Silbermann · Czernowitz – Stadt der Dichter Herausgegeben

Silbermann · Czernowitz – Stadt der Dichter
Herausgegeben, dokumentiert und kommentiert
von Amy-Diana Colin
Edith Silbermann
Czernowitz – Stadt der Dichter
Geschichte einer jüdischen Familie
aus der Bukowina (1900-1948)
Herausgegeben, dokumentiert und
kommentiert von Amy-Diana Colin
Wilhelm Fink
Herausgegeben mit Unterstützung des Publikationsprogrammes
Humanities for Human Rights der Cité für Friedenskulturen.
Umschlagabbildungen:
Fotos aus der Sammlung von Edith Silbermann,
Alfred Kittner und Amy-Diana Colin.
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© 2015 Wilhelm Fink, Paderborn
Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn
Internet: www.fink.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-4843-9
Inhaltsverzeichnis
Amy-Diana Colin: Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
ERSTER TEIL
EDITH SILBERMANN:
CZERNOWITZ – STADT DER DICHTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1. Kapitel: Herkunft. Familienchronik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.Kapitel: Verwandte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
3.Kapitel: Cupca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
4.Kapitel: Sereth. Teenagerferien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
5.Kapitel: Erste Freundschaft, erste Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
6.Kapitel: Gymnasium 1932-1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
7. Kapitel: Das erste Russenjahr 1940-1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
8.Kapitel: Verfolgungszeit, Ghetto 1941-1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
9. Kapitel: Zwischen Hangen und Bangen. Erste Liebesbeziehung . . . . . 159
10. Kapitel: Das zweite Russenjahr 29. März 1944-24. April 1945 . . . . . . . 171
11. Unvollendetes Kapitel: Bukarest 1945-1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
ZWEITER TEIL
AMY-DIANA COLIN:
EDITH SILBERMANNS REZITATIONSKUNST . . . . . . . . . . . . . . . 201
1. Edith Silbermann – eine Rezitatorin als Kulturvermittlerin . . . . . . . 203
2.Pressestimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
3.Audio-CD 1: Edith Silbermann singt jiddische Volks- und
Kunstlieder
Tracklist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
4.Audio-CD 2: Edith Silbermann liest Gedichte und Fabeln
Tracklist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
6
Inhaltsverzeichnis
DRITTER TEIL
BILDDOKUMENTATION . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
1.Portraits, Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
2.Bukowina, Czernowitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
APPARAT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
1. Verzeichnis der Abkürzungen, Siglen und Kurztitel . . . . . . . . . . . . . . 293
2.Kommentar zu den Audio-CDs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
2.1 Anmerkung zur lateinischen Umschrift des Jiddischen . . . . . . . . 297
2.2 A
udio-CD 1: Edith Silbermann singt jiddische Volksund Kunstlieder
Anmerkungen, Gedichtnachweise, Veröffentlichungen . . . . . . . . 298
2.3 Audio-CD 2: Edith Silbermann liest Gedichte und Fabeln
Anmerkungen, Gedichtnachweise, Veröffentlichungen . . . . . . . . 326
3.Verzeichnis der Abbildungen und Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
3.1 Abbildungen im Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
3.2 Bilddokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
4.Kommentiertes Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
5.Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
6.Rechte-Nachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
7.Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
Vorwort
Edith Silbermann (1921-2008), geborene Horowitz, stammt aus Czernowitz,
der Hauptstadt des Buchenlandes, auch Bukowina genannt, einer Region im
Süden Galiziens, im Norden der Moldau und im Westen Bessarabiens gelegen,
die von 1775 bis 1918 zu Österreich-Ungarn gehört hatte1. In einem Entwurf
zum Vorwort dieses Buches schrieb sie:
»In Czernowitz lebten neben Rumänen, Ukrainern, Österreichern, Deutschen, Polen
und Armeniern so viele Juden, dass man den Eindruck hatte, dies sei eine jüdische
Stadt. Jahrzehntelang hatten deutsche Sprache und österreichische Kultur das Leben
in meiner Geburtsstadt geprägt. In Czernowitz erschienen deutsche Tageszeitungen;
es gab eine angesehene deutschsprachige Universität, deutschsprachige Gymnasien,
ein Theater, ganz nach dem Vorbild des Wiener Volkstheaters, und vieles mehr. Das
Czernowitzer Bürgertum sprach und las ausschließlich deutsch, und selbst Handwerker und kleine Kaufleute verwendeten im Alltag die deutsche Sprache, wenn sie
diese auch ab und zu mit jiddischen Kraftausdrücken oder ukrainischen Flüchen
spickten.«
Nach dem Untergang der Habsburger Monarchie und dem Ende des Ersten
Weltkrieges hatten die Bukowiner im Sinne der 14 Punkte des amerikanischen
Präsidenten Woodrow Wilson das Recht auf politische Selbstbestimmung. Die
vorwiegend im Süden der Bukowina lebenden Rumänen forderten den Anschluss der Bukowina an das Königreich Rumänien, die Ukrainer, auch Ruthenen genannt, die den Norden der Region bewohnten, wollten zur Ukraine gehören, die Bukowiner Juden, die Kaiser Franz Joseph nachtrauerten, stimmten für
die Zugehörigkeit der Bukowina zu Österreich. Im Jahre 1919, nachdem rumänische Truppen die Bukowina besetzt hatten, billigte der Vertrag von St. Germain die Eingliederung der Bukowina in das Königreich Rumänien. Aber die
neuen Machthaber konnten die deutsche Sprache und österreichische Kultur aus
dem Leben der Bevölkerung nicht verdrängen. Als hätte eine Ahnung vom drohenden Untergang alle geistigen Kräfte beflügelt, erblühte gerade in der Zwischenkriegszeit die deutschsprachige Kultur der Bukowina. Ihre hauptsächlichen
Repräsentanten waren Autoren jüdischer Abstammung.
Bereits Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die Bukowina eine
vielschichtige deutschsprachige, rumänische, ukrainische und jiddische Dichtung sowie zwei- und sogar dreisprachige Lyriker und Schriftsteller hervorgebracht, die eine rege Übersetzertätigkeit entwickelten. Dennoch wurde diese fa 1 Vgl. D II: 1-16, 23-24.
8
Vorwort
cettenreiche Bukowiner Literatur dem breiten westeuropäischen Lesepublikum
erst bekannt, als Forscher auf der Suche nach den Quellen der Lyrik Paul Celans
und Rose Ausländers die deutschsprachige und insbesondere deutsch-jüdische
Dichtung entdeckten, die sich in dieser fernen Gegend der »Menschen und Bücher« entwickelt hatte.
Czernowitz, Hauptstadt dieser versunkenen Welt, war eine Stadt der Dichter.
Während unserer gemeinsamen Arbeit an diesem Buch sagte mir einmal Edith
Silbermann: »Zu meinen engen Jugendfreunden zählte Paul Celan, damals Antschel, der fast täglich in mein Elternhaus kam, da mein Vater, Karl Horowitz, die
zweitgrößte Büchersammlung der Stadt besaß, eine wahre Fundgrube für den
wissensdurstigen Lyriker. Auch andere Lyriker gehörten zu unserem Freundeskreis: Immanuel (Oniu2) Weißglas, Alfred Kittner, Rose Ausländer, Alfred Margul-Sperber, Itzik Manger und viele mehr…«.
Nach einer anfänglichen liberalen Periode trieb die nationalistische Regierung in
den späten zwanziger und dreißiger Jahren die Rumänisierung des Landes mit
äußerster Härte voran. Aber auch die wachsende Isolation deutschsprachiger Bukowiner Lyriker und Schriftsteller im rumänischsprachigen Umfeld hemmte ihre
Schaffenskraft nicht. Mit dem Aufkommen des radikalen Nationalismus und
Faschismus wurden deutschsprachige jüdische Autoren verfolgt, vertrieben, in
Todeslager deportiert und ermordet. Selbst in Zwangsarbeits- und Vernichtungslagern gaben sie ihre Muttersprache nicht auf, schrieben auch weiterhin Gedichte in deutscher Sprache. Nach dem Krieg verließen die meisten Überlebenden
die Bukowina. Im Gepäck hatten sie die Erinnerungen an ihre versunkene Welt.
