Marcus Emmerich Tue das Richtige und sei gerecht! Rede zur

Marcus Emmerich
Tue das Richtige und sei gerecht!
Rede zur Diplomverleihung Sekundarstufe I, Windisch 9. September 2015
Liebe Diplomandinnen und Diplomanden
Der Titel meines Vortrags - "Tue das Richtige und sei Gerecht" - enthält zwei
Imperative und ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, ob und in welcher
Weise beide Imperative für ein ethisches Prinzip von Professionalität stehen.
Der heutige Tag markiert symbolisch den erfolgreichen Abschluss Ihres Studiums
und Sie haben allen Grund dazu, stolz auf sich zu sein, den Blick zurück auf das von
Ihnen Geleistete zu richten und ebendieses gebührend zu feiern. Hinter Ihnen liegen
das Fachstudium, die fachdidaktische und erziehungswissenschaftliche Ausbildung
und natürlich die Schulpraktika, in denen Sie Erfahrungen in konkreten Klassen und
Unterrichtssituationen gemacht und reflektiert haben. Vor allem liegen auch die
Erfahrungen hinter Ihnen, die Sie mit sich selbst in der Rolle einer Lehrperson
gemacht haben. Sie haben sich im Verlauf Ihres Studiums ein umfängliches, aber
auch differenziertes Wissen in unterschiedlichen Bereichen erschlossen und
angeeignet, das es Ihnen ermöglichen wird, als Lehrperson erfolgreich zu arbeiten,
oder vielleicht sollte ich lieber sagen: professionell zu handeln.
Andererseits markiert dieser Tag eine biographische Zäsur, mit der sich der Blick auf
die Zukunft richtet: Vor Ihnen liegt nun der endgültige Einstieg in ein vermutlich
ereignisreiches Berufsleben. Einen langweiligen Beruf haben Sie sich nicht
ausgesucht und dafür, dass er aufregend bleibt, werden nicht nur Ihre zukünftigen
Schülerinnen und Schüler sorgen, sondern auch Ihre Kolleginnen und Kollegen, Ihre
Schulleitungen, und ganz sicher die Bildungspolitik auf kantonaler und Bundesebene.
Die vor Ihnen liegende Zukunft wird möglicherweise nicht nur Höhen haben, sondern
auch ein paar Tiefen, mit denen Sie individuell oder vielleicht besser: gemeinsam mit
Ihren zukünftigen Kolleginnen und Kollegen einen Umgang werden finden müssen.
Derartige Eventualitäten lassen sich jedoch nicht antizipieren, sie werden kommen
oder nicht, in der einen oder anderen Weise. Eines aber lässt sich bereits heute
schon mit Gewissheit prognostizieren: Sie werden in der Zukunft in
Eigenverantwortung handeln und diese Eigenverantwortung macht nicht zuletzt in
einem ganz praktischen Sinn die Professionalität des Lehrberufs aus.
Eigenverantwortung bedeutet einerseits, dass Sie in Bezug auf die Gestaltung Ihres
Unterrichts bspw. hinsichtlich des Einsatzes von Lehrmethoden, von Sozialformen,
der Zusammensetzung und Niveaudifferenzierung von Lerngruppen usw. Ihre
eigenen Entscheidungen werden treffen müssen, die Ihnen niemand abnehmen kann
und die Ihnen auch niemand abnehmen sollte. Kollegialer Rat, wechselseitiger
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Austausch und Unterstützung sowie weiterreichende Formen der professionellen
Kooperation sind dabei allerdings Wege, die professionelle Eigenverantwortung eher
zu unterstützen und zu fördern, als sie einzuschränken. Eigenverantwortung
bedeutet hierbei aber auch, dass Sie sich als professionell Handelnde selbst
weiterentwickeln, dass Sie nicht nur Routine gewinnen, sondern auch offen dafür
bleiben, eingeschliffene Routinen zu hinterfragen und gegebenenfalls neue Wege zu
gehen.
