Forms and Functions of Unreliable Narration in Peter Carey’s Illywhacker Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 2. Textinterne Signale für unreliable narration 2.1 Narrator & liar: eine explizite Selbstcharakterisierung 2.2 Weitere intertextuelle Signale der unreliability des Erzählers 2.3 Fremdcharakterisierung durch Nebenfiguren 3. Metafiktionale Elemente der unreliable narration in Illywhacker 3.1 Herbert Badgery als fiktiver Autor 3.2 Leahs Eingriffe in den Text 3.3 Fiktion in der Fiktion: M.V. Anderson 4. Paratextuelle Elemente der unreliable narration 5. Schlussbetrachtung Bibliographie 3 1. Einleitung Das literarische Genre der unreliable narration ist bereits in vielen Forschungsarbeiten thematisiert und behandelt worden, jedoch gibt es keinen wirklichen Konsens darüber, wodurch sich eine unreliable narration universell auszeichnet. Dass die Meinungen über die Kategorisierungen des Phänomens und seiner Signale dabei teilweise sehr stark differieren liegt an der Vielzahl und Vielfalt der Texte, die als unreliable narration konzipiert sind. Vergleicht man beispielsweise den Erzähler in Edgar Allan Poes The Tell-Tale Heart mit dem Erzähler in Peter Careys Illywhacker, so stellt man fest, dass sich das Kriterium des mad monologist – das in diversen Abhandlungen über unreliable narration als Indikator genannt wird – zwar auf The Tell-Tale Heart anwenden lässt, für Peter Careys Illywhacker jedoch nur bedingt brauchbar ist, obwohl es sich in beiden Fällen um einen first person narrator handelt der über sein Leben, bzw. einen Ausschnitt davon berichtet. Neben diesen textinternen Signalen kommen noch die Wirkungsabsichten des Autors, die literarischen und kulturellen Voraussetzungen in denen ein Text gelesen wird und somit schließlich auch die jeweils individuellen und gesellschaftlichen Normen- und Wertesysteme hinzu, die der Leser als Schablone an den Text anlegt. Durch die unterschiedlichen Kombinationen und Gewichtungen dieser Einzelelemente ergeben sich unterschiedliche Sets von Merkmalen für unreliable narration, die aber nicht universell gültig sind, sondern häufig nur textspezifisch angewendet werden können. Gegenstand dieser Arbeit ist nun die Herausarbeitung der verschiedenen Formen und Funktionen von unreliable narration mit denen sich der Leser im Verlaufe von Peter Careys Illywhacker (1985) konfrontiert sieht. Der Eindruck von unreliability wird dem Leser in diesem Text auf sehr unterschiedliche Arten vermittelt. Sehr direkt geht vor allem der Erzähler vor, der sich selbst und seine Lügen explizit charakterisiert und kennzeichnet und somit den Leser auf die unreliability des Erzählten hinweist. Darüber hinaus bietet der Text aber auch weniger explizite Hinweise auf unreliability, die sich erst durch den Kontext erschließen lassen oder durch erst später im Text erscheinende Passagen, die vorangegangene erläutern. Hinzu kommt die eventuell schon von vornherein vom Rezipienten gegebene Erwartung einer unreliable narration, da sowohl Titel als auch Klappentext eine solche Erzählung andeuten. Alle diese Elemente werden in den folgenden drei Kapiteln analysiert und auf ihre Spezifität hin untersucht. Mit Hilfe der von Ansgar Nünning herausgegebenen Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur werden zunächst die textinternen Signale behandelt, dann die metafiktionalen Elemente und den Abschluss bilden schließlich die paratextuellen Merkmale. Dabei werden hauptsächlich die Theorien von Dagmar Busch und Gaby Allrath aber auch die einleitenden Bemerkungen von Ansgar Nünning als Grundlage verwendet und als mögliche Sets von Merkmalen für unreliable narration auf Peter Careys Illywhacker angewendet. 2. Textinterne Signale für unreliable narration Unreliable narration kann auf verschiedenen Textebenen auftreten. Die prominenteste und in der Forschungsliteratur am ausführlichsten behandelte ist dabei die intertextuelle Ebene. Gaby Allrath widmet sich beinahe ausschließlich diesem Thema und auch in Ansgar Nünnings Auflistung von Signalen für unreliable narration nehmen die textinternen Signale den weitaus größten Teil ein. In diesem Kapitel wird nun eine Auswahl der Merkmale, die auf Illywhacker zutreffen, vorgestellt und ihre Funktion in Bezug auf den Gesamttext und die Rezeption durch den Leser erläutert. Herbert Badgery ist der Erzähler des Textes und somit die erste Instanz die bei der Analyse der Merkmale von unreliable narration in Illywhacker berücksichtigt werden muss. Die unreliability die durch seine Figur ausgedrückt wird ist dabei sehr vielschichtig, genau 4 wie die Themen auf die sich die Unverlässlichkeiten beziehen. Zum einen ist Herbert Badgery in seiner Ausdrucksweise sehr explizit 