die zentrale Kategorie im heutigen Marktradikalismus dar
(Ötsch 2009 und 2015). Sie findet sich in vielen zeitgemäßen Diskursen, - bis hin zu Merkels
Vorstellung einer „marktkonformen Demokratie“ (Pühringer 2015).
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„Markt“ und Einzelakteur werden bei Mises in einer asymmetrischen Machtkonstellation konzipiert,
die der Politik strenge Fesseln auferlegt: „der Markt“ (ein reiner Mythos, Ötsch 2009) erscheint als
übermächtig, der Einzelne in Relation dazu als ohnmächtig. In der Version von Mises ist der Mensch
mit seinem Geist („Geist“ bezeichnet für ihn etwas Unbekanntes, Mises 1940, 114) durch die
Praxeologie beschränkt. Er bedarf einer Lenkungsinstanz: „Der Markt weist dem Handeln der
Einzelnen die Wege und lenkt es dorthin, wo es den Zwecken seiner Mitbürger am nützlichsten
werden kann.“ (ebenda, 250f.) Diese „Lenkung“ ist aber kein „Zwang“, weil „der Markt“ nach Mises
der direkte Ausdruck der menschlichen „Natur“ ist. Gleichzeitig und folgerichtig wird ein
eigenständiges Konzept von Gesellschaft (in dem die Wirtschaft wie bei Smith eingebettet ist)
aufgegeben, - auch diesen Aspekt finden wir im Marktradikalismus heute. Gesellschaft geschieht
nach Mises „nirgends als in dem Handeln der Einzelnen“ (ebenda, 115). Eine „Vergesellschaftung“ von
Menschen geschieht nach Mises nur und ausschließlich im Tausch einzelner. Gesellschaft ist immer
„Gesellschaft als Tauschgesellschaft“ (ebenda, 139, vgl. auch 180). Politische Prozesse erscheinen
deshalb „dem Markt“ unterworfen: „Die politischen Fragen kann nur das praxeologisch und
insbesondere das nationalökonomisch orientierte Denken beantworten.“ (Mises 1940, 743)
Der Kern der „Tauschgesellschaft“ manifestiert sich nach Mises im „Gedankenbild der reinen
Marktwirtschaft“. Hier ist das „Marktgetriebe nicht behindert […] durch weitere institutionelle
Gegebenheiten, ihr Markt ist in dem Sinne ein freier Markt, als die Preisbildung nicht gestört wird
durch das Walten von Kräften, die für das Getriebe nicht notwendig sind“ (Mises 1940, 228). Aber
diese „Freiheit“ wird durch die Politik in vielfacher Weise „behindert“. „Behinderungen“ kommen
durch „Eingriffe“ in „den Markt“ zustande. „Eingriffe“ sind „Befehle“. Sie gehen „von einer
gesellschaftlichen Gewalt aus“ und „zwingen“ „die Eigentümer der Produktionsmittel und die
Unternehmer“ „die Produktionsmittel anders zu verwenden, als sie es sonst tun würden.“ (Mises
1929, 6). Dieser Logik folgend kann es für Mises nur zwei Wirtschaftsordnungen geben: „den
unbehinderten“ und „den behinderten Markt“. Damit reduziert sich der (unendliche) Denkraum
möglicher Ordnungen auf zwei (dichotome) Alternativen:
„Es gibt eben keine andere Wahl als die: entweder von isolierten Eingriffen in das Spiel des
Marktes abzusehen oder aber die gesamte Leitung der Produktion und der Verteilung an
die Obrigkeit übertragen. Entweder Kapitalismus oder Sozialismus; ein Mittelding gibt es
eben nicht.“ (Mises 1929, 12)
In diesem binären Code entspricht der Kapitalismus der „Natur des Menschen“, der „Sozialismus“
widerspricht ihr. Die eine Möglichkeit („der unbehinderte Markt“) ist das logische Gegenteil der
anderen („der behinderte Markt“). Wir können diese Unterscheidung allgemein „Markt“ versus
„Nicht-Markt“ nennen (Ötsch 2009 und 2014). Diese Dualität ist ein Kennzeichen des
Marktradikalismus. „Dem Markt“ wird dabei je nach Version „der Sozialismus“, „der Totalitarismus“,
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„der Interventionismus“, „die Planwirtschaft“, schließlich auch „der Keynesianismus“ und der „Sozial„ bzw. Wohlfahrtsstaat“ und dann in den radikalsten Versionen „der Staat“ selbst gegenübergestellt.