Eigenverantwortung bedeutet andererseits, dass Sie das, was Sie als Lehrperson
tun, nicht nur sich selbst, sondern auch Dritten gegenüber zu verantworten haben:
Zuerst selbstverständlich gegenüber Ihren Schülerinnen und Schülern, aber auch
gegenüber den Eltern, den Kolleginnen und Kollegen, der Schulleitung, der
Bildungsadministration, oder, ganz allgemein gesagt, gegenüber einer Gesellschaft,
die finanziell dafür aufkommt, dass ein öffentliches Schulsystem betrieben werden
kann und die - abstrakt gesprochen - Interessen und Erwartungen an dieses
Schulsystem und damit an jede einzelne Lehrperson heranträgt: Die Politik erwartet
mündige Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft qualifizierte Arbeitskräfte, die Eltern
gute Noten und eine gute Zukunft für Ihre Kinder.
Diese unterschiedlichen Anspruchshaltungen machen die Ausübung des Lehrberufs
nicht leichter, aber es wird Ihnen als zukünftigen Lehrpersonen trotz all dieser
Erwartungen und Interessen grundsätzlich zugestanden, dass Sie auf Grundlage
Ihres professionellen Wissens und Könnens entscheiden, wie gelernt wird.
Professionelles Handeln im Lehrberuf bleibt - trotz curricularer Vorgaben, trotz
Bildungsstandards,
trotz
Schulprogrammen
selbstständiges
und
eigenverantwortliches Handeln.
Dass diese Idee der professionellen Verantwortung resp. der Eigenverantwortung
nicht immer zum Grundverständnis des Lehrberufs gezählt hat, mag an dieser Stelle
folgende historische Anekdote verdeutlichen, die sich vom deutschen Philosophen
und Schriftsteller Jean Paul berichten lässt: In Jean Pauls Schriftensammlung
"Levana oder Erziehlehre" ist eine Antrittsrede dokumentiert, die er anlässlich seiner
Berufung als Lehrer an ein Gymnasium gehalten hat und die folgendermassen
beginnt:
"Verehrtestes Scholarchat, Rektorat, Kon- und Subrektorat, Tertiat!
Werteste Lehrer der untern Klassen und Kollaboratores!
Ich drücke, hoff‘ ich, mein Vergnügen, als letzter Lehrer in unserer Erziehanstalt
angestellt zu sein, nach meinen Kräften aus, wenn ich meinen Ehrenposten mit dem
Erweis antrete, dass Schulerziehung so wie Hauserziehung weder üble Folgen habe,
noch andere. Bin ich so glücklich, dass ich uns allen eine ruhige Überzeugung von
dieser Folgenlosigkeit zuführe: so trage ich vielleicht dazu bei, dass wir alle unsere
schweren Ämter leicht und heiter bekleiden – ohne Aufblähen – mit einer gewissen
Zuversicht, die nichts zu fürchten braucht; – täglich gehen wir hinter den Zöglingen
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aus und ein und sitzen auf dem Lehrstuhl als unserem Sorgestuhl, und jede Sache
geht ihren Gang.“ 1
Was uns Jean Paul hier vorführt, ist einerseits eine in ironischem Ton vor- und von
einem negativen Erziehungsverständnis getragene Kritik an der Schule als
Institution: Schulerziehung schadet nicht, vor allem aber dient sie dazu, dass es sich
die Lehrer bequem machen können. Andererseits artikuliert sich hierin aber ein vorprofessionelles Verständnis des Lehrberufs, weil Jean Paul seine eigene
pädagogische Handlungsfähigkeit im Grunde negiert. Aus der Perspektive der LehrLernforschung würden wir heute vielleicht auch sagen, dass Jean Pauls
professionelle Selbstwirksamkeitserwartung eher gering ausgeprägt war. Allerdings
hatten die anwesenden Schulleiter und Kollegen der Schule vielleicht doch eine
Vorstellung von dem, was professionelle Verantwortung ist, zumindest lässt sich dies
aus der Tatsache schliessen, dass Jean Paul, nachdem er diese Rede gehalten
hatte, von seinem Lehramt wieder entbunden wurde, wie er selbst in einem
Kommentar anmerkt.
