MITTWOCH, 2. MÄRZ 2016, NR. 43 1 Betrug als Wettbewerbsvorteil Manipulierte Ladenkassen sind ein Massenphänomen. Der Bundestag will jetzt aktiv werden. nen“, so Teutemacher. Beliebt seien auch als Onlinespiele getarnte „Zapper“, die einen zuvor festgelegten Teil der Umsätze löschen. Die Fahnder können den Betrug erkennen, wenn es Betrüger so übertreiben, dass ihr Wareneingang und die Umsätze krass auseinanderfallen; etwa wenn ein Unternehmer in seiner Kasse gleich die Hälfte des Umsatzes unterdrückt. Teutemacher empfiehlt seinen Kollegen außerdem, darauf zu achten, ob eine Kasse gar keine Fehleingaben und Storni ausweist: Eine Kasse ganz ohne Tippfehler oder Retouren sei meistens manipuliert. Dass heute alle Kassenhersteller vehement auf gesetzlich vorgeschriebene Vorkehrungen gegen Schummelsoftware dringen, dürfte ein Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz gefördert haben: Einem Eisdielenbetreiber hatte der Kassenhersteller die Schummelsoftware mitverkauft. Als die Steuerhinterziehung von 2,8 Millionen Euro aufflog, verurteilten die Richter den Kassenhersteller wegen Beihilfe. Er musste jene 1,6 Millionen Euro zahlen, die das Finanzamt beim Eisdielenbesitzer nicht mehr eintreiben konnte (Az: 5 V 2068/14). ► Finanzexperten schätzen die Steuerausfälle auf zehn Milliarden Euro jährlich. ► Der Finanzminister sieht Handlungsbedarf, will aber keine neue Bürokratie. Donata Riedel Berlin NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans (SPD) wirft Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) vor, das Gesetz dagegen zu verschleppen. „Das Bundesfinanzministerium vertröstet die Finanzministerkonferenz mit schwer nachvollziehbaren Begründungen. Es ist höchste Zeit zu handeln“, sagte er dem Handelsblatt. Die Manipulationen seien „längst systematisch in allen Bargeld-Branchen“, sekundiert der Grünen-Finanzexperte Thomas Gambke: „Das ist längst ein Wettbewerbsnachteil für ehrliche Ladenbetreiber.“ Steuerfahnder bestätigen den Befund. „Besonders viele Fälle von Kassenmanipulation stellen wir im Gastronomiebereich fest“, sagt der Steuerfahnder Edo Diekmann. Für 2014 registrierten er und seine Kollegen in Niedersachsen in 17 Pro- action press R oland Ketel zählt zur eher seltenen Spezies von Unternehmern, die für härtere Steuergesetze kämpfen. Aus leidvoller Erfahrung: Immer wieder seien Kunden mit der Bitte an ihn herangetreten, zur Registrierkasse gleich die passende Software zur Umsatzmanipulation mitzuliefern, berichtet der Anbieter von Kassensystemen. Vergangenes Jahr etwa habe der Betreiber einer Strandgastronomie an der Ostsee mit ihm über ein Kassensystem verhandelt, das ein Restaurant, Strandbuden und die Warenwirtschaft miteinander vernetzen sollte. „Und dann kam das Aber: Er hätte gern ein System, mit dem er die Umsätze anpassen kann“, sagt der 62-jährige Berliner, der seit vier Jahren den Deutschen Fachverband für Kassen- und Abrechnungssystemtechnik leitet. Mit „Umsätze anpassen“ sind Softwareeinstellungen gemeint, mit denen die Kasseneinnahmen nachträglich niedriger im Buchungssystem gespeichert werden. Das Ziel: Weniger Umsatzsteuer zu zahlen, ohne dass es auffällt. „Das ist kein Einzelfall“, sagt Ketel. „Wenn Sie eine Kasse verkaufen wollen, ist die zweite Frage des Kunden: Wie kann ich Umsätze verschwinden lassen?