17.07.2015, KVP Schweiz Rückzug der "Schutzinitiative" Ständerat Peter Föhn - vorwiegend heisse Luft Die KVP hat den Rückzug der Volksinitiative "Ja zum Schutz vor Sexualisierung in Kindergarten und Primarschule" (sogenannte "Schutzinitiative") mit Fassung zur Kenntnis genommen. Die Initiative wies erhebliche Konstruktionsfehler auf, litt an einem Begründungsdefizit und war damit vor allem heisse Luft. Dass mit dem Rückzug der Initiative auf die Durchsetzung der Kernforderung der Freiwilligkeit des Sexualkundeunterrichts ab 10. Altersjahr verzichtet wurde, bedauert die KVP an sich. Viele Sympathisanten der Initiative müssen sich verschaukelt vorkommen, nicht zuletzt wegen der teilweise irreführenden Begründung des Initiativrückzugs. Mit der Weiterarbeit des Initiativkomitees in einem Verein ist primär auf kantonaler Ebene ein Neuanfang denkbar, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind. Die KVP hat früh auf die Mängel der Initiative aufmerksam gemacht. Für sie war klar, dass die Initiative keine Chance vor dem Volk hatte. Die Initiative hatte zwei gute Prinzipien, aber mit vielen Fragezeichen. Die Partei unterstützte daher die Unterschriftensammlung, behielt sich aber den Entscheid über die Initiative selbst vor. Das Verbot von Sexualkundeunterricht im Kindergarten und die Freiwilligkeit des Unterrichts bis zum 12. Altersjahr waren vertretbar. Der für die KVP zentrale Punkt der Freiwilligkeit bis zum 12. Altersjahr und darüber hinaus steht nach dem Rückzug nicht mehr zu Diskussion. Das ist an sich zu bedauern für Familien, die es besser machen wollen und es nachweisbar auch tun. Die Initiative hat indes selbst das Prinzip der Freiwilligkeit in wenig nachvollziehbare Begrenzungen eingebettet. Die Sexualisierung der Jugend, welche das Komitee immer angeprangert hatte, kann also im bisherigen Rahmen zumindest vorläufig weitergehen. Sexualkunde wird gemäss dem Präsidenten der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, Regierungsrat Christian Amsler in der „Tagesschau“ vom 14. Juli 2015, im 7., 8. und 9. Schuljahr erteilt, und zwar obligatorisch. SVP-Ständerat Peter Föhn ist gemäss „Tagesschau“ vom 14. Juli 2015 damit plötzlich einverstanden. Mit derart widersprüchlichen Haltungen hat Peter Föhn bereits die Volksinitiative „Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache“ und das Referendum gegen die Präimplantationsdiagnostik an die Wand gefahren (vgl. PID Ziffer 1.2.3 und 1.3). Die Initiative hat im entscheidenden Punkt der Freiwilligkeit ihr Ziel nicht erreicht, entgegen der Rückzugsbegründung des Initiativkomitees. Seite 1 von 5 Gesichtswahrung Die Rückzugsbegründung dient augenscheinlich der Gesichtswahrung. Offenbar haben die Initianten die bestehenden Unstimmigkeiten und die von der KVP immer wieder angemahnten – auch innerkirchlichen – Begründungsnotstände (PID Ziffer 1.8) und damit die Chancenlosigkeit der Initiative mittlerweile eingesehen. Die Initiative startete mit einem Mitglied im Initiativkomitee, das wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt war, so dass die erste Fassung der Initiative zurückgezogen werden musste. Mehrere Rechtsverfahren bis vor Bundesgericht gegen das Obligatorium des Sexualkundeunterrichts in Basel-Stadt gingen negativ aus. Ein Dispensationsrecht wurde verneint. Eine Petition von „Human Life International“ (HLI) an die Schweizer Bischofskonferenz war ebenfalls nicht mehr als hiesse Luft. Viele Fragen zum Inhalt des Unterrichts blieben offen oder wurden von den Initianten widersprüchlich abgehandelt. Ob das „Kompetenzzentrum Sexualpädagogik und Schule“ an der Pädagogischen Hochschule in Luzern wegen der Initiative geschlossen wurde, wie es in der Rückzugsbegründung heisst, bleibe dahingestellt. Seine Auflösung war nicht das Ziel der Initiative. Noch in der Ausgabe Nr. 12/Juni 2015 der „Schutzinitiative aktuell“ berichtete das Initiativkomitee ausserdem, dass am 5. Mai 2015 die vom Bundesamt für