Ich habe bis hierhin viel - und ich hoffe nicht, zu viel - von der Eigenverantwortung
gesprochen, die als Erwartung an die professionelle Praxis herangetragen wird, von
den Ansprüchen also, die an diese gestellt werden. Ihnen damit Angst zu machen, ist
freilich nicht meine Absicht. Im Gegenteil: Eher möchte ich Sie, wie Jean Paul, aber
mit anderen Argumenten, im Folgenden beruhigen, denn Sie bringen die besten
Voraussetzungen mit, um in Ihrer zukünftigen Praxis als Lehrperson mit den
gegebenen Rahmenbedingungen umgehen und eigenverantwortlich - und das heisst:
professionell - handeln zu können. Dazu müssten Sie mich nun allerdings auf einem
kleinen Umweg begleiten, der mich zunächst zu einem Kinofilm, dann zu einem
französischen Philosophen und schliesslich zu meiner angekündigten Frage kommen
lässt. Zur Erinnerung: Es ging mir darum, ob und inwiefern das professionelle
Handeln in Schule und Unterricht - auch nach unserem 'modernen'
Professionsverständnis - an ethischen Prinzipien oder auch Handlungsmaximen
orientiert ist, die sich in Form der beiden Imperative 'Tue das Richtige' und 'Sei
gerecht' darstellen lassen - und welche handlungspraktischen Implikationen aus
diesen folgen können.
Es mag nun merkwürdig tönen, wenn ich die erste der beiden Maximen, von denen
ich behaupte, dass sie zu den Grundprinzipien der Professionalität des Lehrberufs
zählt, aus einem Us-amerikanischen Kino-Film ableite, der sich weder mit Schule,
noch mit Unterricht und schon gar nicht mit Professionalität beschäftigt. Aber
manchmal sieht man die Dinge eben etwas schärfer, wenn man sie aus einer
anderen Perspektive betrachtet. Ich darf Ihnen kurz erläutern, worum es sich handelt:
'Do the right thing' ist der Titel eines Films von Spike Lee aus dem Jahr 1989. Die
Handlung ist in Brooklyn angesiedelt, den politischen Hintergrund der Story, die der
Film erzählt, bildet dabei die kritische Frage, welche Realisierungschancen die
1
Beim Sorgestuhl handelt es sich um einen Armlehnensessel.
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Utopie einer 'multikulturellen Gesellschaft' haben kann, wenn der grassierende
Rassismus und die Armut in den USA dabei ausgeblendet bleiben. Sal ist der
italienischstämmige Besitzer einer Pizzeria mitten in Brooklyn, der zwar seine kleinen
verbalen Gefechte mit seiner afroamerikanischen Nachbar- und Kundschaft pflegt,
grundsätzlich aber davon überzeugt ist, dass es das Richtige sei, in Brooklyn zu
leben - im Gegensatz zu seinem Sohn, der den Stadtteil lieber heute als morgen
verlassen will. Der Film schildert, wie sich auf eine rassistische Bemerkung des
Sohnes von Sal hin ein eskalierender Konflikt entwickelt, in dem zwar alle
Protagonisten gute Gründe dafür angeben können, dass und warum sie das Richtige
tun. Aber am Ende gibt es einen Toten, eine ausgebrannte Pizzeria und ihren
ruinierten Besitzer. Die Pointe des Filmtitels bzw. ich sollte eigentlich sagen: seine
ethische Aussage wird erst am Ende des Films deutlich: Niemand tut das Richtige,
gemessen an den Folgen, die seine Handlungen hatten.
Die Frage ist natürlich, ob die Einzelnen hätten absehen können, welche intendierten
und nicht-intendierten Folgen aus ihrem Handeln resultieren. Dafür hätten sie aber
annehmen müssen, dass alle anderen Beteiligten in dieser Auseinandersetzung sich
so verhalten, dass dies erwartbar ist - und dies war eben nicht der Fall. Interessant
ist dabei, dass der Imperativ bzw. die ethische Maxime, das Richtige zu tun,
weiterhin Gültigkeit behält, obwohl - im Nachhinein betrachtet - niemand das Richtige
getan hat. Das ist wichtig zu betonen: Die ethische Maxime, die alle Handelnden für
sich reklamieren, verliert nicht dadurch an Bedeutung, dass sie nicht erfüllt wird; im
Gegenteil: die Nicht-Erfüllung steigert ihre Bedeutung.