Die populäre Version ist die Frage „Wollt ihr mehr Markt oder mehr Staat?“
In dieser zweigeteilten Welt gibt es keine Aspekte, die beiden Systemen gemeinsam sind.2 Die Wahl
zwischen den System mutiert zur Scheinwahl, - und fundiert ein Denken, es gäbe zur aktuellen Politik
keine Alternative. In der Praxeologie nach Mises ersetzt die duale Logik eine historische oder
institutionelle
Untersuchung
vergangener,
gegenwärtiger
oder
zukünftig
möglicher
Wirtschaftssysteme. Damit wird „Nationalökonomie“ zu einer simplen Wissenschaft. Im Grunde muss
man nur wissen, wie „der Markt“ funktioniert, dann kann man im Prinzip alle Phänomene der
Wirtschaft erklären. (Genau das kann im heutigen Marktradikalismus beobachtet werden).
In diesem binären Ordnungs-Bild kann der Mensch nicht „aus sich“ ethisch handeln: eine „moralische
Wertung“ ist „für die Nationalökonomie“ […] belanglos.“ (Mises 1940, 225). Aber auf der Ebene von
Ordnungen werden starke Wertungen getroffen. Der „Dualismus von Markt und Obrigkeit“ (Mises
1940, 648) beschreibt den grundlegenden Antagonismus von „Freiheit“ und „Zwang“: „Markt“ wird
in Mises Werken ausschließlich mit positiven, das scheinbare Gegenteil mit negativen Ausdrücken
bedacht. Die Moralität des Systems der „freien“ Wirtschaft schützt die Moralität einzelner Akteure,
wie die Kapitalisten. Wer das nicht versteht, ist ein „Moralist“. Denn:
„Das Getriebe der Marktwirtschaft wird durch die Faktoren in Gang erhalten, die der
Moralist als Profitsucht, Eigennutz und Mammonismus verdammen will. […] Es ist ein
Missgriff, wenn man aus dem ganzen Gefüge die Unternehmer, die Kapitalisten und die
Bodeneigentümer herausgreift und nur an ihrem Verhalten Kritik übt.“ (ebenda, 704f.)
6. Markt und Moralität bei Hayek
Hayek ist ein Schüler von Mises. Er teilt dessen Marktradikalismus, erkennt aber, dass ein a prioriArgument auf schwachen Füßen steht. Er musste nach eigenen Worten „langsam“ lernen, dass „sich
mit einigem Nachdenken eine Begründung finden ließ, die er [Mises] nicht ausgesprochen hatte“.3
Hayeks Ziel war es, dem Kapitalismus ein endgültiges philosophisches Fundament zu geben (z.B.
Hayek 1971, 4). Dazu hat Hayek viele Versuche unternommen. Im Folgenden wird nur auf zwei Bezug
genommen.
2
Die binäre Ausschließlichkeit von „Markt“ und „Nicht-Markt“ im ökonomischen Denken stellt eine
Gemeinsamkeit zu demagogisch-populistischen Ansätzen im politischen Denken dar, das eine Ausschließlichkeit
der guten „Wir“ (z.B. „dem Volk“ oder „der christlichen Kultur“) zu „den Andern“ (z.B. „den Asylanten“ oder
„den Afrikanern“) behauptet (vgl. Ötsch 2002) und dokumentiert die fundamentalistische Seite des
marktradikalen Denkens (vgl. Ötsch 2009).
3 formuliert in Hayeks Einleitung zu: Mises, Ludwig (1978): Erinnerungen von Ludwig Mises, Stuttgart-New York,
XVI; zitiert nach Hennecke 2000, 58f.