1 , indem er an verschiedenen Stellen seine Lügen als solche offen legt, in anderen Fällen erschließt sich die unreliability erst durch die Nebenfiguren oder den Kontext. Allerdings nimmt Herbert Badgery gerade durch seine Perspektive eines first person narrator den größten Raum innerhalb der textinternen Signale für unreliable narration ein, weshalb ihm auch ein Großteil dieser Arbeit gewidmet ist. 2.1. Narrator & liar: eine explizite Selbstcharakterisierung Ein Merkmal, das in beinahe allen Forschungsarbeiten im Zusammenhang mit unreliable narration genannt wird, ist die Erzählperspektive. Besonders häufig wird dabei die des IchErzählers als hochgradig unreliable gekennzeichnet. Dagmar Busch kommt sogar zu dem Ergebnis, dass innerhalb dieser Erzählperspektive wiederum Unterschiede ausgemacht werden können und manche Ich-Erzähler eine stärkere unreliability ausdrücken als andere, abhängig vom „Grad ihrer Teilnahme am fiktiven Geschehen […] Unverlässliche Erzähler sind meistens autodiegetische Erzähler“ 2 So auch im Fall von Peter Careys Illywhacker, denn Herbert Badgery ist nicht nur der Erzähler des Textes, sondern nimmt auch noch aktiv auf der Ebene der Figuren am Geschehen Teil. Gerade bei diesem Erzählertyp kommt es laut Ansgar Nünning zu einer „Häufung von subjektiv gefärbten Kommentaren, interpretatorischen Zusätzen und weiteren persönlichen Stellungnahmen des Erzählers sowie von Leseranreden“ 3 . Alle diese von Nünning genannten Merkmale treffen auch auf den Erzähler in Illywhacker zu, allerdings geht Herbert Badgery noch darüber hinaus. Er verwendet die von Nünning angesprochenen Aspekte um dem Leser die unreliability des im Folgenden von ihm Erzählten zu verdeutlichen und ihm somit auch direkt den Leseauftrag zu vermitteln. So wendet er sich folgendermaßen im Eingangskapitel an den Leser: I am a terrible liar and I have always been a liar. I say that early to set things straight […] lying is my main subject, my speciality, my skill. It is a great relief to find a new use for it. […] But my advice is to not waste your time with your red pen, to try to pull apart the strands of lies and truth, but to relax and enjoy the show 4 . In diesem kurzen Abschnitt wendet sich Herbert Badgery nicht nur direkt an den Leser, sondern er gibt auch eine subjektive Selbsteinschätzung, sowie einen persönlichen Interpretationsansatz. Er versteht sich als „ehrlichen Lügner“, der seine Eigenschaft offen eingesteht. Doch gerade durch dieses vermeintliche Eingeständnis beraubt sich Herbert Badgery bereits im sechsten Satz des Textes seiner reliability, denn durch das Paradox, dass die Aussage „I am a liar“ niemals wahr sein kann ohne gleichzeitig falsch zu sein, führt er sich selbst ad absurdum noch bevor seine Erzählung wirklich begonnen hat. Nichtsdestotrotz 1 Vgl. Nünnings Definition eines unreliable narrator: „Begriff für einen expliziten Erzähler, dessen Wiedergabe der Ereignisse oder Interpretationen des Geschehens dem Leser Anlass gibt, seine Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen“ In: Nünning, Ansgar. Grundkurs anglistisch-amerikanistische Literaturwissenschaft. Stuttgart: Klett. 2002. S. 197. 2 Busch, Dagmar. „Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches Analyseraster“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.43. 3 Nünning, Ansgar. „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.6. 4 Carey, Peter. Illywhacker. New York: Vintage. 1996. S.16. Direkte Zitate aus dem Roman werden im Folgenden ohne Fußnote durch die Angabe der Seitenzahl in Klammern hinter dem Zitat angegeben. Alle dem Roman entnommenen Zitate beziehen sich auf die im Literaturverzeichnis angegebene Ausgabe. 5 ist er sogar noch stolz auf seine Fähigkeit, die er als „speciality“ und „skill“ tituliert. Die unreliability seiner Erzählung sieht er somit beinahe sogar als künstlerisches Erzählverfahren an. Für diese Annahme spricht auch der Rat an den Leser die „show“ zu genießen, ohne den Versuch Wahrheit und Lüge voneinander trennen zu wollen. Bereits an dieser frühen Stelle muss sich der Leser also entscheiden, ob er Herbert Badgerys Rat folgen will, nicht weiter zu versuchen, dessen unreliability aufzudecken, oder ob er den folgenden Text mit einer besonders kritischen, beinahe misstrauischen Einstellung betrachten soll. Gelingt es dem Erzähler den Leser zu überzeugen, so hätte dies zur Folge, dass die unreliability nicht mehr länger im Fokus steht. Vielmehr rückt das Geschehen in den Vordergrund, dem sich der Leser unvoreingenommen widmen kann. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass genau das Gegenteil eintritt, indem der Leser gerade durch den Appell nicht zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden eben dieses versucht und den Text nur noch auf seinen Wahrheitsgehalt hin untersucht. Diese Meinung vertritt auch Nünning, wenn er schreibt: „Das allgemeine Resultat des als unreliable narration bezeichneten Phänomens besteht somit darin, die Aufmerksamkeit des Rezipienten von der Ebene des Geschehens auf den Sprecher zu verlagern […] Nicht die Handlung steht somit im Zentrum, sondern die Perspektive und die Normabweichungen des Erzählers“ 5 . Indem Herbert Badgery seine unreliability in direktester Form eingesteht, tut er nichts anderes als den Rezipienten auf eben diese zu fokussieren. Sein Rat „enjoy the show“ (S.11) muss also als Aufruf gesehen werden, seine Lügenkünste bewundernd zur Kenntnis zu nehmen. Der Rezipient muss davon ausgehen, dass es sich bei Herbert Badgery um einen professionellen Lügner handelt, der die Lüge zu seinem Lebensinhalt gemacht hat. 2.2 Weitere intertextuelle Signale der unreliability des Erzählers Neben dieser expliziten Selbstcharakterisierung erfüllt die Figur Herbert Badgery noch weitere – weniger explizite – Bedingungen um als unreliable narrator klassifiziert werden zu können. Nach Dagmar Busch liegt es bei unverlässlichen homodiegetischen Erzählern nahe, „dass sie Privilegien der ,Allwissenheit’ in Anspruch nehmen, die ihnen nicht zustehen […]. Ein besonders beliebter Verstoß gegen diese Grenzen des homodiegtischen Erzählers besteht darin, daß ein Erzähler vorgibt, die Gedanken anderer Figuren zu kennen“ 6 . In Illywhacker werden die Gedankengänge anderer Figuren häufig durch den Erzähler wiedergegeben, ohne dass dieser die Quelle seiner Information nennt. Nur im Falle seiner Geliebten bzw. seiner Frau Phoebe erklärt er weshalb er ihre Gedanken schildern kann: „Phoebe looked into those blue clear eyes and thought I was the devil. There was nothing soft about me, she thought, no soft place, just this cold blue charm. She wrote all this in her book. Sometimes she showed it to me“ (S.91). Auch wenn die Einsichtnahme in Phoebes Tagebuch die Kenntnis ihrer Gedanken erklärt und der Rezipient Phoebes Briefen die Herbert später erwirbt, eine ähnlich Funktion wie ihrem Tagebuch zugesteht, werden die Schilderungen der Gedanken der übrigen Figuren wie Molly, Leah, Jack, Goon, Charles und Hissao nicht belegt. Für den Rezipienten entsteht der Eindruck, dass Herbert Badgery ohne Umstände über die Gedanken und Gefühle seiner Mitmenschen berichten kann. Tatsächlich ist dies aus der Perspektive eines first person narrator aber nicht möglich. Zwar wird das Buch als fiktive Niederschrift vorgestellt (vgl. Kapitel 3), jedoch kann sich der Erzähler nicht lückenlos über Gedanken und Emotionen aller 5 Nünning, Ansgar. „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.19. 6 Busch, Dagmar. „Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches Analyseraster“. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.44. 6 Nebenfiguren informiert haben, bevor er sich zur Niederschrift seines eigenen Lebens entscheidet, da seine Erzählung bis zum Ende des Buches fortlaufend als work in progress geschrieben ist, die auf die „interesting times ahead“ (S.600) verweist. Somit stellt sich für den Rezipienten die Frage, ob der Erzähler tatsächlich heterodiegetische Fähigkeiten hat, oder ob es sich vielmehr bei seinen Schilderungen um erdachte Gedanken seine Mitmenschen handelt. Da er aufgrund seiner Erzählperspektive eigentlich keinerlei Einsicht in das Innenleben der anderen Figuren haben kann, muss es sich also wiederum um subjektive Einschätzungen und Erfindungen handelt, die keineswegs als verlässlich gelten können und somit als eindeutigen Hinweis auf unreliable narration seitens des Erzählers gesehen werden müssen. Zudem gestaltet sich Herberts Verhältnis zum Lügen mehr und mehr problematisch; die Grenze zwischen eingestandener und unfreiwilliger unreliability verwischen. Die „show“ des Selbstdarstellers Herbert Badgery nimmt mehr und mehr zwanghafte Züge an, die ihren Ursprung in der Kindheit zu haben scheinen. So scheint ihn besonders das Verhältnis zu seinem Vater zu belasten, denn in der Rückschau auf seine Kindheit berichtet er wie folgt von einem prägenden Ereignis: „there I was at ten years old telling lies, saying my father was dead“ (S.41). Das Lügen als Lebensinhalt beginnt für Herbert also bereits im Alter von 10 Jahren. Im Erwachsenenalter scheint sich jedoch seine Angewohnheit so sehr gefestigt zu haben, dass er nicht länger in der Lage ist, sie zu kontrollieren. Er gesteht ein, dass er sogar sich selbst belügen kann: „it was no trouble to lie. I always lied about snakes. I always lied about women. It was a habit. I did it […] charmingly. I was so enthusiastic that I could convince