Die Geschichte ihrer Familie, die Edith Silbermann aufzeichnete, gewährt Einblick in einen versunkenen, vom In- und Mit- und Gegeneinander deutschsprachiger, jüdischer, rumänischer und ukrainischer Kulturtraditionen geprägten
Mikrokosmos, in dem sich friedliche Koexistenz und Völkerzwist die Waage
hielten. Es ist eine Welt, die in den Wirren des Zweiten Weltkrieges unterging,
aber in den Werken der Lyriker und Schriftsteller aus der Bukowina als Mythos,
Erinnerung, Topos, Leitmotiv weiterlebt.
Edith Silbermann ist dem deutschsprachigen Publikum bekannt als Rezitatorin
deutsch-jüdischer und jiddischer Dichtung, insbesondere der Gedichte Paul Celans und Rose Ausländers, als Verfasserin von literaturwissenschaftlichen Studien
über die Bukowina und als Übersetzerin der im Suhrkamp Verlag erschienenen
2 Oniu war der Spitzname von Immanuel Weißglas; seine Großmutter hatte ihm diesen Namen
gegeben; vgl. V, I, S. 373-374.
Vorwort
9
Prosa Tudor Arghezis sowie der phantastischen Erzählungen Mircea Eliades. Das
Ziel ihres Schaffens war es, die Verständigung zwischen Menschen zu ermöglichen und zum geistigen Brückenbau zwischen jüdischen, deutsch-österreichischen und rumänischen Kulturtraditionen nach dem Zweiten Weltkrieg beizutragen.
Im Jahre 1945 wurde Edith Silbermann zum Flüchtling, in den Jahren 1963 und
1964 zur Emigrantin. Sie musste mit unzähligen Schwierigkeiten kämpfen, um
sich eine neue Existenz aufzubauen und ihrer Familie zu helfen. Ihr Leben und
Schaffen zeigen, wie wichtig es ist, Flüchtlingen und Emigranten eine Chance
zum Neuanfang zu geben. Denn sie können einen positiven Beitrag zur Entwicklung der Länder leisten, die ihnen Zuflucht bieten. Sie können eine kulturelle Bereicherung der Gesellschaft sein.
Viele der in diesem Buch erwähnten Verwandte und Freunde Edith Silbermanns
sind während des Zweiten Weltkrieges von deutschen Nazis und rumänischen
Faschisten ermordet worden. Die Zeit der Verfolgung und des Genozids überlebten nur wenige in Czernowitz selbst. Einigen gelang die Flucht ins Exil. Auf
meine Frage, warum sie dennoch 1963 nach Österreich und 1964 nach Deutschland zog, antwortete mir Edith Silbermann, dass sie sich der deutschen Sprache
nach wie vor verbunden fühlte und in diesem Sprachraum wirken wollte. Friede
werde nicht mit Freunden, sondern mit Feinden geschlossen. Es sei endlich die
Zeit gekommen, Frieden zu machen und Brücken zwischen jüdischer und deutscher Kulturtradition neu aufzubauen. Durch ihre Tätigkeit verwirklichte Edith
Silbermann dieses Ziel.
Amy-Diana Colin
Erster Teil
Edith Silbermann: Czernowitz – Stadt der Dichter
Mit Anmerkungen von Edith Silbermann und
Amy-Diana Colin
1. Kapitel
Herkunft. Familienchronik
Meine Mutter war von Haus aus eine Stadler. Der Name ist im deutschen
Sprachraum nicht ungewöhnlich. In München erfreuten sich um die Jahrhundertwende der Maler Toni Stadler und dessen Sohn, ein Bildhauer, der ebenfalls
Toni hieß, großen Ansehens. Und Ernst Stadler, in Coburg geboren, zählt zu den
bedeutendsten deutschen Expressionisten. Auch ein Büchner-Preis-Träger, der
aus ländlichem Milieu in Baden-Württemberg stammt, ist ein Stadler.
Juden hatten jahrhundertelang keine Familiennamen. Man kannte sie unter ihren Ruf- und Vaternamen: zum Beispiel Jakob ben Abraham (Jakob, der Sohn
Abrahams). Noch im 18. Jahrhundert hieß der Freund Lessings und berühmte
jüdische Philosoph der Aufklärung: Mendelssohn. Die beiden Wörter waren lediglich zusammen geschrieben. Im Erzherzogtum Österreich (ab 1787) und in
Preußen (ab 1790), später auch in anderen Staaten und Königreichen Europas
verpflichtete man Juden, feste Familiennamen anzunehmen, um sie als Steuerzahler besser erfassen zu können. Jüdische Familien konnten häufig ihren Nachnamen nicht selbst wählen. Manche Juden wurden nach den Städten benannt, in
denen sie lebten, zum Beispiel: Breslauer, Hamburger, Wiener. Andere erhielten
Spottnamen.3 »Stadler«, der in Österreich und Deutschland sehr verbreitete
Mädchenname meiner Mutter, weist auf die ländliche Herkunft ihrer Familie
hin; und in der Tat lebten Eltern, Geschwister, Verwandte jahrzehntelang auf
dem Land.
Doch wann und woher kamen diese Stadlers jüdischen Glaubens in das kleine
buchenländische Dorf Budenitz im Bezirk Storojinetz? Waren sie aus Schwaben,
Bayern, Böhmen, Mähren zur Zeit Maria Theresias und ihres Sohnes Josephs II.
in die Bukowina gezogen, als dieses Gebiet im nördlichen Teil der Moldau, die
hundert Jahre lang als Fürstentum unter türkischer Lehnsherrschaft gestanden
hatte, 1774 von Sultan Abdul Hamid I. an die Habsburger abgetreten wurde?
Waren sie später eingewandert, als die Bukowina ein österreichisches Kronland
wurde? Oder hatten sie sich schon früher hier angesiedelt? Wählten sie den Namen »Stadler« oder wurden sie so genannt, weil sie sich mit Landwirtschaft beschäftigten, mit einem beziehungsweise vielen Stadeln Heu? Ich weiß es nicht.
Als Kind und Jugendliche fragte ich meine Eltern nie danach, trieb keine Ahnenforschung wie heutzutage viele Überlebende des Holocaust und ihre in aller
3 Die Namensgebung diente oft als Mittel, Juden zu erniedrigen oder zu erpressen. Die Änderung
eines Spottnamens wie »Maulwurf« oder »Stinkfuß«, selbst die Änderung eines Buchstabens,
hatte einen hohen Preis.
14
Czernowitz – Stadt der Dichter
Welt, vor allem in den USA, verstreuten Nachfahren. Im Nachhinein tut es mir
leid.
Von den Großvätern meiner Mutter war der eine, Berisch Stadler, Besitzer einer
Herberge und Spirituosenbrennerei, im hohen Alter ins damalige Palästina ausgewandert, dort aber bereits nach drei Jahren verstorben; der andere, Aron Silberbusch, ein viel gereister Großkaufmann, blieb zeitlebens in der Bukowina.
Meine beiden Urgroßväter hatten mehrere Kinder. Berisch Stadlers Söhne, Schaje und sein jüngerer Bruder Ire, heirateten beide Arons Töchter, die Schwestern
Chaje und Mechle Silberbusch, was bei Juden damals nicht ungewöhnlich war.
Das ältere Paar, Schaje und Chaje, hatte fünf Kinder: drei Söhne, Anschel, Pino
und Kubi, sowie zwei Töchter, Adele und Sali. Auch das jüngere Paar, Ire und
Mechle, hatte fünf Kinder: Moses, genannt Mosiu, Rosa, Anna, Dela und Lisa;
die Letztere war meine Mutter. Die Geschwister lebten in einer Großfamilie auf
dem Land.