10
In seiner Theorie der Evolution unterscheidet Hayek erstens nach der „frühen Urzeit“, hier handeln
die Menschen aus „Instinkten“ und „angeborenen Reaktionen“ (Hayek 1969, 9 und 13), und zweitens
nach der „entwickelten“, „erweiterten“ oder „spontanen Ordnung“: hier handeln Menschen aus
„Vernunft“. Die zweite Phase basiert auf den „Regeln des menschlichen Verhaltens, die sich allmählich
herausbildeten (insbesondere diejenigen, die Sondereigentum, Redlichkeit, Vertragsfreiheit, Tausch,
Handel, Wettbewerb, Gewinn und Privatsphäre behandeln.)“ (Hayek 1996, 8). Sie manifestiert sich
„in den Beziehungen des Marktes, die sich ständig bilden und erneuern müssen“ (ebenda, 36).
Die „natürliche“ Evolution der Menschheit zum „Markt“ war nach Hayek eine Evolution der Moral.
Die „Urhorde“ war beherrscht von „Solidaritätsgefühl und Altruismus“ (ebenda, 8), - Reste davon
finden sich in den sozialen Beziehungen innerhalb einer Familie. Die „abstrakte Ordnung“ hingegen
erfordert eine andere Art von Moral. Dabei müssen vor allem die abstrakten Eigentumsregeln (die
„den Markt“ konstituieren) als legitim anerkannt werden. Aber genau das verneinen nach Hayek die
„Sozialisten“ bzw. „die Linke“ (Hayek 1996, 25). Ihnen ist eine längst überholte Moral vorzuwerfen:
„Intellektuelle können natürlich behaupten, eine neue und bessere „soziale“ Moral
erfunden zu haben, die genau das bewerkstelligt, aber diese „neuen“ Regeln stellen einen
Rückfall in die Moral der primitiven Mikro-Ordnung vor und können schwerlich Leben und
Gesundheit der Milliarden Menschen erhalten, die die Makro-Ordnung nährt.“ (ebenda,
79).
Auch das Wissens-Konzept von Hayek dient der Fundierung der Moralität „des Marktes“. Dabei geht
Hayek (in Anklang an Mises) von einer dualen Natur des Bewusstseins aus. Die Menschen können die
Welt nicht direkt, sondern nur phänomenal beobachten, gefiltert durch eine sensory order, die ein
geschlossenes Netzwerk bildet (Hayek 1952). Diese „Zwischenschicht“ sei dem Menschen nicht
bewusst und bilde gleichzeitig die Basis für sein Bewusstsein und sein Handeln. Insbesondere die Art,
wie Menschen Informationen verarbeiten, laufe unbewusst ab und können auch von anderen nicht
beobachtet werden. (Aus diesem Grund macht es für Hayek keinen Sinn, in der Theorie von den
Präferenzen anderer zu reden). Hayek lehnt wie Mises ein „Innen“-Konzept im Menschen (in der
Vorstellung von Adam Smith) ab. Gleichzeitig erweitert Hayek aber das Subjekt-Konzept von Mises.
Für Mises sind Zwecke subjektiver Art, für Hayek hingegen auch Wissen generell, damit wird auch
eine informationstheoretisch konzipierte Neoklassik in Frage gestellt.
Wie bei Mises mündet Hayeks „Subjektivität“ in eine objektive Ordnung. Nach Hayek ist es den
Subjekten nicht möglich, sich direkt (kommunikativ) zu koordinieren, weil ihnen ihr eigenes Wissen
zum größten Teil gar nicht bewusst sei. Dazu muss wiederum eine über-menschliche (d.h. überbewusste) Instanz einspringen: „der Markt“ mit seinen Preisen. Er bewerkstelligt nach Hayek die
Lösung für das ökonomische Koordinationsproblem, das als Problem der Koordination von
verstreutem Wissen verstanden wird. Damit dies Sinn macht, muss Hayek (der sensory order der
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Subjekte zum trotz) „den Markt“ realistisch deuten und Marktpreise als subjektübergreifende Fakten
verstehen. (Wenn Wissen subjektiv ist, dann müsste auch das Wissen über aktuelle Preise subjektiv
sein, d.h. die Instanz der Preisbildung und ihre „Daten“ können für das Individuum nicht subjektüberschreitende
Qualitäten
besitzen.)