myself in half a sentence” (S.27) und dass er lügen muss um gesellschaftsfähig zu sein: „It was the trouble with the world that would never allow me to be what I was. Everyone loved me when I appeared in a cloak, and swirled and laughed and told them lies. They applauded. They wanted my friendship. But when I took off my cloak they did not like me” (S.79). Besonders im letzten Statement tritt die Zwanghaftigkeit des Lügens in den Vordergrund. Mit der Zwanghaftigkeit geht auch der Eindruck fortschreitender madness einher, die Gaby Allrath in ihrer Abhandlung fokussiert thematisiert hat. Sie stellt fest: „Dabei fällt besonders die starke Ich-Fixierung zahlreicher ,mad monologists’ auf; ihre Sicht der Wirklichkeit steht im Zentrum ihrer Rede, ihr Monolog umkreist nur ihre eigenen Erfahrungen und Ansichten, durch deren Darstellung sie ihr Verhalten zu rechtfertigen suchen“ 7 . Demnach wäre die mehr und mehr unkontrollierten Lügen des Erzählers eine Schutzfunktion um sich die Mitschuld am Tod von Jack, dem Verschwinden seiner Tochter Sonja, dem Scheitern seiner Beziehung, sowie des Mordes an Goon nicht eingestehen zu müssen. Die Lüge und somit die unreliability dient in Herbert Badgerys Leben also nicht nur seiner Selbstdarstellung, sondern auch dem Selbstschutz. Das Lügen ermöglicht ihm die Flucht in andere Welten, die für ihn weniger bedrohlich sind als die Realität mit der er sich konfrontiert führt und die aufgrund der terra nullius Lüge und ihrer Konsequenzen ebenso unreliable ist, wie Herberts Erzählung selbst. 2.3 Fremdcharakterisierung durch Nebenfiguren Doch nicht nur Herbert Badgery gibt Hinweise auf seine unreliability, auch die ihn umgebenden Nebenfiguren weisen mehr oder weniger stark darauf hin. Besonders auffällig ist dabei, dass er von beinahe jeder dieser Nebenfiguren zumindest einmal in irgendeiner Form als Lügner bezeichnet wird, wie die folgende Auflistung zeigt: 7 Allrath, Gaby. „,But why will you say that I am mad?’ Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration”. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.66. 7 Phoebe: „You are what they call a confidence man. You can be anything you want (S.91) Leah: „who could believe you?” (S.328) Annette: „He is a confidence man […] It is there for anyone to see” (S.152) Goon: „You made up stories all the time“ (S.369) Cocky Abbot: „you’ve done me a favour by showing me what a ratbag you are” (S.140) Die Frage die sich dem Rezipienten aufdrängt ist weshalb Herbert Badgery solche Charakterisierungen seiner Person in „sein“ Buch, als dessen fiktiver Autor er sich ausgibt (Vgl. Kapitel 3.1), aufnehmen sollte, da sie ihn allesamt in kein gutes Licht rücken. Zum einen mag dies geschehen um den Anschein von Authentizität zu erwecken, indem er sich nicht immer nur selbst als „King of Liars“ (S.304) bezeichnet, sondern auch in den Kommentaren der anderen Figuren Bestätigung sucht. Zum anderen zeigt sich an der dichten Thematisierung der Lügen durch die anderen Charaktere auch die Wichtigkeit des Motivs in Bezug auf die Gesellschaft. Herbert Badgerys gesamtes Umfeld scheint sich auf dem Feld des Lügens bestens auszukennen, so dass die Gesellschaft als verlogen oder zumindest als hochgradig unreliable dargestellt wird. Im Gegenzug auf die oben aufgeführten Zitate bezeichnet Herbert Badgery seinerseits Phoebe und Leah als Lügner (S.204: „She was a liar“; S.395: „Honest Leah had become Lying Leah“). Positive Aspekte kehren sich in negative um und für Herbert Badgery bedeutet es das Ende seiner zwei Beziehungen. Phoebe, die ihn einst noch wegen seine Lügenkünste bewunderte (You have invented yourself, Mr Badgery, and this is why I like you“ S.91) verlässt ihn und reißt ihn damit ebenfalls aus seiner gedachten Welt. Ebenso konfrontiert ihn auch Leah mit der Wirklichkeit, wenn sie sagt: „It’s all lies, Mr Badgery“ (S.292). Mit „all“ drückt Leah dabei sämtliche Thematiken aus, die der unreliability des Erzählers anheim fallen. Zum einen referiert der Ausdruck zurück auf persönliche Beziehungen, die Herbert zu andere Figuren knüpft bis hin zur Familiengründung. Darüber hinaus betrifft die unreliability aber auch die Identität nicht nur des Erzählers, sondern aller Figuren des Romans. Aufgrund der noch jungen Geschichte des „weißen“ Australiens können Herbert, Leah und Phoebe auf keinerlei Traditionen zurückgreifen, mit denen sie eine eigene gefestigte Identität begründen könnten. Selbst das Land, das sie bewohnen ist durch die terra nullius 8 Lüge unsicher und unbeständig. Stattdessen flüchten sich alle Beteiligten in Geschichten und Erzählungen, in denen sie ihre eigene Wirklichkeit und Identität kreieren. Leah geht dabei so weit, dass sie dem Erzähler