Mein Großvater Ire war Gutspächter. Zusammen mit seinem Bruder Schaje
hatte er in Budenitz, im Bezirk Storojinetz, ein Gut aus dem einstigen Besitz des
Freiherrn Alexander von Petrino gepachtet, das nun dem Gynäkologen Dr. Volcinschi gehörte, der das Czernowitzer Frauenspital leitete und daher meistens in
der Stadt lebte; seine Gattin und seine drei Töchter verbrachten viel Zeit auf
diesem herrlichen Gut, wo sie einen Palast bewohnten, der dem Schloss »Miramar« nachgeahmt war und damals auch so genannt wurde.4 Es befand sich inmitten eines riesigen Parks. Das Gut umfasste Wald und Feld.
Mein Großvater war ebenso wie sein Bruder nicht bloß Landwirt; er befasste
sich auch mit Viehzucht; daher pachteten die Geschwister Stadler auch zusätzlich Weideland. Dort im Freien blieb das Jungvieh vom Frühjahr bis zum Herbst.
Über den Winter wurde es in den Stallungen gemästet, um im nächsten Frühling
verkauft zu werden. Auch das Sägewerk, das zum Gut gehörte, wurde von meinem Großvater geleitet. All dies scheint jedoch nicht genug eingebracht zu haben, um die kinderreiche Familie standesgemäß zu erhalten; daher pachtete mein
Großvater noch ein sehr romantisch gelegenes Gut, »der von Tabora« genannt,
in Repuschnitz. Sein Bruder Schaje pachtete zudem das am Ufer des Dnjesters
gelegene Gut Tautri in der Nähe von Zalezciki, einem polnischen Kurort. Von
diesem Gut, das an der Grenze zwischen Galizien, Bessarabien, das damals zu
Russland gehörte, und der österreichischen Bukowina lag, schwärmte meine
Mutter ihr ganzes Leben. »Wenn wir frischen Fisch zu Mittag haben wollten«,
erzählte sie, »brauchten wir nur auf die Terrasse hinaus zu gehen und einem der
4 Im Schloss des für die Vereinigung der Rumänen eintretenden Arztes Ioan Chevalier de Volcinschi fanden zahlreiche politische Versammlungen statt. Zu den Teilnehmern zählten Vasile Alecsandri, Mihai Eminescu, Mihail Kogălniceanu und viele andere rumänische Persönlichkeiten,
insbesondere Dichter und Politiker.
Herkunft. Familienchronik
15
russischen Fischer vom gegenüberliegenden Dorf zu winken. Wir sahen, wie er
mit seinem Boot hinausfuhr, und bald war er mit einem Korb voller Fische bei
uns oben. Wollten wir Pilze, Erdbeeren oder Himbeeren, so gingen wir in den
Wald, der sich hinter unserem Haus und Garten erstreckte. Kam Hochwasser,
schwoll der Dnjester so schnell an, dass ganze Fischerhütten von den Wellen
davon getragen wurden und wir auf unserer Terrasse wie auf einem Schiffsdeck
standen. Einmal führte ein Knecht die Ochsen zur Tränke, der Sturm überraschte ihn und er ertrank in den Fluten. Wir hörten das Brüllen der Ochsen und
seine Hilferufe und sahen ohnmächtig zu.«
Als Schülerin las ich den Roman Venea o moară pe Siret (Eine Mühle trieb auf
den Fluten des Sereth-Flußes) des angesehenen rumänischen Autors Mihail Sadoveanu. Seine Schilderung einer Überschwemmung hatte mich so beeindruckt,
dass ich auch meiner Mutter davon erzählte. Da erinnerte sie sich an ein traumatisches Erlebnis aus ihrer Kindheit: Sie war auf einem, am Ufer des Pruth gelegenen Familiengut in Nepolocoutz, an der Grenze zu Galizien, als der Fluss nach
tagelangen Gewittern zu einem reißenden Strom anschwoll. Die Bauern hatten
sich mit ihrem armseligen Hab und Gut auf die Dächer ihrer Hütten geflüchtet,
aber die Fluten spülten alles hinweg. Hütten, Schweine, Rinder trieben wie
Spielzeug auf den Wellen. So mutig meine Mutter sonst war, bei Gewitter wurde
sie stets unruhig und ängstlich. Gegen Naturgewalten sei man machtlos, erklärte
sie. Leider sollten wir späterhin auch gegen menschliche Gewalt nicht gefeit sein.
Vom Freiherrn Petrino, dem früheren Gutsbesitzer, hatte mein Großvater eine
Villa gekauft. Er ließ das Haus abtragen und auf seinem eigenen Grundstück,
jenseits des Sereth-Flusses, wieder aufbauen. Da es in den Dörfern nur rumänische oder ruthenische Volksschulen gab, stellte man für die Kinder, solange sie
klein waren, Privatlehrer ein, und ließ sie in der deutschen Schule der Bezirkshauptstadt Prüfungen ablegen. Die älteren Kinder besuchten in Czernowitz das
Gymnasium, die Handelsschule oder die höhere Töchterschule. Um sie nicht
ohne Aufsicht zu lassen, hatte man eine Stadtwohnung gemietet, und meine
Großmutter wohnte dort mit ihren ältesten Kindern und Neffen. Einmal nahm
man auch meine Mutter dorthin mit. Sie langweilte sich jedoch, beneidete ihre
Geschwister, die zur Schule gingen, und sehnte sich aufs Land zurück. Ihre Mutter unterwies sie im Stricken und versprach ihr: »Wenn du den Strumpf fertig
hast, fährst du nach Budenitz zurück.« Jeden Tag fand sie jedoch etwas an der
Strickarbeit auszusetzen; da war eine Masche fallen gelassen worden, dort das
Muster falsch; so trennte sie immer wieder ein Stück auf. Meine schon damals
überaus fleißige Mama, die uns später zu Pulloverköniginnen machen sollte,
strickte eifrig darauf los; der Strumpf war längst länger als sie selber, sie aber
sehnte sich immer noch nach Domnica, der alten Magd, der einzigen, die sie in
Budenitz verwöhnte. Wiewohl Lisa offenkundig unter der Strenge ihrer Mutter
16
Czernowitz – Stadt der Dichter
gelitten hatte, hielt sie als Erwachsene dennoch an deren Erziehungsmethoden
fest. Trotzdem gelang es ihr nicht, aus mir eine tüchtige Strickerin zu machen.
Als Kind war Lisa zart, blass und wählerisch im Essen. Mămăligă mit Milch (Maisbrei), diese einfache rumänische Bauernkost, blieb lebenslang ihr Lieblingsgericht, vielleicht weil Domnica sie damit mit solcher Hingabe gefüttert hatte. Ihre
Cousins hänselten sie deswegen; aber Lisa ließ sich nicht provozieren.
Im Gegensatz zu Lisa waren ihr Bruder, ihre Cousins und deren Czernowitzer
Freunde, die in den Ferien zu Besuch kamen, vorlaut und machten immer großen Spektakel. Einmal trugen sie den Wirtschafter in einer Nacht mitsamt seinem Bett aus dem Haus, so dass er unter freiem Himmel erwachte. Ein anderes
Mal stürzte sich einer dieser Freunde auf die frisch zubereiteten Zwetschgenknödeln, um sie alle allein zu verschlingen; aber er verbrannte sich dabei den Mund
so sehr, dass er tagelang nichts mehr essen konnte. Lisa hingegen war eher still,
zurückhaltend.