Gesundheit finanzierte Stiftung „Sexuelle Gesundheit Schweiz“ (SGS) eine „Allianz für Sexualaufklärung“ in der Schweiz mit fast 40 Organisationen lanciert habe und rief zu Spenden auf. Die SGS bekämpfe aktiv die Schutzinitiative. Diese Bekämpfung wäre wohl obsolet gewesen, wenn die Schutzinitiative ihre Ziele erreicht hätte. Entsprechend freuen sich die Gegner der Initiative verständlicherweise über deren Rückzug. Es besteht aber nach wie vor eine staatlich subventionierte, den Zielen der Initiative entgegengesetzte Organisation, die zur Auflösung hätte gebracht werden müssen, wenn die Auflösung von Organisationen Ziel der Initiative gewesen wäre. Mit irreführenden Angaben zum Lehrplan 21 Des Weiteren wird in der Rückzugsbegründung angeführt, bei der Erstellung des Lehrplans 21 sei darauf geachtet worden, dass vor dem 10. Altersjahr der Kinder keine „Einheiten von Sexualkundeunterricht“ vorgesehen werden. Das ist der Sache nach irreführend. Sexualkundliche Kompetenzen sind ab dem 1. Schuljahr in graduell fortschreitendem Mass vorgesehen. 1./2. Klasse Unterschiede von Mädchen und Knaben benennen, über die zukünftige Entwicklung von Mann und Frau sprechen, anhand von Beispielen Rollenverhalten beschreiben und vergleichen (z.B. Wer hat welche Aufgaben und Befugnisse? Wer trägt welche Kleidung? Wer pflegt welche Hobbys?). Vielfältige Geschlechterrollen beschreiben (z.B. in Beruf, Familie, Sport) und wissen, dass Mädchen/Frauen und Jungen/Männer dieselben Rechte haben. Seite 2 von 5 Körperteile, deren Lage und Funktion beschreiben. Spezifische Eigenschaften ausgewählten Körperteilen zuordnen und die Bedeutung erfassen (z. B. Gelenke sind beweglich, Augen sind empfindlich, Schädelknochen wirken als Schutz). Vorgänge und Funktionen im eigenen Körper beobachten und im Zusammenhang von Organsystemen beschreiben (z.B. Bewegung-Muskulatur und Skelett; Verdauung-Kauapparat und Verdauungsorgane). 3.–6. Klasse Fragen und Unsicherheiten zur Sexualität äussern, Veränderungen der Körpers mit angemessenen Begriffen benennen, Informationen zu Geschlechtsorganen, Zeugung, Befruchtung Verhütung Schwangerschaft und Geburt verstehen; Bau und Funktion der Geschlechtsorgane. 7.–9. Klasse Qualität von ausgewählten Informationsquellen zu Sexualität verstehen und vergleichen, Kennen der psychischen Veränderungen in der Pubertät, erwachendes sexuelles Interesse, Einstellung zum eigenen Körper, und wissen, dass diese zur normalen Entwicklung gehören. Die Schüler reflektieren eigene Erwartungen und Ansprüche in ihrem Umfeld an Beziehungen, Freundschaften, Partnerschaft und Ehe. Sie verbinden Sexualität mit Partnerschaft, Liebe, Respekt, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung und können sexuelle Orientierungen nicht diskriminierend benennen. Hetero-, Homosexualität. Sie kennen ihre Rechte im Umgang mit Sexualität und respektieren die Rechte anderer. Selbstbestimmung, Schutzalter, sexuelle Orientierung, Schutz vor Abhängigkeit und Übergriffen. Sie können Verhaltensweisen und ihre Auswirkungen im Bereich Sexualität kritisch beurteilen. Risiken, Übergriffe, Missbrauch, Pornographie, Promiskuität, Prostitution. Sie kennen Anlaufstellen für Problemsituationen (z.B. Familie, Schule, Sexualität, Belästigung, Gewalt, Sucht, Armut) und können sie bei Bedarf konsultieren. Beratung, Therapie, Selbsthilfe. Sie können Erfahrungen und Erwartungen in Bezug auf Geschlecht und Rollenverhalten in der Gruppe formulieren und respektvoll diskutieren (z.B. Bedürfnisse, Kommunikation, Gleichberechtigung). Sie können Darstellungen von Männer- und Frauenrollen sowie Sexualität in Medien auf Schönheitsideale und Rollenerwartungen analysieren und Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung kritisch betrachten. Seite 3 von 5 Sie kennen Faktoren, die Diskriminierung und Übergriffe begünstigen und reflektieren ihr eigenes Verhalten. Klischee, Vorurteile, Abhängigkeit, Übergriffe. Dieses Programm ist gemeinhin