jahrelang eine andere Wirklichkeit vortäuscht und selbst längst verstorbene Personen darin lebendig erhält. Auch Phoebe flüchtet in eine andere Welt, die sie in ihren Gedichten zum Ausdruck bringt. Somit ist die von Herbert Badgery vorgeführte unreliable narration nichts anderes als ein Spiegel des australischen sozio-kulturellen Empfindens seiner Zeit. Mit seinem Ausruf „To wife and child […] To aviation, to Australia“ (S.187) bezeichnet er alles worauf er sich eben nicht verlassen kann: seine Beziehungen, Familie, Beruf und Land. Der Rezipient muss davon ausgehen, dass alle Schilderungen, die diese Thematiken einschließen hochgradig unreliable sind und aufgrund der Vorraussetzungen auch gar nichts anderes sein können. 3. Metafiktionale Elemente der unreliable narration in Illywhacker Neben den intertextuellen Signalen für unreliable narration bietet sich für den Rezipienten auch die Möglichkeit unreliability auf einer übergeordneten Ebene, der metafiktionalen ,zu analysieren. Auch hier gibt es viele Formen in Illywhacker, die sich unterschiedlich auf den Text auswirken. Zum einen kann schon die first person narratorPerspektive als Metafiktion identifiziert werden, da sie mit der Behauptung einhergeht 8 Vgl. Stohscheidt, Elisabeth. „Auswirkungen der britischen Eroberung auf das Leben von Aborigines und Torres Strait Islanders.“ In: Bader, Rudolf (Hg.). Australien. Eine interdisziplinäre Einführung. Trier: WVT. 2002. S.69. 8 Herbert Badgery sei der Autor des Textes. Zum anderen greift dann auch noch eine Nebenfigur als Autor in den Text ein und zwar so, dass Herbert Badgery keinen Einfluss auf ihre Textpassage nehmen kann. Schließlich zeigt sich noch als dritte Form der Metafiktion die „Fiktion in der Fiktion“ bzw. „das Buch im Buch“, denn Herbert Badgery zitiert mehrfach aus dem rein fiktiven Werk. Aufgrund dieser gehäuften metafiktionalen Elemente gewinnt die Interpretation des Rezipienten an Tiefe, da ihm hierdurch neue Aspekte aufgezeigt werden, die auf der textimmanenten Ebene eventuell nicht zugänglich sind. Somit gewinnt der Rezipient nicht nur Distanz zum Erzählten und kann es auch aus einer ganz anderen Perspektive betrachten; das Verhältnis von Text und Erzähltem kann dadurch entscheidend beeinflusst werden. 3.1 Herbert Badgery als fiktiver Autor Herbert Badgery gibt sich als fiktiver Autor des Textes zu erkennen und betont seine schriftstellerische Tätigkeit fortlaufend. Durch diese Metafiktion gesteht der Erzähler in besonderem Maße seine Subjektivität ein, da er seine Lebensgeschichte aus seiner Perspektive in seinem Buch niederschreibt. Die Handlung und die beteiligten Personen unterliegen dabei seiner Einschätzung und Darstellung, was Jonathan Culler als „narrative Autorität“ bezeichnet 9 . Lediglich die historischen Fakten lassen sich auch in einer solchen Erzählperspektive nicht verleugnen. So ist es nicht weiter verwunderlich dass gerade diese Fakten nur am Rande erwähnt werden. Sein besonders Verhältnis zur Geschichte thematisiert der Erzähler, indem er sagt „I would rather fill my history with great men and women, philosophers, scientists, intellectuals, artists, but I confess myself incapable so vast a lie. I am stuck with Badgery & Goldstein […] arguing about the nature of life and our place in the world“ (S.326). An dieser Stelle wird das Fehlen einer Australischen Geschichte jenseits der Aboriginal Kultur deutlich in Bezug zur unreliability des Textes gesetzt. Aus der Notwendigkeit heraus eine eigene Identität konzipieren zu müssen gestaltet Herbert Badgery die Welt in „seinem“ Buch nach seinen Vorstellungen. Problematisch wird die Glaubwürdigkeit der von Badgery geschaffenen Welt immer dann wenn die Darstellungen des Erzählers ins Unrealistische abdriften. Zu nennen wären hier zum einen die Vorgänge um das Verschwinden Goons, dass entweder tatsächlich als Magie oder aber realistisch als Mord gesehen werden kann, das Verschwinden der Tochter Sonja, die Geistergeschichte nach Jacks Tod, sowie das Alter des Erzählers. Alle diese von Herbert Badgery aufgeführten Vorfälle kollidieren so stark mit dem Werte- und Normensystem des Rezipienten, dass hier die unreliability besonders deutlich belegt wird, jedoch nimmt diese mehr und mehr unkontrollierbare Züge an. Der Rezipient kann sich nicht länger sicher sein, ob er immer noch Teil der Show ist, die Herbert Badgery im Eingangskapitel angekündigt hat, oder ob sich dieser allmählich zu einer Art mad monologist entwickelt, der sich seiner eigenen unreliability nicht länger bewusst ist. Zudem kommen noch der eingestandene hohe Alkoholkonsum (S.318), bewusste Wahrnehmungsstörungen (S.331; S.510), Erinnerungslücken (S.81) und erhebliche Stimmungsumschwünge (S.29). Durch die metafiktionale Behandlung dieser Erzählschwierigkeiten wird die unreliability besonders hervorgehoben und zwar jede ihrer Formen, sowohl die unbewusste als auch die bewusste, das Vertrauen in den Erzähler und somit in das Erzählte überhaupt sinkt drastisch ab und wird durch Leahs „Korrekturen“ nur noch mehr erschüttert. 