Der unerwartete Tod ihres Vaters, Ire Stadler, dem sie ähnlich sah, überschattete
ihre Kindheit. Meine Mutter war vier oder sechs Jahre alt, ihre älteste Schwester, Rosa, 16, und ihr Bruder, der einzige Sohn, 13, als ihr Vater im Alter von
38 Jahren an einem Herzschlag starb.
Ire Stadler war groß gewachsen, blond, blauäugig und von sehr gepflegtem Äußeren. Er wollte immer hoch hinaus und arbeitete daher über seine Kräfte. Wie
andere fromme Juden schnitt sich Ire aus pazifistischer Überzeugung und nicht
aus Feigheit einen Finger ab, um bei der Einberufung zum Militär für dienstuntauglich erklärt zu werden. Eines Tages war Ire mit seiner Schwägerin zu einem
Prozess in die Stadt, nach Ciudin, gefahren. Vor der Abfahrt wurde das Pferd, ein
junger, noch nicht an die Zügel gewöhnter Hengst, scheu, riss sich los und lief
davon. Der Kutscher verlor viel Zeit, ehe er das Pferd auf einer Wiese einfangen
und einspannen konnte, und Ire, mein Großvater, war sehr aufgeregt, weil er die
Gerichtsverhandlung zu versäumen fürchtete. Unterwegs zur Stadt bemerkte
Großtante Chaje, dass er sich allzu lange bückte. Sie glaubte, die Zigarette wäre
ihm aus der Hand gefallen und wollte ihm suchen helfen. Da stellte sie entsetzt
fest, dass er tot war. Sie ließ den Kutscher umkehren; man hielt an einer Schänke
an, schickte einen Wagen nach dem Arzt, doch es war zu spät. Als man den Leichnam heimbrachte, weinte meine Mutter nicht, war aber nicht dazu zu bewegen,
von seiner Seite zu weichen, sondern starrte nur unentwegt mit weit aufgerissenen
Augen auf den Toten. So oft ich Bilder von Munch wie Der Schrei oder Die tote
Mutter anschaue, vergegenwärtige ich mir meine Mutter als Sechsjährige, die diesen Verlust, diese Veränderung einfach nicht fassen, nicht erfassen konnte.
Mein Großvater Ire hatte schon im Sommer zuvor einen Herzanfall erlitten,
als ihn während eines Gewitters ein Blitz streifte. Die ganze Familie hielt sich
Herkunft. Familienchronik
17
gerade auf der Veranda auf, als der Blitz durch die aufgerissene Verandatür hindurchraste, das gegenüberliegende Fenster zerschmetterte und in die vis-à-vis
zum Haus gelegene Scheune einschlug. Merkwürdigerweise hatte ich als Elfjährige das gleiche Erlebnis: Ich saß mit einem meiner Cousins und meinen Freunden während der Ferien in einer Konditorei in Sereth. Es war ein schmaler, länglicher Raum, und viele Leute hatten an jenem Nachmittag dort Zuflucht vor
dem heraufkommenden Gewitter gesucht. Ich erinnere mich noch ganz genau
an das Grün des Pistazieneises, das man mir auf den Tisch stellte, als plötzlich die
Fensterscheiben hinter mir mit großem Krach in Scherben fielen. Eh wir uns
versahen, stand auf der anderen Straßenseite ein Heuschober in Flammen, der
sich in einem Garten befand. Mein ganzer Körper dürfte mit Elektrizität geladen
gewesen sein, denn ich griff mir an den Kopf, als würde nicht das Heu drüben,
sondern mein eigenes Haar brennen. Meine Freunde lachten mich aus. Dass
auch mein Großvater einen ähnlichen Schock erlitten hatte, erzählte die Mutter
mir viel später, denn damals war sie nicht mit mir in Sereth.
Im Winter zuvor wurde mein Großvater unterwegs von Wölfen angefallen. Er
hatte jedoch immer Heu im Schlitten; das zündete er an und verscheuchte die
Wölfe. Sicherlich hat aber auch dieser Schrecken zu seinem frühen Tod beigetragen. Der Arzt hatte ihm schon nach dem ersten Herzanfall strenge Diät und
Ruhe verordnet. Großvater aber schonte sich nicht im Geringsten. Er liebte das
Leben, feierte gerne Feste, trank mit Freunden in der Stadt und zu Hause, wo
viel zu viel gegessen wurde, genoss er die Kochkünste seiner Frau und Schwägerin. Wenn meine Mutter von den gestopften Gänsen und geräucherten Lämmern, von den Broten, groß wie Wagenräder, vom Schmalz oder der Powidl
(Pflaumenmarmelade), die man darauf schmierte, von den pantagruelischen Gelagen, die in Budenitz und Tautri gefeiert wurden, erzählte, wunderte ich mich
nicht mehr, dass die in den Dreißigern stehenden Männer und Frauen, die sie
mir als meine Großeltern und Großtanten oder Großonkel auf einem vergilbten
Familienfoto5 zeigte, allesamt wie 70-jährige aussahen. Die langen Bärte und
Kaftans trugen vermutlich zu dieser Vorstellung das Ihre bei.
Ihrem Vater sah meine blonde, blauäugige Mutter nicht bloß äußerlich ähnlich, von ihm hatte sie auch ihre Vitalität, ihre Energie und vor allem ihre Willenskraft geerbt, die ich allerdings zuweilen als Starrsinn empfand; von ihrer
Mutter, Mechle, meiner Großmutter, die Gutmütigkeit.
Denn Mechle6, eine vollschlanke Frau mit schwarzem Haar und dunklen Augen, war für ihre Güte und Großzügigkeit bekannt.
5 Vgl. Familienfoto, S. 19.
6Vgl. hier, S. 19 und D I: 13.
18
Czernowitz – Stadt der Dichter
Nach dem Tod ihres Mannes gab meine Großmutter die Wohnung in der Stadt
auf und lebte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf dem Lande, ganz
unter dem Kommando ihrer Schwester Chaje, die das große Wort im Hause
führte, ihre eigenen Kinder bevorzugte und ihre Nichten benachteiligte. Ihre
älteste Tochter Adele7, die wie ein englisches Adelsfräulein aussah, verheiratete
Chaje gegen deren Willen mit Markus, einem um vieles älteren Verwandten und
schickte sie mit ihm nach Amerika. Vielleicht hatte Chaje nur das »Beste« und
eine »gute Partie« für ihre Tochter Adele im Sinn, stürzte sie jedoch ins Unglück.
Adele konnte sich in den USA nicht einleben und sie war mit ihrem viel älteren Ehemann so unglücklich, dass sie ihn verließ und nach wenigen Jahren mit
drei kleinen Kindern, Otto, Nolly und Dorothea, Tutzi8 genannt, nach Hause
zurückkehrte.
Mamas Bruder Moses wurde aufs Gymnasium und später nach Wien auf die
Technische Hochschule geschickt, die er mit dem Ingenieursdiplom absolvierte.
Seine älteren Cousins, Anschel und Pino, kamen in Italien auf die Handelsakademie und wurden später Holz- und Viehhändler.
Meiner Mutter wurde bald die Rolle des Aschenputtels zugewiesen, in der sie
sich, wie mein Vater behauptete, ihr ganzes Leben lang gefallen hat. Auch der
Familienkult wurde ihr bereits in frühester Kindheit eingetrichtert, ebenso wie
das Pflichtbewusstsein, das sie späterhin immer wieder an den Tag legte. Früh
verwaist und durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges aus dem Nest geworfen, hatte sie nur den einen Gedanken: niemandem zur Last zu fallen und möglichst schnell selbstständig zu werden. Sie träumte davon, Ärztin zu werden. Als
geduldiges, kontaktfreudiges, lerneifriges Mädchen, das eher von Nächstenliebe
als von Selbstmitleid erfüllt war und über eine genügende Portion Härte verfügte, wäre sie für diesen Beruf sicherlich auch geeignet gewesen. Leider war daran
jedoch nicht zu denken, selbst die um zehn Jahre ältere Schwester Rosa konnte
nach dem Ableben des Vaters das Lehrerseminar nicht beenden. Es blieb Lisa
somit nichts übrig, als viel zu lesen und ihre Bildung als Autodidaktin zu erweitern. Sie kannte alle Balladen von Schiller und viele andere Gedichte auswendig,
unterrichtete ihre Nichte Tutzi und Kinder der Nachbarn, brachte sie zur Stadt,
damit sie dort Prüfungen ablegten, und von dem ersparten Geld kaufte sie sich
schöne Kleider, nähte, stickte und strickte ihre Aussteuer. Es meldeten sich Heiratsbewerber, doch der eine konnte die Zustimmung seiner Eltern zu einer Heirat nicht erhalten, weil Lisa ihnen zu arm vorkam; ein anderer hatte keine gesicherte oder standesgemäße Position und wurde von Lisas Familie nicht akzeptiert. Der Richtige war damals eben nicht dabei.