“ Ketel und sein Verband fordern deshalb, dass ein Datensicherungssystem vorgeschrieben wird. Sie empfehlen den von der Physikalischen Bundesanstalt entwickelten Insika-Standard für alle Ladenkassen. Die 16 Finanzminister der Bundesländer verlangen dies ebenfalls: Auf zehn Milliarden Euro jährlich schätzen sie die Steuerausfälle durch Schummelsoftware bundesweit. „Wahrscheinlich liegt die Summe noch höher“, sagt SPD-Finanzexperte Andreas Schwarz. Ladenkasse: „Manipulationen längst systematisch in allen Bargeld-Branchen.“ zent der geprüften Restaurants und Eissalons Manipulationen. Im Schnitt aller Betriebsprüfungen lag die Quote bei 3,3 Prozent. Die Betrugsmöglichkeiten sind vielfältig, wie der Steuerfahnder Tobias Teutemacher aus Münster in einem Handbuch für seine Kollegen beschreibt. Typisch sei etwa der Fall eines gutbürgerlichen Restaurants in NRW: Für den Gast zieht 17% der geprüften Gaststätten in Niedersachsen haben 2014 manipuliert. Quelle: Edo Diekmann, Steuerfahnder der Kellner aus der Kasse eine „Proforma-Rechnung“, während in der Kasse ein niedrigerer Betrag für die Buchführung gespeichert wird. Aufwendiger sind Systeme, in denen der Manager am Ende eines Tages die Eingaben per Knopfdruck nachträglich ändert und die Kasse neue Tagesendbons erzeugt. „In den Protokollen lassen sich dann keine Auffälligkeiten mehr erken- REGISTRIERKASSEN-BETRUG Ein altbekanntes Problem Seit 2003 beklagt der Bundesrechnungshof Steuerausfälle. D er Registrierkassen-Betrug beschäftigt die Politik seit langem, wie eine Chronologie des Grünen-Finanzpolitikers Thomas Gambke belegt. Im Jahr 2004 gründeten die Finanzminister eine „Bund-Länder-Arbeitsgruppe Registrierkassen“. Auslöser war ein Bericht des Bundesrechnungshofs (BRH) vom November 2003: Die Prüfer warnten die Prüfer vor „nicht abschätzbaren Steuerausfällen“ durch die Manipulation der damals relativ neuen EDV-Kassengeräte. Der BRH wiederholte die Warnungen seit 2006 mehrfach. 2006 gab die EU einen „Cash Register Good Practice Guide“ heraus. 2015 hat das Problem für den BRH das Stadium eines „systematischen Vollzugsdefizits“ erreicht: Dies, so Gambke, verpflichte den Gesetzgeber einzuschreiten, um ehrliche Wettbewerber zu schützen. 2013 hatte auch die OECD vor „Umsatzverkürzungen mittels elektronischer Kassensysteme“ gewarnt. 2008 starteten die Physikalisch-Technische Bundesanstalt und Kassenhersteller das Projekt Insika, gefördert vom Bundeswirtschaftsministerium: Entwickelt wird ein Smartcard-System, das Umsätze automatisch fälschungssicher speichert. Alle Kassenhersteller können es lizenzfrei nutzen. 2010 schreibt das Bundesfinanzministerium vor, dass ab 1.1. 2017 alle Kassensysteme die Umsätze digital aufzeichnen müssen. Weil deshalb viele Ladenbetreiber ihre Kassen jetzt aufrüsten oder ersetzen müssen, verlangt der Finanzausschuss ein Gesetz zur Kassensicherheit noch in diesem Jahr. Donata Riedel © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. Manipulierte Registrierkassen finden sich nach den Erfahrungen Teutemachers in allen Bargeldbranchen: Einzelhändler, Tankstellen, Bäcker, Friseure und Taxen zählt er neben Hotels, Gaststätten und Imbissen auf. Aber auch Akademiker erliegen der Versuchung, Apotheker zum Beispiel: In Ansbach entzog das Verwaltungsgericht zwei Apothekern die Betriebserlaubnis, nachdem sie über Jahre im Kassensystem ihrer Apotheke Manipulationssoftware eingesetzt hatten. Nach einer Expertenanhörung im Bundestagsfinanzausschuss drängen jetzt die Abgeordneten aller Fraktionen auf ein Gesetz. „Es muss noch in diesem Jahr kommen“, sagt Antje Tillmann, finanzpolitische Sprecherin der Unionsfraktion. Die Union beharrt allerdings gemeinsam mit Schäuble darauf, nicht für alle Kassensysteme ausnahmslos Insika als Standard vorzuschreiben. Der Handwerksverband ZDH und der Einzelhandelsverband