Die ethische Maxime 'Tue das Richtige' funktioniert also - wenn wir Spike Lee folgen
- nicht so, dass sie klare Handlungsanweisungen gibt, die man befolgen soll - wie
dies etwa für Verbote gilt. Zum Beispiel: Gehe nicht bei Rot über die Ampel - oder
zumindest dann nicht, wenn Kinder in der Nähe sind! Dieser merkwürdige Imperativ
'Tue das Richtige' appelliert vielmehr an unsere genuine Eigenverantwortung, selbst
entscheiden zu sollen und zu müssen, was das Richtige ist - mit der Hypothek
freilich, dass wir immer erst im Nachhinein sehen können, ob wir das Richtige getan
haben. Aber dies entscheiden eben nicht nur wir als Handelnde, sondern auch
diejenigen, auf die sich unser Handeln in irgendeiner Weise bezieht, die wir mit
unserem Handeln adressieren.
Etwas Ähnliches lässt sich auch über den zweiten Imperativ sagen, den ich ins Spiel
gebracht habe. Jean-Francois Lyotard behauptet in seinem Text „Au juste“, dass das
Judentum keine gültigen Moralgesetze im Sinne klarer und eindeutiger
Handlungsanweisungen entwickelt habe, sondern stattdessen eigentlich nur ein,
allerdings ungeschriebenes Metagesetz kenne: Dieses lautet: Seid gerecht! Dazu
schreibt Lyotard:
„‘Seid gerecht.‘ Aber genau das wissen wir nicht, was das bedeutet, gerecht zu sein.
Das heisst, dass wir ‚gerecht zu sein‘ haben. Das ist nicht ‚Haltet Euch hieran‘, das
ist nicht ‚Liebet Euren Nächsten‘ et cetera. All das ist heisse Luft. ‚Seid gerecht‘: von
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Fall zu Fall, man wird jedes Mal entscheiden, sich äussern, urteilen, und dann
überlegen müssen, ob es das war, gerecht zu sein.“
Auch im Fall der Maxime 'Sei gerecht' - ich habe sie in den Singular gesetzt - wird
deutlich, dass die Entscheidung darüber, was gerecht ist und was nicht, nur
nachträglich möglich ist, obwohl genau diese Entscheidung im Hier und Jetzt, in der
Ungewissheit und mit der Verantwortung für die Folgen getroffen werden muss.
In beiden Fällen also, sowohl bei Spike Lee als auch bei Lyotard, geht es um die
fundamentale Frage, wie man richtig bzw. wie man gerecht Handeln soll, obwohl
man nicht sagen kann, was jetzt, in dieser Situation, die zum Handeln zwingt, das
Richtige oder das Gerechte ist. Dies lässt sich immer nur nachträglich beurteilen.
Beide Maximen geben also keinen genauen - und nicht mal einen ungenauen Hinweis darauf, was in einer konkreten Situation mit Gewissheit getan werden kann.
Sie sind keine Gebrauchsanleitung und auch kein Rezept, sie helfen mit anderen
Worten in einer konkreten Situation, in der zu entscheiden wäre, was richtig und was
gerecht ist, überhaupt nicht weiter.
Wozu aber sind sie dann gut?
Die Bedeutung beider Imperative liegt in dem, was man ihren 'Reflexionswert'
nennen könnte, um einen Ausdruck des Soziologen Niklas Luhmann an dieser Stelle
zu verwenden. Reflexionswert ist die Bezeichnung dafür, dass die Orientierung an
jenen beiden Maximen, das Richtige zu tun und gerecht zu sein, dazu auffordert und
dazu zwingt, Fragen zu stellen und bisherige Antworten infrage zu stellen. Wenn wir
uns an diesen Maximen orientieren, zwingen sie uns zum Nachdenken, zum
Abwägen von Handlungsmöglichkeiten und möglichen Folgen, zur Suche nach
Gründen und Begründungen für die eine oder die andere Handlungsalternative.