7Vgl. hier, S. 14, S. 19, S. 51 und D I: 19.
8 Tutzi Silberbusch, verheiratet Rolling, vgl. hier, S. 98.
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19
amilienchronik
erkunft
1. Foto der Großfamilie Stadler in Budenitz
(Bukowina 1896)
Onkel Schaje hat den Tod seines Bruders nur um wenige Jahre überlebt. Nach
seinem Tod gaben Pino und Anschel, die wie schon erwähnt, in Italien die Handelsakademie besuchten, das Studium auf und übernahmen zusammen die Gutspachtung. Es dauerte nicht lange, da hatten die beiden die Erbschaft ziemlich
heruntergewirtschaftet. Sie wurden Holz- und Viehhändler.
Auf einem an zwei Stellen bereits eingerissenen, längst vergilbten Foto aus dem
Jahre 1896 ist diese jüdische Großfamilie verewigt: Vor dem Hauseingang sitzen
auf Stühlen, um ein hochbeiniges rundes Tischchen postiert, die beiden Ehepaare: mein blonder, bloßköpfiger, bärtiger Großvater Ire und meine dunkelhaarige,
rundliche, vollbusige Großmutter Mechle. Davor ihre Schwester Chaje, hager
und verhärmt, in eleganterem, mit hellen Rüschen verziertem Kleid und ihr Ehemann Schaje in Kaftan und hoher Kappe aus Satin, der Kopfbedeckung frommer Juden am Sabbat und an Festtagen. Sein Bart ist viel länger als der seines
jüngeren Bruders, der eine Jacke oder einen Sakko, also keinen Kaftan zu tragen
scheint. Um sie gruppiert sich der Nachwuchs: zwischen Ire und Mechle ihr
einziger Sohn Moses; dahinter, vor dunklem Grund, die schlanke, hoch gewachsene Adele, die älteste Cousine meiner Mutter, und ihre Geschwister: die Brüder
Anschel und Pino auf der einen Seite und Rosa, Mamas älteste Schwester, auf der
anderen Seite. Die Türflügel sind geöffnet, das Glas des einen zerbrochen. Vor
den Erwachsenen sitzen auf einer Holztreppe die übrigen Kinder: Dela und
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Czernowitz – Stadt der Dichter
Anna, Mamas andere Schwestern, sie selber als Vierjährige mit auffallend hoher
Stirn und misstrauischem Blick, ganz unten Kubi, der dritte Cousin sowie Sali,
Mamas Cousine und jüngstes der Kinder.
Das vergilbte Foto aus Budenitz ist das erste Blatt meines Familienalbums mit
Aufnahmen von Verwandten, Freunden und Mitschülerinnen aus Kindheits- und
Jugendtagen. Diese alten Fotos sind meine Wegmarken auf einer imaginären Reise
zurück in die Vergangenheit einer jüdischen Großfamilie aus der Bukowina. Denn
Fotos erzählen Geschichten und wecken zugleich Erinnerungen, die es aufzubewahren gilt. Das Gruppenbild mit Lisa erzählt von der Eintracht einer jüdischen
Großfamilie aus der noch friedlichen Zeit der Habsburgermonarchie. 16 Jahre
später riss der Untergang der Monarchie auch meine Großfamilie auseinander.
Als 1914 der Krieg ausbrach, flüchtete meine Großmutter (D I: 13) mit ihrer
zweitältesten Tochter Anna (D I: 20), die bereits vier Kinder hatte, nach Wien;
dorthin kamen früher oder später auch alle anderen verheirateten Frauen der
Familie mit ihren Kindern. Die meisten wehrpflichtigen Männer wurden zum
Militär eingezogen. Nur Anschel und Lisa blieben in Budenitz zurück und versuchten, den Rest ihres Hab und Guts vor den vorrückenden Russen zu retten.
Antschel, dessen Frau und Kind zu den Schwiegereltern im relativ nahe gelegenen Burdujeni in der Moldau geflüchtet waren, wollte zu seiner Familie. Meine
Mutter bedrängte ihn, sie mitzunehmen, doch er tat dies nur unwillig. Auf hoch
beladenen Fuhren überquerten sie im Schutze der Dunkelheit die schmalen Gebirgspässe. Als der Morgen graute, packte einen der Kutscher die Angst vor den
Gewehrsalven und Detonationen, die man in der Ferne donnern hörte. Er sprang
vom Bock und erklärte, er wolle zu Fuß wieder heimkehren. So musste denn Lisa
die Zügel selber in die Hand nehmen und den Wagen mit den aufgetürmten
Koffern, Kisten und Bündeln lenken. Die Fahrt führte an Abgrund und Wildbach vorbei. Meine Mutter hätte abstürzen können, aber sie hatte keine Angst
und trieb die Pferde immer weiter voran. Für die Reise hatte Lisa ihr bestes, mit
Borten verziertes Kostüm angezogen. Sie trug einen modischen Hut mit hoher
Feder. Der ängstliche Cousin fürchtete, feindliche Scharfschützen könnten sie
ihres Hutes wegen für einen Offizier halten und auf sie beide schießen. Trotz
Streitens weigerte sich Lisa, den Hut abzulegen und machte sich über ihren Cousin lustig, nannte ihn einen »dummen Feigling«. Da trieb er seine Pferde an und
galoppierte mit seinem Wagen davon. Wenn auch mit einiger Mühe, gelang es
Lisa dennoch allein, den Weg zum Haus seiner Verwandten, den Brettlers, zu
finden. Als sie ankam, wurde sie sehr freundlich empfangen. Sie hätten sie allzu
gern als Frau für Michel, ihren Jüngsten, behalten, der aber war klein gewachsen
und unansehnlich, und meine Mutter mochte ihn nicht. Anschel verheiratete
schließlich Sali (D I: 14), seine jüngste Schwester, mit diesem Michel.
Herkunft. Familienchronik
21
Die zweite Station auf Mamas Fluchtweg war Mihaileni, ein Marktflecken in der
Nähe des Städtchens Sereth, wo Fanny, eine andere Schwester ihrer Mutter, lebte. Auf der Querstange seines Fahrrades hatte ein Junge mich einmal von Sereth
aus hingefahren, um mir zu beweisen, dass in diesem »Drecknest« die Ziegen das
Gras von den Dächern fressen. Wie jämmerlich muss es erst zu Beginn des Ersten Weltkrieges in dem niedrigen Haus ausgesehen haben, in dem der angeheiratete Onkel meiner Mutter eine Schänke betrieb?
Großtante Fanny war energisch, trug stets feste Schuhe mit flachen Absätzen,
kommandierte gern. Meine Schwester und ich nannten sie »den General«. Später
erfuhren wir vom Unglück, das ihr Leben überschattet hatte: Ihr Kind, ein Knabe, war mit sechs Jahren an Scharlach gestorben. Ihre Ehe war ein Albtraum gewesen, denn ihr Mann, der Schenkenbesitzer, war ein Kartenspieler, der all ihr
Eigentum verspielt hatte. Sie hatte sich erst nach dem Tod ihres Kindes von ihm
getrennt.
Als Lisa nach Mihaileni kam, lebte Fanny noch mit ihrem Mann zusammen.
In seiner Schenke wurde Lisa von grobschlächtigen Leuten, wie sie derer zuvor nie gekannt hatte, dauernd belästigt. Zudem hätte man sie gerne auch hier
unter die Haube gebracht. Meine Mutter hatte daher nur den einen Gedanken:
»Wie komme ich schnellstens aus diesem Nest fort?« Lisas Ziel war Bukarest,
die Hauptstadt Rumäniens. Täglich kaufte sie sich den »Universul«, die Zeitung
mit dem größten Annoncenteil, und studierte darin die Stellenangebote. Es war
das gleiche Blatt, das auch ich späterhin, nach Verlassen des Elternhauses, in
Bukarest Tag für Tag nach Stellenangeboten durchkämmte. Eine evangelische
Pastorenfamilie namens Hesselmann suchte in der Hauptstadt eine deutschsprechende Erzieherin für ihre drei schulpflichtigen Enkel. Dieses Angebot schien
meiner Mutter sehr verlockend. Sie bewarb sich gleich brieflich um die Stelle,
gab dabei wahrheitsgetreu auch an, dass sie Jüdin sei, erhielt aber keine Antwort.