9 Culler, Jonathan. Literaturtheorie. Stuttgart: Reclam. 2002. S.128. 9 3.2 Leahs Eingriffe in den Text Besonders ausführlich tritt die Metafiktionale Ebene auf den Seiten 548-551 in den Vordergrund. Hier übernimmt Leah Herberts Stelle als fiktiver Autor und schreibt nun ihrerseits den Text weiter. Dabei erhebt sie den fiktiven Anspruch den bisherigen Teil des Buches schon gelesen zu haben und greift hier nun ein um Herbert Badgery des Plagiates zu bezichtigen und seine Sicht der Dinge zu kritisieren und nach ihrer Meinung richtig zu stellen. Dass auch diese Passage als unreliable angesehen wird, liegt daran, dass Leah in ihrer vorübergehenden Funktion als Erzähler die gleichen Merkmale von unreliability aufweist wie Herbert Badgery. Sie ist emotional in das Geschehen involviert, in keiner guten körperlichen Verfassung, alkoholabhängig und psychisch belastet. Somit wirkt sich die Metafiktion nicht nach ihrer Absicht aus, dass der Rezipient über Herberts schlechten Charakter aufgeklärt wird, sondern stattdessen gewinnt die unreliability des gesamten Textes an Stärke. Statt einem unreliable narrator sind nun schon zwei an der Niederschrift ihre Lebensgeschichte beteiligt, die unreliability entwickelt sich allmählich zum allumfassenden Gesellschaftskonzept. Die Vielfältigkeit der Erzähler (Herbert, Leah), Erzählformen (Geschichte, Lyrik, Briefe, Passagen anderer Figuren als Erzähler), sowie des Erzählten (Lebensgeschichte, Landesgeschichte, ökonomische Entwicklung, etc. ) und die daraus entstehenden Formen der unreliability (subjektive, rezipientenbezogene, historische, etc.) werden auf der metafiktionalen Ebene zusammengeführt und unterstreichen den ganzheitlichen Eindruck des Textes 10 . 3.3 Fiktion in der Fiktion: M. V. Anderson Aber es sind nicht nur Zusätze anderer Figuren zum Text, die Herbert Badgerys Fiktion aufbrechen, sondern auch er selbst erweitert die Ebene des fiktiven Autors (M. V. Anderson) um eine weitere: Er führt einen weiteren fiktiven Autor an, auf dessen Werk er sich und seine Lügenkünste stützt. Er zitiert M. V. Anderson, der seine Vorfahren aufgrund der terra nullius Lüge explizit als „liars“ (S.456) bezeichnet und Herbert Badgery schließt daraus für sich „that a liar might be a patriot“ (ebd.). Durch Andersons fiktiven Buchauszug versucht der Erzähler seine eigenen Gedanken als die eines anderen darzustellen und beansprucht somit einen gewissen Wahrheitsgehalt für seine Aussagen. Der Rezipient soll glauben, dass es sich bei M. V. Anderson um einen verlässlicheren Autor handelt als Herbert Badgery und dass dieser da er sich auf Anderson bezieht dadurch ebenfalls an reliability gewinnt. Bekräftigt wird dieses Vorhaben durch die Tatsache, dass Herbert Badgery betont, dass es sich bei dem Buch um ein Schulbuch handelt, also ein Buch das für Bildungszwecke autorisiert ist. Jedoch nennt er an keiner Stelle den Titel des Buches, so dass dessen Existenz schließlich nicht nachprüfbar und belegbar ist. Herbert Badgery gewinnt aus dem Buchauszug jedoch keinen verlässlichen Bezug zur australischen Geschichte, sondern vielmehr findet er darin einen Vorwand seine zahlreichen Lügen und erdachten Geschichten zu legitimieren 11 . Für ihn ist das Lügen gleichsam wie für M. V. Anderson eine Möglichkeit sich eine eigene australische Geschichte zu konzipieren und mit ihr eine eigene Identität. Die doppelte Fiktion in Peter Careys Illywhacker dient also dazu, die unreliability des fiktiven Autors Herbert Badgery einerseits zu erklären und zusätzlich zu rechtfertigen. 10 Vgl. Antor, Heinz: „the various levels […] interact in the novel” zitiert aus: “Australian Lies and the Mapping of a New World: Peter Carey’s Illywhacker as a Postmodern Postcolonial Novel“. In: Anglistik: Mitteilungen des Verbandes Deutscher Anglisten. 9:1. 1998. S.155. 11 Vgl. Allrath, Gaby. „,But why will you say that I am mad?’ Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration”. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.71 10 4. Paratextuelle Elemente der unreliable narration Gerade im Bereich der paratextuellen Ebene bieten sich zahlreiche Indikatoren für unreliable narration. Besonders hervorzuheben ist in erster Linie dabei vor allem der Titel „Illywhacker“. Dass damit eine Art Spieler, Trickbetrüger oder Gauner bezeichnet wird, kann bei australischem bzw. englischsprachigem Publikum zwar als bestehendes Weltwissen vorausgesetzt werden, nicht jedoch notwendigerweise bei Rezipienten, deren Muttersprache nicht Englisch ist. Jedoch ist das Verständnis des Titels von elementarer Bedeutung für die Interpretation der Erzählung, da so bereits vor Beginn des Textes auf seine Unverlässlichkeit hingewiesen wird. Carey impliziert somit bereits die Konzeption einer unreliable narration, indem er sich eines landestypischen Ausdrucks bedient. Dieser ist sogar von so großer Bedeutung, dass vor dem eigentlichen Text eine Zusatzinformation in Form von Ausschnitten der Begriffserklärung aus dem Dictionary of Australian Colloquialisms gegeben wird: illywhacker A professional trickster, esp. operating at country shows [derived by Baker (1945) from spieler] 1941 Kylie Tennant The Battlers 183-4: An Illywhacker is someone who is putting a confidence trick over, selling imitation diamond tie-pins, new style patent razors or infallible “tonics”… “living on cockies” by such devices, and following the shows because money always flows freest at show time. A man who “wacks the illy” can be almost anything, but two of these particular illywhackers were equipped with a dart game. 1943 Baker 40: Illywhacker A trickster or spieler. 1975 Hal Porter The Extra 15: Social climber, moron, peter-tickler, eeler-spee, illy-wacker. 12 Durch diese Lexikonauszüge wird sichergestellt, dass sich auch ein Rezipient, der nicht direkt mit dem Ausdruck „Illywhacker“ 13 vertraut ist, über die Bedeutung des Titels bewusst ist, bevor er den eigentlichen Text zu lesen beginnt. Bereits davor hat der Leser sich wahrscheinlich zusätzlich schon mit dem Klappentext beschäftigt, in dem ebenfalls erklärt wird: “In Australian slang, an Illywhacker is a country fair con man, an unprincipled seller of fake diamonds and dubious tonics. And Herbert Badgery, the 139-year-old narrator of Peter Carey’s uproarious novel, may be the king of them all“ 14 . Diese Erklärung in den verschiedenen Teilen des Buches ist besonders wichtig: “[it] explains and eliminates tensions, incongruities, contradictions and other infelicities the work may show by attributing them to a source of transmission“ 15 . Somit liegt eine dreifache Rezipientenbeeinflussung vor Beginn der eigentlichen Erzählung und jedes Mal steht der „Illywhacker“ im Vordergrund. Der Schwerpunkt der Rezipientenlenkung liegt also bereits im Vorfeld auf der Verdeutlichung der unreliability des Textes. Die paratextuellen Signale, die im Falle von Peter Careys Illywhacker vorliegen weisen also überdeutlich auf das Vorliegen einer unreliable narration hin. Neben Herbert Badgerys expliziter Selbstcharakterisierung als permanenter Lügner sind Titel, Klappentext und Epigramm wohl die eindeutigsten Signale der unreliability, was Peter Careys Roman besonders auszeichnet, denn nur selten sind die paratextuellen Signale so prominent wie in diesem Fall. 12 Wilkes, G.A. A Dictionary of Australian Colloquialisms. Sydney. 1978. In: Carey, Peter. Illywhacker. New York: Vintage. 1996. 13 Den Begriff der „maximal relevancy“ beschreibt u.a. Perry, Menakhem. „Literary Dynamics. How the Order of a Text Creates Its Meaning“. In: Poetics Today. 1.1. 1979. S.45. 14 Carey, Peter. Illywhacker. New York: Vintage. 1996. Klappentext. 15 Yacobi, Tamar. „Fictional Reliability as a Communicative Problem“. In: Poetics Today. 2:2. 1981. S.119. 11 Bezeichnend ist, dass eben diese ohnehin schon dominanten paratextuellen Signale zusätzlich später im Text selbst beinahe wörtlich als testinterne Signale wieder aufgenommen werden. Auf den Seiten 245 und 246 bezeichnet Leah Herbert Badgery wortgetreu als „illywhacker“ und erklärt auf die Frage von dessen Sohn Charles Badgery, ein „Illywhacker“ sei „A spieler […] A trickster. A quanding. A ripperty man. A con man“ (S.245). Diese Wiederaufnahme und Umwandlung eines paratextuellen Elementes in ein textinternes durch Leah, die das Buch als solches zu kennen vorgibt, verbinden schließlich alle drei Ebenen von unreliable narration, die in Peter Careys Illywhacker bedient werden und gewinnen dadurch an Ausdrucksstärke. 