„Wettbewerb“
erscheint
in
diesem
Konzept
als
„Entdeckungsverfahren“ (Hayek 1969): die (objektive) Instanz „des Marktes“ „entdeckt“
herumliegendes (subjektives) „Wissen“ und führt es einer produktiven Verwendung zu.
Dieses Konzept enthält eine negative Aussage über moralische Überlegungen zu wirtschaftlichen
Tatbeständen. Moralität basiert auf Reflexion. Aber nach Hayek sind Subjekte nicht in der Lage,
angemessene Reflexionen zum und über das Wirtschaftssystem anzustellen. Dazu müssten sie
nämlich in der Lage sein, das Wirtschaftssystem mit ihrem subjektiven Wissen durchdringen zu
können. Aber genau das ist nach Hayek nicht möglich. Zum einen seien die Menschen in ihrem
Handeln von „unbewussten und nicht kommunizierbaren“ Regeln geleitet (vgl. Hayek 1967, 61), zum
anderen fungieren sie lediglich als Knoten im riesigen Netzwerk „des Marktes“ (Hayek 1952, 34). Das
Netzwerk eines individuellen Gehirns kann wissensmäßig mit dem Netzwerk „des Marktes“ nicht
Schritt halten. Ein adäquates Wissen über „den Markt“ ist nach Hayek schlichtweg bei keiner Person
vorhanden. (Die Anwendung dieses Gedanken auf Hayeks eigene Reflexionen zum Wirtschaftssystem
kommt Hayek aber nicht in den Sinn.)
Hayeks Abwertung der subjektiven Vernunft korrespondiert mit der Aufwertung der Vernunft „des
Marktes“. Er bezieht sich nach Hayek
„im buchstäblichen Sinn […] auf das was weit über unser Verständnis, unsere Wünsche und
Zielvorstellungen sowie unsere Sinneswahrnehmungen hinausgeht, und auf das was
Wissen enthält und schafft, dass kein einzelnes Gehirn und keine einzelne Organisation
besitzen und erfinden kann.“ (Hayek 1996, 76).
„Der Markt“ als eine Art „Übervernunft“ wird damit (wie bei Mises) zu einer Befehlsinstanz: seine
„unpersönlichen Signale“ „sagen“ uns, wie „wir“ uns „zu verhalten“ haben (Hayek 1979, 24 und 31).
Die richtige Moralität zum „Markt“ liegt deshalb im „Gehorsam diesen Regeln gegenüber“ sein
(ebenda, 25). Wir hätten damit „die Verpflichtung […], die Resultate des Marktes auch dann zu
akzeptieren, wenn er sich gegen uns wendet.“ (Hayek 1981, 131). Jeder kritisch-moralischer
Standpunkt muss nach Hayek durch einen Glaubensakt
ersetzt werden: Wir (als letztlich
Unwissende) sollten schlichtweg „dem Markt“ vertrauen (Hayek 1971, 38) und an ihn „glauben“
(ebenda, 229). Die Moral „des Marktes“ hat die Moralität jedes Menschen ersetzt.
12
Literatur
Alvey, James E. (1999): A Short History of Economics As a Moral Science. Journal of Markets and Morality
2/1, 53-73.
Blaseio, Helmuth (1986): Das Kognos-Prinzip. Zur Dynamik sich-selbst organisierender wirtschaftlicher und
sozialer Systeme. Berlin: Duncker & Humblot.
Brodbeck, Karl-Heinz (2009): Die Herrschaft des Geldes. Geschichte und Systematik. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Bürgin, Alfred (1996): Zur Soziogenese der Politischen Ökonomie. Wirtschaftsgeschichtliche und
dogmenhistorische Betrachtungen. Marburg: Metropolis.
Clark, Charles M.A. (1992): Economic Theory and Natural Philosophy. The Search for the Natural Laws of
the Economy. Cheltenham: Edward Elgar.
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