Dennoch war sie fest entschlossen, ihr neues Domizil, auch gegen den Willen
der Tante, so schnell wie möglich zu verlassen. Um Geld für die Reise zu bekommen, übergab sie Tante Fanny ihren gesamten Schmuck. Viel wird’s ja nicht gewesen sein, doch sah sie diese Wertsachen nie wieder. Vermutlich hat Fannys
Ehemann sie verspielt. Obwohl sie das ihrer Tante sehr lange, sogar über deren
Tod hinaus nachtrug, nahm meine Mutter, Jahrzehnte später, die alte, schwer
kranke Fanny bei uns auf (D I: 18, 1. von links in der zweiten Reihe) und pflegte sie mit großer Opferbereitschaft. Fanny erlag während des Krieges ihrem
Krebsleiden.
Mit kaum mehr Bargeld in der Tasche, als die Fahrkarte nach Bukarest kostete,
machte Mama sich also von Mihaileni aus auf den Weg nach Bukarest.
Als Lisa, das Mädchen vom Lande, in der großen Stadt eintraf, kannte sie dort
keine Seele. Sie reichte am Bahnhof dem Kutscher eines Fiakers den Zettel, auf
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Czernowitz – Stadt der Dichter
dem man ihr die Anschrift einer entfernten Verwandten ihres Schwagers notiert
hatte, und ließ sich hinbringen. Die fremde Frau, deren Mann als Österreicher
von Rumänen verhaftet worden war, empfing sie mit besonderer Herzlichkeit
und Wärme. Sie war bereit, das einzige Bett und den letzten Bissen mit dem
Neuankömmling zu teilen. Mama war jedoch über die Armut, die dort herrschte, so entsetzt, dass sie die Gastfreundschaft auch nicht einen Tag lang in Anspruch nehmen wollte. Sie wusch sich über einer Schüssel die Müdigkeit von den
Augen, aß ein paar Löffel Mămăligă mit Milch und lief zum nächsten Zeitungskiosk, um sich einen »Universul« zu kaufen. Zu ihrer freudigen Überraschung
fand sie das Angebot wieder, das sie bereits aus Mihaileni beantwortet hatte. Die
Gastgeberin war mittlerweile fortgegangen, um Besorgungen zu erledigen. Im
Hof kam Lisa mit zwei deutschen Mädchen ins Gespräch. Sie waren in einem
Handarbeitsgeschäft beschäftigt und versprachen, auch ihr eine Stelle als Verkäuferin oder Näherin zu verschaffen. Von dem Posten als Erzieherin rieten die beiden ihr dringend ab. Ein Kinderfräulein sei doch nichts als ein besserer Dienstbote; man werde ausgenützt und hätte keine Freiheit, betonten sie. Mama sehnte sich jedoch nach einem schönen Heim, nach geordneten Verhältnissen, nach
Familienanschluss, sie wollte kein Proletarierdasein führen. Deshalb zog sie ihr
pelzbesetztes braunes Kostüm an, setzte ihren Florentinerhut auf, bestellte einen
Fiaker und fuhr, so ausstaffiert, in die Gândaci (Käfer)-Straße.
Als sie die Gartenpforte aufstieß, kam ihr eine fesche junge Person entgegen,
sah sie herablassend an, und Lisa sank aller Mut. Sie war überzeugt, die aufgetakelte »Gans« wäre ihr zuvor gekommen. Bangen Herzens drückte sie auf den
Klingelknopf. Ein Diener öffnete ihr und führte sie zu einer älteren Dame, die in
ein großes Schultertuch gehüllt, in einem Schaukelstuhl saß und meine Mutter
nun einem richtigen Verhör unterzog. Lisa erzählte alles wahrheitsgetreu. Sie
sprach gut Deutsch und sah wohl wie eine Österreicherin aus. Niemand fragte
sie nach der Religion, und daher erwähnte meine Mutter ihren mosaischen
Glauben nicht.
Der Hausherr war ein pensionierter evangelischer Pastor; seine Frau, die
Großmutter der Kinder, eine Rumänin aus dem berühmten Fürstengeschlecht
der Caragea (Karadja), ihr Bruder Direktor der Nationalbank. Die drei zu betreuenden Kinder, die 16-jährige Martha, die 15-jährige Florica und deren jüngerer Bruder Paul, genannt Gigi, wohnten bei den Großeltern, weil ihr Vater,
Major Popovici, an Tuberkulose gestorben war; ihre Mutter, ein »leichtes Tuch«,
hatte ihren zweiten Gatten, einen Prinzen Ghica, verlassen und lebte nun in
»wilder« Ehe mit einem anderen Mann.
– Wann könnten sie kommen? fragte die Alte.
– Gleich. Ich habe keine Bleibe, nur eine entfernte Bekannte, bei der ich meinen Koffer gelassen habe.
Herkunft. Familienchronik
23
– Das wäre ja herrlich. Morgen ist Sonntag, da sind die Kinder immer bei ihren
Großeltern väterlicherseits eingeladen, und es gibt niemanden, der sie hinbegleiten könnte. Doch, was stellen Sie für Ansprüche?
– Ich suche vor allem Familienanschluss. Das Gehalt überlasse ich Ihrem Ermessen.
– Wissen Sie, ich bin eigentlich froh, dass Sie nicht mehr ganz so jung sind. Sie
machen einen soliden, ernsten Eindruck, Flittchen nehme ich nicht ins Haus.
Das vorige Fräulein bekam 60 Lei im Monat. Sind Sie damit einverstanden?
Die 24-jährige Lisa, die dank der Reisestrapazen offenkundig viel älter aussah
und zum Glück ihren Pass, laut dem sie bloß 20 Jahre alt war, noch nicht vorgezeigt hatte, willigte sofort ein. Warum die Pastorin sich so sehr vor Flittchen
hütete, sollte meine Mutter auch bald erfahren. So alt er war, hatte der Pastor
bisher mit allen Fräuleins angebandelt. Frau Hesselmann wollte Mama zum Mittagessen behalten. Lisa lehnte jedoch dankend ab, erklärte, ihre Bekannte warte;
am Nachmittag könne sie indes mit ihren Sachen kommen.
Die beiden Näherinnen, die Mama morgens eingeschärft hatten, stolz zu sein,
waren ganz außer sich, als sie hörten, wie diese »Landpomeranze« sich hatte hereinlegen lassen. Mamas Gastgeberin hatte zu der vom Frühstück übrig gebliebenen Mămăligă Sauerkraut gekocht und war bereit, das Wenige, das sie hatte, mit
dem fremden Mädchen zu teilen. Lisa wollte jedoch nichts davon hören. Mit
dem letzten Geld, das sie in der Tasche hatte, bezahlte sie einen Fiaker und fuhr
mit ihrem Koffer in die Gândaci-Straße.
Die Kinder freuten sich mit ihr wie mit einer Schwester und schlossen sie gleich
ins Herz. Zum Abendessen kam die Mutter der Kinder, um das neue Fräulein
kennenzulernen. Als erster Gang wurde ein auf Öl gekochtes Gemüsegericht
serviert, dann eine kalte Platte. Mama hatte nichts davon je zuvor im Mund gehabt. Zuhause in Budenitz hatte man nur auf Butter oder auf Schmalz gekocht,
und Schweinefleisch kam nicht auf den Tisch. Lisa würgte ein paar Bissen hinunter, ließ sich ihren Ekel nicht anmerken, sagte, sie wäre noch satt vom Mittagessen und ging mit knurrendem Magen und schwerem Kopf zu Bett. Sie teilte
das Zimmer mit den beiden Mädchen, erteilte ihnen Deutschunterricht, überwachte ihre Schulaufgaben und nähte auch ab und zu für sie. Sonntags und an
Feiertagen schickte der General, ein Onkel der Kinder, seinen Chauffeur, um die
ganze Bande zu den anderen Großeltern zu holen. Am Nachmittag gingen allesamt ins Kino.