5. Schlussbetrachtung Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, dass Peter Careys Roman Illywhacker eine Vielzahl von Kriterien erfüllt, die für eine unreliable narration maßgeblich sind. Diese Kriterien wurden dabei auf unterschiedlichen Ebenen untersucht. An erster Stelle steht innerhalb der unreliable narration Herbert Badgery, der Erzähler, der das Lügen als seine größte Fähigkeit herausstellt. Da es sich bei unreliability immer um ein graduelles Phänomen handelt, muss aber nicht nur seine explizite Selbstcharakterisierung berücksichtigt werden, sondern auch die impliziteren Hinweise, die im Text gegeben werden. Zum einen stammen diese Impulse direkt vom Erzähler, zum anderen weisen aber auch die Nebenfiguren auf die unreliability des Erzählten hin. Durch dieses Zusammenspiel ergibt sich schließlich das Bild einer hochgradig unverlässlichen Gesellschaft, die sich wechselseitig ihre unreliability vorwirft. Die literarische Form der unreliable narration dient in Peter Careys Illywhacker als Möglichkeit der Spiegelung der kulturellen und sozialen Verhältnisse des Nicht-AboriginalTeils der australischen Gesellschaft und dessen noch relativ jungen Geschichte. Auf einem den textinternen Signalen übergeordneten Level, der metafiktionalen Ebene, wiederholt sich dieses Muster. Herbert Badgery vermittelt den Text als etwas das er nicht ist: sein Buch. Mit der fingierten Autorschaft verliert der Text insgesamt an Glaubwürdigkeit, da er als das vorgetäuschte Werk eines unreliable narrator gelesen werden muss. Darüber hinaus nehmen auch weitere Figuren Anteil am Text wie Leah und auch Phoebe mit ihren eigenen Textpassagen bzw. Gedichten. Und schließlich öffnet Carey noch eine weitere Dimension, indem er Herbert Badgery ein Buch zu lesen lassen scheint, das wiederum nur fiktiv ist. Somit bietet sich auf dieser Ebene ein fiktiver Autor, der „seinen“ Text auf das Eingangskapitel eines Werkes eines weiteren fiktiven Autors stützt. Die reliability des Textes wird somit auf der metafiktionalen Ebene in dreifacher Hinsicht gesenkt. Die textinternen Signale der unreliability erhalten durch die fortgeführte unreliability auf der zweiten Ebene größere Ausdruckskraft und einen tieferen Bedeutungsgehalt. Die unreliability liegt nicht mehr länger nur beim Erzähler, sondern betrifft darüber hinaus den gesamten Text als solchen. Ebenso wie auf der intertextuellen und auf der metafiktionalen Ebene findet sich auf der paratextuellen Ebene die Entsprechung der unreliability. Hier wird der Rezipient explizit darauf hingewiesen, dass es sich bei Peter Careys Illywhacker um eine unreliable narration handelt. Sowohl Klappentext als auch Titel und Lexikonauszüge im Innenteil des Buches vor Beginn des eigentlichen Textes drücken in aller Deutlichkeit den Charakter des Erzählers und seines Erzählten aus. Dafür spricht auch dass der Titel gleich dreifach definiert wird, zum einen durch den Autor des Klappentextes, dann durch den Lexikoneintrag und schließlich erneut im Text durch eine literarische Figur. Somit zeigt sich an Peter Careys Illywhacker, dass unreliable narration anhand vieler verschiedener Faktoren bestimmt werden kann und sich daraus eine Vielzahl unterschiedlicher Formen ergibt. Doch trotz der unterschiedlichen Ebenen auf denen sich die unreliability im Roman zeigt ergibt sich für den Leser ein ganzheitlicher Gesamteindruck. Die Wechselwirkung, das Zusammenspiel und die Durchlässigkeit der Ebenen ermöglichen 12 schließlich auch den Transfer auf die Wirklichkeit. Peter Careys Australien ist aufgrund seiner noch jungen Geschichte und dem damit einhergehenden Identitätsproblem ebenso unreliable für seine Bewohner wie die Welt in Illywhacker für Herbert Badgery. Bibliographie Primärliteratur Carey, Peter. Illywhacker. New York: Vintage. 1996. Sekundärliteratur Allrath, Gaby. „‘But why will you say that I am mad?’ Textuelle Signale für die Ermittlung von unreliable narration“. In: Nünning, Ansgar (Hg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.59-79. Antor, Heinz. “Australian Lies and the Mapping of a New World: Peter Carey’s Illywhacker as a Postmodern Postcolonial Novel“. In: Anglistik: Mitteilungen des Verbandes Deutscher Anglisten. 9:1. 1998. S.155-178. Busch, Dagmar. „Unreliable Narration aus narratologischer Sicht: Bausteine für ein erzähltheoretisches Analyseraster“. In: Nünning, Ansgar (Hg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.41-58. Culler, Jonathan. Literaturtheorie. Stuttgart: Reclam. 2002. Nünning, Ansgar. „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitivnarratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“. In: Nünning, Ansgar (Hg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier: WVT. 1998. S.3-39. --- Grundkurs anglistisch-amerikanistische Literaturwissenschaft. Stuttgart: Klett. 2002. Perry, Menakhem. „Literary Dynamics. How the Order of a Text Creates Its Meaning“. In: Poetics Today. 1.1. 1979. S.35-64. Stohscheidt, Elisabeth. „Auswirkungen der britischen Eroberung auf das Leben von Aborigines und Torres Strait Islanders.“ In: Bader, Rudolf (Hg.). Australien. Eine interdisziplinäre Einführung. Trier: WVT. 2002. S.63-91. Yacobi, Tamar. „Fictional Reliability as a Communicative Problem“. In: Poetics Today. 2:2. 1981. S.113-126. 13
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