das, was man unter Sexualisierung der Jugendlichen in den Schulen versteht, „Sexköfferli“ hin oder her (sein Inhalt stellte im Übrigen, entgegen dem Komitee, keine Pornographie dar, jedenfalls nicht nach geltendem Recht). Das Programm entspricht weithin geltender Schulpraxis. Dahinter steht, was man in wesentlichen Teilen unter der Gender-Theorie versteht, auch wenn der Lehrplan auf den Begriff „Gender“ verzichtet hat. Die Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Luzern haben dieses System bereits eingeführt. Die KVP hat in der Vernehmlassung die Aufnahme all dieser Bestimmungen abgelehnt und zumindest die Freiwilligkeit verlangt. Denn: Was bleibt da noch an Aufklärungsarbeit für die Eltern? Was würden die Initianten anders machen, was wäre objektiv anderes zu tun? Etwa mit Bischof Jean-Marie Lovey Homosexualität als Krankheit oder vergleichbar mit einer Erkältung zu bezeichnen und damit Homophobie und Geschlechterdiskriminierung zu betreiben? Die Initiative verlangte den Verzicht auf Sexualkundeunterricht vor dem neunten Altersjahr. Sie hat kapituliert. Fiasko und Neuanfang Die Konservativen, die hinter allen drei Projekten standen (Abtreibungsfinanzierung, PID und Schutzinitiative), haben ihr drittes Fiasko eingefahren. Populismus stand im Vordergrund. Es fehlte allemal an politischer Intelligenz. Viele Sympathisanten der Projekte müssen sich verschaukelt vorkommen. Die Kriegskassen dürften ziemlich leer sein. Der Initiative ist daher nicht lange nachzutrauern. Nach der Abfuhr der Initiative im Parlament und mit dem vorliegenden Rückzug hat das Initiativkomitee einen „Strategiewechsel“ von einer kurzfristigen (Initiative; besser wäre wohl der Ausdruck „kurzsichtig“) zu einer „langfristigen Kampagne mit Schutzfunktion für Kinder bis zum vollendeten neunten Altersjahr und darüber hinaus“ beschlossen. Das Fehlen einer Strategieänderung wurde bereits in der KVP beklagt. Kommt sie nun doch? Der Entscheid scheint sehr kurzfristig getroffen worden zu sein, schrieb das Komitee doch noch am 19. Juni 2015, dass die Volksabstimmung aller Wahrscheinlichkeit nach Anfang 2016 stattfinden werde. Jedenfalls hat das Initiativkomitee einen Verein gegründet. Was dem Initiativkomitee nicht gelungen ist, kann der Verein versuchen: nämlich darzulegen, ob und inwiefern die Vermittlung der sexualkundlichen Kompetenzen in der Schule gemäss Lehrplan 21 für die Kinder schädlich ist. Mittlerweile sieht auch der Präsident von „Zukunft Schweiz“, Hansjürg Stückelberger, den Begründungsnotstand. Man müsse aufzeigen können, „dass die Ordnung Gottes für die Gesellschaft sowohl besser als auch billiger ist. Das ist freilich ohne Fachleute nicht zu schaffen.“ Anvisiert sind die Krankenkassenkosten (in: „Abendland“, Nr. 289 Juni 2015). Zum Strategiewechsel muss gehören, dass sich die Initianten von homo-, islamo- und xenophoben, klerikal dominierten Kreisen, wie sie sich gerade bei der Schutzinitiative stark bemerkbar gemacht haben, lösen. Denn deren Interventionen sind politisch und von der Soziallehre der Kirche her in wesentlichen Punkten immer wieder nicht vertretbar und auch vom allgemeinen Image her gesamthaft kaum mehrheitsfähig. Die neueste Moral-Stilblüte: Die Jugendlichen haben bei der Sexualerziehung Anspruch auf Schutz ihres Seite 4 von 5 Zartgefühls (Orientierungshilfe des Päpstlichen Rates für die Familie, Ziffer 45). Mit „Feingefühl“ müssen die Homosexuellen, die es in den Familien gibt, „aufgenommen“ werden! (Lineamenta zur Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode vom Herbst 2015, Ziffer 55). Der neue Verein kann ferner in den jeweiligen Kantonen auf die Freiwilligkeit des Unterrichts pochen. Die Kantone können die Freiwilligkeit in Abweichung zum Lehrplan 21 zugestehen, genauso wie beispielsweise der Kanton St.Gallen der Forderung der KVP nachgekommen ist, den Religionsunterricht im Lehrplan zu belassen. Seite 5 von 5
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