Das triadische System (Kurt Schneider)

Sandra Fuchs
Klassifikationssysteme
HPP
Klassifikatorische Diagnostik & Klassifikationssysteme
Klassifikation = Einordnung bedeutsamer Phänomene (z. B. Symptome) in ein nach Klassen
eingeteiltes System, das Klassifikationssystem.
In Klassifikationssystemen werden Störungen nach bestimmten Einteilungsprinzipien
klassifiziert, z.B. Erscheinungsbild Ätiologie, Verlauf der Erkrankung oder auch psychosoziale
Faktoren gehören.

Das triadische System
(Kurt Schneider)
Das triadische System nach Kurt Schneider stützt sich auf die von Emil Kraeplin Anfang des
letzten Jahrhunderts erstmals eingeführte Systematik, die psychische Erkrankungen nach
ihrem Verlauf kategorisierte.
Kraeplin unterschied zwischen endogenen und exogenen Psychosen und trennte die
manisch-depressiven Erkrankungen von der „dementia praecox“ (=frühzeitige Verblödung).
Das triadische System nach dem dt. Psychiater Kurt Schneider unterteilt die psychischen
Erkrankungen nach ihrer Entstehungsursache (Ätiologie) in drei große Kategorien:

exogene Psychosen
Erkrankungen, bei denen der psychischen Störung eindeutig eine organische Ursache
liegt und die bekannt sind.
Die organische Erkrankung kann primäre das Gehirn betreffen oder eine systemische
körperliche Erkrankung sein, welche die Funktionen des Gehirns beeinträchtigt.
Synonyme:

organische psychische Störung; exogene Störung; organische Psychose;
somatogene Psychose
endogene Psychosen
Erkrankungen, bei denen eine organische Ursache angenommen wird, deren
genauen Zusammenhänge aber bis heute nicht eindeutig geklärt sind.
→ diese Erkrankungen können weder den exogenen noch den psychogenen
Störungen zugeordnet werden.
;
Synonyme:

endogene Störung
psychogene Erkrankungen
Psychogene Störungen sind durch Persönlichkeitseigenschaften, Verhaltensweisen,
biografische Faktoren und als Reaktion der Psyche auf belastende Lebensumstände
zu verstehen (psychoreaktiv, seelisch bedingt).
Synonyme:
Symptomneurosen, Charakterneurosen, abnorme Variationen
psychischen Erlebens
1
Sandra Fuchs
Klassifikationssysteme
HPP
Das triadische System (Kurt Schneider)
Exogene
Psychosen
Primäre
Hirnerkrankungen
Intoxikationen, Infektionskrankheiten,
Organkrankheiten mit system. Beteiligung
Körperliche Erkrankungen
mit
Hirnbeteiligung
Endogene
Psychosen
Meningitis, Enzephalitis, Hirntumoren, Delir,
systemische Atrophien, multiple Sklerose,
Epilepsie, Demenz, Oligophrenien
Schizophrenien
Manisch-depressive Erkrankungen
Schizoaffektive Erkrankungen
Wahnhafte Erkrankungen
Exogene und endogene Störungen müssen in jedem Fall an einen Facharzt überwiesen werden!
psychogene
Störungen
Persönlichkeitsstörungen (Psychopathien, Charakterneurosen)
Abnorme Erlebnisreaktionen & Persönlichkeitsentwicklungen
(„Symptomneurosen“)
Süchte (Alkohol- und Drogenabhängigkeit)
Sexualstörungen
Essstörungen
Schlafstörungen
Eugen Bleuler modifizierte die Systematik durch Einführung des Begriffs „Schizophrenie“
(statt dementia praecox) und zeigte auch, dass der Verlauf der Schizophrenie – wie von Emil
Kraeplin postuliert – nicht immer in einem Defektzustand enden muss.
Das triadische System (Kurt Schneider) bietet einen leichte Einstieg in die Einteilung
psychischer Erkrankungen, es unterteil psychische Erkrankungen nach deren angenommener
Ätiologie in die o.g. drei Gruppen ein.
Dieses Einteilungsprinzip nach ätiologischen Gesichtspunkten ist nach heutigem
Kenntnisstand nicht mehr aufrechtzuhalten und wird in modernen Klassifikationssystemen,
z.B. der ICD-10 und DSM-IV, nicht mehr angewendet und nach phänomenologischen
Gesichtspunkten (Symptomatik, Schweregrad, Verlauf) unterteilt.
Psychische Störungen aus allen drei Gruppen sind mehr oder weniger multifaktoriell
bedingt.
→ s. auch biopsychosoziales Integrationsmodell
2
Sandra Fuchs
Klassifikationssysteme
HPP
Die Einteilung des triadischen Systems in psychogene und endogene Störungen wurde
komplett aufgegeben, weil man davon ausgeht, dass bei allen psychischen Erkrankungen
psychologische und biologische Faktoren eine Rolle spielen, wenn auch in unterschiedlicher
Ausprägung.
Die Klasse der organischen psychischen Störungen wurde durch die Diagnosegruppe F0
aufrechterhalten.
Triadisches System
Stärken
Erster Überblick
Hilfreiche Struktur
Einfach
⇒ HPP vs. Facharzt-Überweisung
Schwächen
Ätiologische Klassifikation entspricht nicht mehr
dem heutigen Wissensstand (multifaktorielle
Ursachen)
Unscharfer Endogenitätsbegriff (sagt nur, dass
nicht biografisch und nicht organisch, aber nicht,
was es nicht ist)
Psychose vs. Neurose kein verlässliches
Unterscheidungskriterium
„psychogen“ wird im ICD nicht mehr verwendet
Zugrunde gelegt wird im triadischen System die Unterscheidung zwischen Neurose und
Psychose, die jedoch unscharf definiert sind und kein verlässliches Unterscheidungskriterium
sind.
Psychose
- tiefgreifende psych. Erkrankung der
endogenen / exogenen Gruppen
Neurose
- psychische Störungen, die keine
erkennbare organische Ursache haben und
bei denen der Patient keinen Verlust der
Realität erlebt und meist eine
Krankheitseinsicht behält
Siggi Freud:
Störungen, die durch unbewusste und
ungelöste frühkindliche Konflikte bedingt
sind
+
die durch aktuelle, traumatische Erlebnisse
wieder aufleben
+
zu krankhaftem E & V führen können
- starker Realitätsverlust
- deutlichere Einbußen der psych.
Funktionen (Denken, Fühlen, Handeln) und
der sozialen Anpassung als bei psychogenen
Störungen
Kein zuverlässiges
Unterscheidungskriterium!!
3
Sandra Fuchs
Klassifikationssysteme
HPP
⇒ Moderne Klassifikationssysteme – ICD-10 und DSM-IV –haben die ätiologische
Einteilung des triadischen Systems aufgegeben und teilen psychische Erkrankungen nach
phänomenologischen Gesichtspunkten (Schweregrad, Symptomatik, Verlauf) ein.
Zur Klassifikationpsychischer Erkrankungen haben sich weltweit zwei Klassifikationssysteme
durchgesetzt, mit deren Hilfe versucht wird, eine internationale Verständigung und
Vereinheitlichung in Diagnostik, Therapie und Erforschung psychischer Erkrankungen zu
erzielen:
 ICD-10 der WHO
 DSM-IV der APA (American Psychiatric Association
Beide Klassifikationssysteme sind durch drei wesentliche Kennzeichen charakterisiert:
Für jede psychische Erkrankung sind
diagnostische Kriterien (Ein- und
Ausschlusskriterien) explizit vorgegeben.
1. Operationalisierte Diagnostik
Komorbidität bedeutet das gleichzeitige
Auftreten verschiedener Erkrankungen bei
einer Person.
Von Multimorbidität spricht man, wenn
neben einer oder mehrerer psychischer
Erkrankungen noch zusätzliche körperliche
Erkrankungen vorkommen.
2. Komorbiditätsprinzip
Der Patient und seine Störung wird anhand
mehrerer als klinisch bedeutsam
angesehener Merkmale, sog. Dimensionen
oder Achsen, beschrieben, um der
Komplexität klinischer Bedingungen eines
Patienten i.S. eines biopsychosozialen
Ansatzes Rechnung zu tragen
ICD-10 → 3 Achsen
DSM-IV → 5 Achsen
3. Multiaxiale Diagnostik
4
Sandra Fuchs
Klassifikationssysteme
HPP
 ICD-10 (International Classification of Diseases)
- Die ICD-10 ist das in Deutschland gängigste Referenzsystem.
- 1991 eingeführt von der WHO als international akzeptierte Systematik
psychischer Erkrankungen
- seit dem Jahr 2000 das in Deutschland verbindliche Klassifikationssystem
- seit dem 01.01.2009 ist zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und
stationären Versorgung die „ICD-10-GM Version 2009“ anzuwenden
Multiaxialer Ansatz der ICD-10
Achsen
Operationalisierung der Achsen
I.
Klinische Diagnosen
Psychiatrische Diagnosen
(Kapitel F)
Somatische Diagnosen
(andere Kapitel der ICD-10)
II.
Soziale
Disability Assessment Scale der WHO
Funktionseinschränkungen  individuelle soziale Kompetenzen
 berufliche Funktionsfähigkeiten
 familiäre Funktionsfähigkeiten
 soziales Verhalten