Und genau dies scheint mir eines der wesentlichen 'ungeschriebenen Gesetze'
pädagogischer Professionalität zu sein. Professionelle Eigenverantwortung wäre aus
dieser Perspektive - wenn sie jenen Imperativen folgt - von einer grundsätzlichen
Reflexionsbereitschaft getragen, von einer Ethik des Fragens und Infrage-Stellens
als Grundzug des eigenen professionellen Habitus.
Wenn beide Imperative ernst genommen werden, dann lassen sich allfällige
Schwierigkeiten, Schieflagen und Konflikte, die in der alltäglichen Praxis im
Klassenraum und im Schulhaus auftreten, nicht mehr einfach ignorieren, denn sie
verhindern ja möglicherweise, dass man professionell Arbeiten kann, sie verhindern
womöglich, dass das Richtige und Gerechte getan werden kann.
Und dies gilt selbstverständlich auch hinsichtlich der strukturellen Widersprüche des
Lehrberufs - Werner Helsper hat hierfür den Begriff der 'Antinomien' geprägt -, die
sich nicht ohne weiteres aus dem Weg räumen lassen, weil sie eben 'strukturell'
dazugehören. Eine dieser Antinomien besteht darin, dass Lehrpersonen nicht nur
das erfolgreiche Lernen ermöglichen und unterstützen sollen, sondern gleichzeitig
dafür Sorge zu tragen haben, dass innerhalb des Schulsystems Selektion möglich
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wird, indem sie Lernentwicklungen einschätzen und Zensuren vergeben. Während
auf der Seite der Lernunterstützung die Frage leitend ist, wie eine möglichst
individuelle Lernförderung gestaltet werden kann, was also didaktisch und
methodisch das 'Richtige' wäre, stellt sich auf der Seite der Leistungsbewertung in
besonderem Masse die Frage nach der Gerechtigkeit und der Rechtfertigung dieser
Bewertungen. Denn die Schule beeinflusst in entscheidender Weise die Biographie und nicht nur die berufliche - von Menschen, indem sie ungleichwertige
Bildungsabschlüsse vergibt: Der Abschluss, der an einer Bezirksschule erworben
wird, eröffnet andere Anschlussmöglichkeiten, als der Abschluss an einer
Sekundarschule; ein Maturitätsabschluss, der an einem Gymnasium erworben wird,
eröffnet andere Perspektiven als eine Fachmaturität. Die Verteilung der
Schülerinnern und Schüler innerhalb dieser differenzierten Schulstruktur erfolgt, wie
in allen modernen Schulsystemen, formal nach dem meritokratischen Prinzip, also:
leistungsgerecht.
Aber: Wird es dem einzelnen Schüler/der einzelnen Schülerin eher gerecht, wenn die
Leistungsbeurteilung an der 'sozialen Bezugsnorm' orientiert ist, also am
Leistungsvergleich zwischen den Schülerinnen und Schüler einer Klasse. Oder ist die
'individuelle Bezugsnorm' gerechter, die den Fokus auf den individuellen
Lernfortschritt eines einzelnen Schülers oder einer einzelnen Schülerin legt? Sie
können an dieser Stelle auch sehen, dass Leistungsgerechtigkeit und die Richtigkeit
des Beurteilungsverfahrens ineinanderlaufen, beide Maximen also als die beiden
Seiten einer Medaille in Erscheinung treten.
Ich möchte zurückkommen zur Idee der Reflexionsbereitschaft: Eine Reflexion der
eigenen pädagogischen Praxis setzt zunächst einmal voraus, dass Handlungsdistanz
geschaffen werden kann, dass es möglich ist, eine Perspektive einzunehmen, die
vom unmittelbaren Handlungsdruck entlastet ist. Dies ist in der Echtzeit der
Unterrichtsinteraktion folglich kaum möglich, es braucht entsprechend Zeiten und
Räume, die diese Distanz zulassen. Dies kann das informelle Gespräch im
Lehrerzimmer sein oder auch ein Gefäss, dass kollegialen Austausch und Feedback
innerhalb eines Schulhauses institutionalisiert. Professionelle Reflexion basiert aber
immer auch darauf, dass sie nicht beliebig und willkürlich, aus dem Bauch heraus
oder gar vor lauter Ärger geschieht, dass nicht diffus das Nächstbeste oder das
Pragmatischste getan wird, nur damit etwas getan worden ist. Dafür, dass die
Reflexion der Praxis eine Orientierung findet, lässt sich nicht zuletzt wissenschaftlich
generiertes Wissen nutzen, das in Form von Theorie und Empirie als
Reflexionswissen fungieren kann.