Meine Mutter, die vorher nie in einem Auto gefahren und in einem Kino gewesen war, passte sich allmählich dem fremden Milieu an und nahm am Leben der
Familie teil. Da sie sehr attraktiv war (D I: 1), hatte sie bald viele Verehrer, doch
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2. Lisa Stadler (1. von links in der letzten Reihe)
und die Pastorenfamilie (Bukarest 1915)
sie achtete streng auf ihre Ehre. Wollten deutsche Offiziere, die im Haus verkehrten, sie ins Theater ausführen, so nahm sie gleich eines der beiden Mädchen als
Chaperon mit.
Sie hatte bereits sechs Jahre als Erzieherin in diesem Haus verbracht, als einer
dieser Offiziere, ein österreichischer Ingenieur, um ihre Hand anhielt. Lisa ließ
ihren einzigen Bruder, Mosiu (D I: 16), dem sie vertraute und den sie liebte, aus
Czernowitz kommen, damit er den jungen Mann kennenlernte. Mosiu reiste
eigens aus Czernowitz nach Bukarest, um den Zukünftigen seiner Schwester zu
begutachten, lehnte aber diese Verbindung ab. Er beeinflusste Lisa, den Heiratsantrag auszuschlagen. Mosiu forderte seine Schwester auf, mit ihm »nach Hause«, nach Czernowitz, zurückzukehren und sie folgte ihm.
Doch nach dem Ersten Weltkrieg hatte Lisa in Czernowitz kein »Zuhause« mehr.
Die Gebäude, in denen sie als Kind und Mädchen gelebt hatte, lagen in Schutt
und Asche. Die Russen hatten alles in Brand gesteckt. Die jüngere Generation
wollte nicht mehr auf dem Lande leben. Die Cousins hatten Feld und Land
verkauft und sich als Holzhändler und Viehexporteure in der Stadt niedergelas-
Herkunft. Familienchronik
25
sen. Großmutter lebte, nachdem sie aus Wien zurückkam, zunächst bei ihrer
Tochter Anna. Ihr Erbteil trat sie ihrem einzigen Sohn, Mosiu, ab, der inzwischen in Wien die Technische Hochschule absolviert hatte und kurzzeitig als
Geometer arbeitete. Mit dem Geld seiner Mutter und von der Mitgift seiner
Frau kaufte er, sobald er verheiratet war, ein schönes Haus in der Russischen
Gasse, eröffnete eine große Eisenwarenhandlung und gründete ein kleines Bauunternehmen.
Da der Vater jung verstorben war, fühlte der Bruder (D I: 16) sich nun als Oberhaupt der Familie für seine Mutter und die beiden jüngeren Schwestern verantwortlich (D I: 14 und 15). Für Dela, die während des Krieges als Bürofräulein in
Konstanza, dem alten Schwarzmeerhafen Tomis, gearbeitet hatte und dann als
Kassenfräulein in seinem Geschäft saß, kaufte er, als sie in Czernowitz Adolf
Werpoler heiratete, ein kleines Haus in der Radetzki-Gasse. Im oberen Stockwerk dieses Hauses richteten sich meine Großmutter und deren mittlerweile geschiedene Schwester Fanny ihre Wohnung ein.
Nun hieß es, Luise, wie Mutters Vorname im österreichischen Pass lautete,
endlich unter die Haube zu bringen. Die fühlte sich in ihrem neuen Zuhause gar
nicht wohl. Sie hatte sich beim Aussteigen aus dem Zug den Fuß verstaucht, und
ihre Schwägerin empfing sie nicht gerade freundlich. Sie wies ihr eine Dachkammer an, in die man über eine Leiter – eine »Hühnersteige«, wie meine Mutter die
Treppe verächtlich nannte – hinaufklettern musste. In Bukarest hatte sie in einem herrschaftlichen Haus ein schönes helles Zimmer besessen und erhoffte sich
auch durch die Ehe ein wenigstens ähnliches Zuhause. Diesen Wunsch nach
Familie und einem eigenen Zuhause sollte ihr Karl Horowitz erfüllen. Als Kind
hatte sie ihn einmal flüchtig kennen gelernt; nun sah sie ihn wieder, denn auch
er war einige Tage nach ihr, aus Wien kommend, in Czernowitz eingetroffen.
Mein Vater war im Unterschied zu meiner Mutter ein verwöhntes Einzelkind
wohlhabender Eltern. Das Haus in der Bräuhausgasse Nr. 28, Ecke Töpferberg
2, in dem er am 2. August 1892 zur Welt kam und in dem auch ich und meine
jüngere Schwester geboren wurden, befand sich bereits 1882 laut Grundbucheintrag im Besitz meiner Großmutter.
Vielleicht hatte man es ihr zur Mitgift gekauft, denn es scheint vorher einer Ruthenin gehört zu haben, mit der sie später einen Prozess führte. 1859 in Kofsow,
vermutlich einem galizischen Dorf geboren, war Ethel, im Familienkreis Netti,
auch Etti genannt, die Tochter von Feige Langer und Jacob Stadler, eines angesehenen Kaufmanns. Sie war eine leibliche Cousine meines Großvaters mütterlicherseits, eine richtige Stadler, energisch, praktisch und zielbewusst.
3. Netti Stadler, verh. Horowitz
(Czernowitz um 1880)
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4. Das Haus der Horowitz-Familie
(Czernowitz um 1912)
Sie führte ein Kolonialwarengeschäft im Erdgeschoss des eigenen Hauses und
hatte auch sonst die Zügel fest in der Hand. Ihren Ehemann Berl, verdeutscht
Bernhard Horowitz, aus einem berühmten Stanislauer Rabbinergeschlecht gebürtig, dürfte sie in den späten 1880er Jahren geheiratet haben, vielleicht sogar
früher, weil man jüdische Kinder zu jener Zeit sehr jung vermählte.
Ein in Czernowitz ausgestelltes Zeugnis vom Juli 1883 berechtigte meinen
Großvater »zur doppelten Buchführung für Bank- und Warengeschäfte«. Wann
er in diese Stadt gekommen ist, weiß ich nicht. Man erzählte mir, er habe vor seiner Ehe im unweit gelegenen Marktflecken Sereth Französisch, Buchhaltung
und Kalligraphie unterrichtet. Ein in Stanislau aufgenommenes bräunliches Foto
von ihm, das einzig erhalten gebliebene, lässt auf seine galizische Herkunft schließen.
Der ernste, bloßköpfige, helläugige, blonde Jüngling mit kurz geschnittenem Backen-, Kinn- und Schnurrbart trägt einen modischen Sakko, vielleicht aus Samt,
und einen Schlips. Dem Aussehen nach hätte er ein junger Pole sein können,
doch war er nach Aussagen seiner Cousinen ein frommer Jude, der allwöchentlich
in die Mikwe, ins rituelle Bad, ging. Er widmete sich dem Studium des Talmuds
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amilienchronik
erkunft
5. Bernhard Horowitz
(Stanislau um 1880)
und steckte stundenlang mit seiner Nase in Büchern, während sich seine praktische, energische Frau und seine Schwester Nancia, auch Chana genannt, im Kolonialwarenhandel abrackerten. Nancia, die einen Sprachfehler hatte, war unverheiratet geblieben und verbrachte ihre Zeit damit, ihrer Schwägerin zu helfen,
den Haushalt zu führen. Beide Frauen waren stolz, einen »Gelehrten« zum Mann
beziehungsweise Bruder zu haben, auch wenn er, wie später sein Sohn, an allem
herumnörgelte. Mir aber erscheint heute noch diese, jüdischen Traditionen entsprechende »Arbeitsteilung« in meiner Familie höchst ungerecht.