III.
Abnorme psychosoziale
Situationen






Entwicklung in der Kindheit
Erziehungsprobleme
Schwierigkeiten in der sozialen Umgebung
besondere berufliche Probleme
juristische und andere psychosoziale
Schwierigkeiten
Familienanamnese psychiatrischer Störungen
Die ICD ist ein von der WHO herausgegebenes Klassifikationssystem für alle Krankheiten.
Das Kapitel V(F) betrifft die klinisch-diagnostischen Leitlinien für Psychische und
Verhaltensstörungen.
Die Diagnostik erfolgt kategorial-polythetisch, d.h. jede Störung wird anhand mehrerer
Symptome bzw. Kriterien beschrieben; die Identifikation einer bestimmten Anzahl von
Symptomen führt zur Diagnose einer bestimmten Störung, die nach einer alphanumerischen
Klassifikation kodiert wird (F0 - F10).
5
Sandra Fuchs
Klassifikationssysteme
HPP
 DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)
Das DSM ist das Klassifikationssystem der APA.
Seit 1952 von der APA herausgegeben,
seit 1996 existiert auch eine deutsche Ausgabe.
Das DSM wird auch in Deutschland im Bereich der Forschung
verwendet und eine zusätzliche Verwendung wäre anzuraten,
wenn man sich als HPP häufig mit amerikanischer Fachliteratur
oder mit US-amerikanischen Fachkollegen austauscht.
In den grundlegenden Zielsetzungen stimmen die WHO- und
die APA-Klassifikation zwar überein, bei der Definition
einzelner Diagnosen gibt es jedoch teilweise Unterschiede:
Neben der unterschiedlichen Einteilung besteht der Hauptgrund darin, dass das DSM
zusätzlich auf geschlechtsspezifische Unterschiede eingeht.
Es ist in der Diagnostik zudem genauer, da es sich stärker auf den eigenen Markt mit USamerikanischen Gepflogenheiten konzentrieren kann, während die ICD-10 stärker
interkulturell orientiert ist.
Multiaxialer Ansatz im DSM-IV
Achsen
Operationalisierung der Achsen
I.
Klinische Diagnosen,
andere klinisch relevante
Probleme
Psychiatrische Diagnosen nach DSM-IV
(Psychopathologie; Mehrfachdiagnosen möglich)
II.
Persönlichkeitsstörungen,
geistige Behinderungen
Persönlichkeitsstörungen und geistige
Behinderungen nach DSM-IV
(Mehrfachdiagnosen möglich)
III.
Medizinische
Krankheitsfaktoren
Ohne Operationalisierung
(Vorliegen körperlicher Krankheiten, die im
Zusammenhang mit der psychischen Störung stehen
oder nicht)
IV.
Psychosoziale oder
umgebungsbedingte
Probleme
9-stufige Skala
(z.B. Probleme mit Bezugspersonen, Im Beruf, in der
Wohnsituation, mit den Finanzen usw.)
V.
Globale Beurteilung des
Funktionsniveaus
Global Assessment of Function Scale (GAF)
(Skala von 0-100, auf der die psychosoziale und
berufliche Leistungsfähigkeit des Klienten
eingeschätzt wird)
6
Sandra Fuchs
Klassifikationssysteme
HPP
Sowohl in der ICD als auch im DSM wird eine multiaxiale Diagnostik vorgenommen, die
darauf abzielt, nicht nur die klinische Symptomatik einer betroffenen Person zu erfassen,
sondern auch psychosoziale und medizinische Merkmale, die zum besseren Verständnis
einer psychischen Störung beitragen können.
Von einer psychischen Störung kann gesprochen werden, wenn …



Verhaltens- oder psychische Probleme einen Menschen zu oft, zu lange oder zu
massiv beeinträchtigen
er/sie darunter leidet
der alltägliche und berufliche Lebensvollzug zunehmend dadurch verunmöglicht
wird.
nach Wittchen & Hoyer (2011, S.9, Klinische Psychologie & Psychotherapie):

klinisch bedeutsames Verhaltens- oder psychisches Syndrom/Muster

momentanes Leiden oder eine Beeinträchtigung in einem oder in mehreren wichtigen sozialen
oder Leistungsbereichen

mit einem stark erhöhten Risiko einhergeht, zu sterben, Schmerz, Verlust oder einen
tiefgreifenden Verlust an Freiheit zu erleiden

Das Syndrom darf nicht nur eine verständliche und kulturell sanktionierte Reaktion auf ein
Ereignis sein.

Unabhängig vom ursprünglichen Auslöser muss bei der betroffenen Person eine
verhaltensmäßige, psychische oder biologische Funktionsstörung zu beobachten sein.

Weder normabweichendes Verhalten noch Konflikte des Einzelnen mit der Gesellschaft sind
psychische Störungen, solange die Abweichung oder der Konflikt kein Symptom einer oben
beschriebenen Funktionsstörung bei der betroffenen Person darstellt.
An dieser Definition erkennt man, dass das
Konstrukt psychische Störungen eine Vielzahl von
Indikatoren, Prozessen und Interaktionen umfasst,
die sich keineswegs nur auf psychische Prozesse
i.e.S. beziehen, sondern auf die Gesamtheit
menschlichen Verhaltens einschließlich des
soziokulturellen Kontextes und der biologischen
Betrachtungsebenen.
Ferner wird deutlich, dass es sich um einen
„deskriptiven“ Ansatz handelt, der weitgehend
über ätiologische Erklärungen als
Klassifikationsgrund verzichtet.
7