Wie der Reflexionswert jener Imperative auf Basis erziehungswissenschaftlichen
Wissens inhaltlich konkretisiert werden kann, dafür möchte ich Ihnen kurz ein
Beispiel geben:
«Wumm – was ist das? Sie stehen gerade an der Tafel und sehen noch, wie der
nasse Schwamm an die Wand prallt. Bei Ihnen läuten die Alarmglocken. Jeder weiss,
das ist ein Ernstfall. […] Wenn Sie jetzt keine klaren Vorstellungen eines
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wirkungsvollen Classroom-Managements haben, […] dann sind Sie nicht nur jetzt
verloren, sondern Ihre Position bei Ihren Schülern ist langfristig beschädigt.»
Ich habe diesen Versuch der lebensnahen Schilderung einer Unterrichtsstörung
einem Buch entnommen, das an zukünftige Lehrpersonen adressiert ist und Ihnen,
wie sie sich denken können, vermitteln möchte, was in welcher Störungssituation das
Richtige ist. In gewisser Weise können wir hier sehen, dass die professionelle
Eigenverantwortung durch ein standardisiertes Rezeptwissen ersetzt werden soll.
Aus der Forschung zu Klassenführung wissen wir, dass es einen wichtigen
Grundsatz gibt: Prävention vor Intervention oder Reaktion. Wenn der Schwamm
fliegt, ist also bereits etwas anderes schief gelaufen. Was in einem konkreten Fall
dazu geführt hat, dass eine Störung auftritt, wäre erst in der nachträglichen Reflexion
des vorherigen Geschehens und das bedeutet eben auch: des Handelns der
Lehrperson erschliessbar. Dann lässt sich möglicherweise erkennen, dass ein
unklarer Impuls oder ein nur schwer realisierbarer Arbeitsauftrag als ein Auslöser
infrage kommen - und daran lässt sich etwas ändern.
Wir können auch Theorien des Unterrichts nutzen und dann sehen, dass die
'Erfindung' des auf der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden beruhenden
Klassenunterrichtes zwar sehr ökonomisch ist - man benötigt für viele Schülerinnen
und Schüler nur relativ wenige Lehrpersonen - aber einen erheblichen
Konstruktionsfehler aufweist: Interaktionssysteme - und der Klassenunterricht ist ein
solches Interaktionssystems - sind extrem anfällig für kommunikative Störungen, weil
sich zwangsläufig alle Personen gleichzeitig wahrnehmen können und fast
zwangsläufig aufeinander reagieren. So nehmen wir Manches als eine Störung wahr,
das nicht als eine solche gemeint ist und müssen dennoch entscheiden, ob der
Lernprozess dadurch beeinträchtigt wird oder ob das Eine oder Andere eher toleriert
werden kann, damit der Lernprozess nicht beeinträchtigt wird - etwa durch die
Intervention der Lehrperson, die womöglich selbst den Lernprozess stört. Auch hier
begegnen uns die beiden Imperative wieder: Es ist abzuwägen, was das Richtige ist
und ob Zuschreibungen - etwa die Unterstellung einer Absicht, zu stören - gerecht
sind.
Wenn es so etwas wie eine zentrale Antwort auf die Frage gibt, worin sich eigentlich
die Professionalität der Lehrperson praktisch zeigt, dann liegt sie vielleicht darin, in
Situationen der Ungewissheit das Richtige zu tun, ohne dass es ein Rezept dafür
gibt: Denn wenn es eines gäbe, müsste die Gesellschaft nicht so viel Zeit und Geld in
Ihre Ausbildung investieren. Man könnte dann quasi jedem das Rezept verraten und
jeder könnte erfolgreich Unterrichten.