Bernhards Bruder hatte zwei Söhne, die beide in Deutschland lebten. Merkwürdigerweise stand mein Vater mit ihnen nicht in Kontakt, und ich habe diesen
Zweig meiner Familie nie kennengelernt. Nur die zweite Schwester meines
Großvaters, die mit einem Herrn Brautmann verheiratet war und in der Nähe
der erzbischöflichen Residenz wohnte, besuchte ich mit Papa oft an Sonntagvormittagen. Sie war eine liebe, gebildete, emanzipierte und sehr aufgeschlossene
Frau.
Die Eltern meines Vaters waren ursprünglich – wie es den jüdischen Gepflogenheiten der Zeit entsprach – nur religiös getraut, weshalb der Sohn als Schüler
unter dem Geburtsnamen der Mutter registriert wurde. Später dürften sie sich
standesamtlich getraut haben, denn als Student figurierte Vater in den erhaltenen Studienbüchern bereits als Karl Horowitz.
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6. Historische Aufnahme von Czernowitz:
Rathaus und Ringplatz 9
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Der Name Horowitz ist unter Juden sehr verbreitet; Christen dieses Namens
sind mir nicht bekannt. In unserer Stadt lebten mehrere Familien dieses Namens, doch waren sie nicht mit uns verwandt. Oft werde ich gefragt, ob ich mit
dem berühmten Pianisten Vladimir Horowitz verwandt bin, mit dem Schauspieler Dominique Horwitz, dem Regisseur des Zürcher Schauspielhauses Kurt Horwitz, der Schauspielerin und Regisseurin des Berliner Ensembles Angelica Hurwitz und muss leider verneinen. Aus einem Tagebucheintrag von Arthur Schnitzler erfuhr ich, dass ein Maler namens Bernhard Horowitz, der in Ischl Johann
Strauß porträtierte, dem Kaiser Franz Joseph mitteilte, »Liebelei«, das gerade im
Burgtheater aufgeführt wurde, sei ein unmoralisches Stück. Auch der war meines
Wissens kein Verwandter. Als ich einmal im Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut
eine Lesung aus meinem Buch Begegnung mit Paul Celan hatte und einen der Herren, die ein Exemplar dieses Buches kaufen wollten, nach seinem Namen fragte,
um ihm eine Widmung hineinzuschreiben, stellte er sich als Dr. Horowitz aus
Czernowitz vor. Ich staunte und erklärte, ihn zum ersten Mal zu sehen. Zwei Jahre
später traf ich ihn anlässlich einer Veranstaltung in Würzburg wieder und da erzählte er mir, es gäbe einen weltweiten Verein der Familien Horowitz, beziehungswei-
9 Siehe auch D II: 6-16.
Herkunft. Familienchronik
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se Horwitz, Hurwitz usw., und die Mitglieder träfen sich alljährlich in Israel. Er
selber hätte dort gelebt und wäre erst nach Deutschland gezogen, nachdem seine
Söhne in Düsseldorf Arztpraxen, der eine als Kardiologe, der andere als Augenarzt, eröffnet hatten. Als Rentner reiste er einmal in die Tschechoslowakei und
entdeckte dort angeblich, woher sein Familienname abgeleitet sei.
Sein sonderbarer Bericht deckte sich voll mit dem, was mir später eine gebürtige Czernowitzerin erzählte, die in Israel lebte, mich aber in Hofgastein kennenlernte: Ein sephardischer Rabbi namens Raphael floh vor der Inquisition nach
Prag, zur Zeit Kaiser Rudolfs10 im 16. und 17. Jahrhundert ein blühendes Zentrum jüdischer Kultur. Dort gründete er eine eigene Synagoge, zerstritt sich aber
mit den Alteingesessenen und zog mit seinen Adepten nach Hořovice, einem
kleinen Ort in der späteren Tschechoslowakei. Die Nachkommen dieses Rabbiners sollen sich dann nach ihrem Wohnsitz Gorowitz beziehungsweise Horowitz
genannt haben. Ist dies eine Legende? Ist es eine geschichtlich belegbare Tatsache? Wenn die Geschichte stimmte, dann wären wir gar nicht Aschkenasim,
deutsche Juden, sondern Sephardim, spanische Juden. Wie viel Wahrheit darin
steckt, wissen die Götter. Mit »Mischpochologie« hatte ich mich bislang nicht
befasst.
Der Zufall wollte es, dass ich wenig später aus Tel-Aviv den Brief eines mir
unbekannten Herrn namens Horowitz erhielt, der mich ebenfalls über eine weltweite Vereinigung von Menschen mit diesem Familiennamen informierte. Sich
auf seinen Schwiegersohn, Professor Hardy Meyer berufend, der in Amerika lebte und mich seit der Jugend kannte, teilte er mit, erfahren zu haben, dass ich in
Bukarest Schauspielerin gewesen sei und bat mich, wenn möglich, um Informationen über weitere Persönlichkeiten, die unseren Familiennamen tragen.11
Der zartgliedrige, blonde Karl mit den veilchenblauen Augen – äußerlich und
dem Wesen nach dem Vater ähnlich – war ein übermütiger Knabe, der im Nachbargarten der Dobrowolskis auf die Nussbäume kletterte und dort nicht bloß
von einem hohen Baum fiel, sondern sich sogar eine Gehirnerschütterung holte,
als er auf einem Dachgerüst versuchte, rücklings von einem Balken zum anderen
zu springen und dabei in die Tiefe stürzte.
Als der Kutscher einmal Bierfässer von seinem Wagen ablud, schwang der
kleine Karl sich auf den Bock, trieb die Pferde so ungestüm an, dass sie scheu
10 Kaiser Rudolf II. (1552-1612) war von 1576 bis 1612 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches
Deutscher Nation, das auch die Iberische Halbinsel umfasste.
11 »Inzwischen erhielt ich Fotokopien von Auszügen aus der Encyclopedia Judaica vom Jahre 1971,
auf denen 40 Persönlichkeiten dieses Namens, die seit dem 16. Jahrhundert gelebt haben, aufgelistet sind, ein Großteil von ihnen Rabbiner oder Schriftgelehrte. Auch die Ableitung des Namens
vom Städtchen Hořovice in der Nähe von Prag ist in Meyers Konversationslexikon belegt.«
(Anmerkung von Edith Silbermann).
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7. Karl Horowitz als Sechsjähriger
(Czernowitz 1898)
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wurden und in wildem Galopp bis in die Russische Gasse davon trabten. Ein
Fass nach dem anderen polterte auf das Katzenkopfpflaster der Bräuhausgasse.
Die erschrockenen Nachbarn rangen die Hände und schrien, der schlimme Bub
würde sich den »Kopf brechen«. Die Gassenbuben jagten mit lautem Gejohle
dem schweren Wagen nach, während empörte Mütter ihre braven Sprösslinge ins
Haustor zerrten. Dies waren nur einige der Bubenstreiche meines Vaters.
Gewiss erhielt Karl als Kind Hebräischunterricht, denn im Unterschied zu vielen
seiner Glaubensgenossen, verstand er genau, was er damals und später betete.
Auffällig ist es, dass er erst mit zwölf aufs Gymnasium kam und schon 20 war, als
er maturierte. Vielleicht war er ein kränklicher Junge. Auf den zwei hübschen
Kinderfotos, die ich von ihm besitze, ist das allerdings nicht zu erkennen. Auf
dem einen, wohl als Zwei- oder Dreijähriger, trägt er noch ein Kleidchen, auf
dem Späteren einen eleganten Matrosenanzug und Schuhe mit großen Schleifen.
Hübsch sind auch die schulterlange Pagenfrisur und der große Reifen in seinen
Händen.
Nach dem Abitur schrieb er sich an der Czernowitzer Universität als Jura-Student ein (D I: 2, D II: 13), wahrscheinlich auf Wunsch der Eltern, besuchte in-