Aber ein solches Rezept gibt es nicht und kann es auch nicht geben. Aber genau auf
diesen Umstand sind Sie in Ihrem Studium vorbereitet worden: Das Wissen, das Sie
sich im Rahmen ihres fachlichen, fachdidaktischen, erziehungswissenschaftlichen
und berufspraktischen Studiums angeeignet haben, ermöglicht Ihnen die
eigenverantwortliche Entwicklung einer eigenen Professionalität.
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Dreh- und Angelpunkt ist dabei die Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler
Individuen sind, mit ihrer jeweils eigenen Persönlichkeit. Als Individuen handeln sie
bei allem, was sie tun, eigensinnig und es zählt ebenfalls zu den professionellen
Kernkompetenzen, sich auf diese Eigensinnigkeiten - wir können dafür auch den
Begriff 'Heterogenität' setzen - im Unterricht und darüber hinaus einstellen zu
können. Diese Adaptivität, also die Anpassung der pädagogischen Praxis an die
unterschiedlichen Lernbedingungen der Schülerinnen und Schüler, ist gegenwärtig
sicherlich eine der leitenden Orientierungen, wenn es darum geht, als Lehrperson
das 'Richtige' zu tun.
Ich komme damit zurück zu meinem Ausgangspunkt: Es ist nun an Ihnen, die
Verbindung zwischen der unmittelbaren Vergangenheit, also ihrer Ausbildung an der
PH, und Ihrer zukünftigen Berufspraxis herzustellen.
Ihnen sind die Argumente in der einen oder anderen Version sicherlich vertraut, die
einen Wesensunterschied zwischen der 'Theorie' und der 'Praxis' des pädagogischen
Handelns konstatieren. Auf der einen Seite wird dann ein 'abstraktes', praxisfernes
akademisches Wissen ausgemacht, das Ihnen an der Hochschule vermittelt wird, auf
der anderen Seite ein erfahrungsgesättigtes Handlungswissen dagegen gesetzt, das
Sie sich allein in der und durch die tätige Praxis erwerben können. Je nach
Standpunkt, wird die eine Seite gegen die andere ausgespielt, alleine gewinnen kann
aber - und das ist die Grundüberzeugung moderner Professionalisierungsansätze keine. Denn so, wie die Erfahrungen der Praxis, die Sicherheit der Routinen und die
Gewissheit, das Richtige zu tun und gerecht zu sein, notwendig sind, um
Professionalität aufbauen und weiterentwickeln zu können, so hilft der
wissenschaftliche Blick, liebgewonnene Selbstverständlichkeiten des Alltags, allzu
einfache Erklärungen oder allzu feste Überzeugungen kritisch zu hinterfragen und
neue Perspektiven zu eröffnen.
Die Aufmerksamkeit dafür zu entwickeln, wann dies notwendig wird, wann also der
Punkt gekommen ist, an dem Probleme nicht mehr im gewohnten Handlungsmodus
zu lösen sind und ggf. ein Umdenken erfordern, zählt vielleicht zu den
Kernkompetenzen einer, wie man vielleicht sagen könnte, reflexiven Professionalität.
Tue das Richtige und sei gerecht! - beide Maximen geben keine konkreten
Handlungsanweisungen,
bieten
kein
Rezeptwissen
und
liefern
keine
gebrauchsfertigen einfachen Antworten. Sie zwingen vielmehr dazu, immer wieder
Fragen zu stellen oder vielleicht besser: das Fragen und Hinterfragen als solches zu
einer Maxime pädagogisch-professionellen Handelns zu machen.
Wenn Sie nun am Ende Ihres Studiums und am Anfang Ihrer beruflichen Laufbahn
stehen und mehr Fragen haben, als fertige Antworten, dann ist das gut so. Hören Sie
also nie auf, Fragen zu stellen!
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen das Allerbeste für Ihren weiteren beruflichen
Lebensweg und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!
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