HDE argumentieren, dass in großen Systemen, die das Warenbestellsystem miteinbeziehen, Manipulationen ohnehin auffallen würden. „Grundsätzlich stehen wir dem Plan, gegen Steuerbetrug durch Manipulation von elektronischen Kassensystemen vorzugehen, positiv gegenüber“, schreiben die Verbände in einer aktuellen Stellungnahme. Sie fürchten Umstellungskosten von 1,6 Milliarden Euro und einen jährlichen Bürokratieaufwand von 250 Millionen Euro. Schäubles Ministerium arbeitet seit längerem an einem Gesetzentwurf. Dabei stimme man sich eng mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik ab, und dies brauche Zeit, hieß es. Zudem fürchte man den Bürokratievorwurf: Die Bundesregierung habe versprochen, für neue Bürokratie vorhandene abzubauen. Dies gestalte sich in diesem Fall schwierig. Mitarbeit: Volker Votsmeier WIRTSCHAFT & POLITIK 9 MITTWOCH, 2. MÄRZ 2016, NR. 43 1 Die Angst der Profiteure Top-Ökonom Jörg Rocholl im Gespräch mit den Handelsblatt-Lesern. Arbeitsmarkt integriert seien, daher sei es wichtig, dass jetzt konkrete Schritte eingeleitet werden. Dana Heide Berlin D er Saal im früheren Staatsratsgebäudes der DDR war bis auf den letzten Platz besetzt. Der Wirtschaftsclub des Handelsblatts hatte die Leserinnen und Leser in Berlin zum Gespräch mit Jörg Rocholl, dem Präsidenten der European School of Management and Technology (ESMT), geladen. Thema: German Mut statt German Angst. „Die privat finanzierte Hochschule hat im früheren Hauptquartier des Sozialismus heute ihren Sitz – das ist auch ein Zeichen von Mut“, stellte Politik-Chef Thomas Sigmund zu Beginn fest, bevor es um das weltweit einzigartige Phänomen der „German Angst“ ging. Es gibt nur wenige deutsche Begriffe, für die es im Englischen keine Übersetzung gibt. Die „German Angst“ gehört dazu. Angst vor Flüchtlingen, Angst vor der Digitalisierung, Angst vor der Zukunft allgemein. Dabei geht es den Deutschen im Allgemeinen gut. Das Wirtschaftswachstum ist solide, die Arbeitslosigkeit befindet sich auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. „Immer dort, wo die Probleme am kleinsten sind, ist die Angst am Größten“, sagte Rocholl. Tatsächlich gehe es Deutschland nach vielen Maßstäben sehr gut und vielleicht habe man gerade deshalb so viel Angst vor dem Zustand, wenn er sich ändern würde. Die Deut- Marc-Steffen Unger 8 WIRTSCHAFT & POLITIK Rocholl (l.) mit Handelsblatt-Politikchef Thomas Sigmund: „Jeder kann neue Ideen kreieren.“ Immer dort, wo die Probleme am kleinsten sind, ist die Angst am größten. Jörg Rocholl ESMT-Präsident schen neigten dazu, sich immer mit den direkten Nachbarn zu vergleichen. Dabei zeige nur ein Blick ins weitere Ausland, wie gut man dastehe. Die Bundeskanzlerin hatte ebenfalls versucht, den Deutschen in der Flüchtlingskrise Mut zu machen. Für ihr „Wir schaffen das“ wurde sie jedoch scharf kritisiert. Rocholl, der auch Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ist, zeigte Verständnis für den Satz. „Sie hätte schlecht sagen können, wir schaffen das nicht“, sagte er. Allerdings müsse die Regierung besser erklären, wie sie es schaffen wolle, die Krise zu bewältigen. „Was fehlt und was viele umtreibt, ist die offensichtliche Diskrepanz zwischen dem „Wir schaffen das“ und der Wahrnehmung weiter Teile der Bevölkerung, dass es tatsächlich ganz konkrete Probleme gibt.“ Das seien etwa die vielen nicht registrierten Flüchtlinge, oder dass es unklar sei, wie die Integration der Menschen erfolgen soll. Rocholl dämpfte die Hoffnungen auf eine schnelle Eingliederung der Flüchtlinge. Mancher Wirtschaftsvertreter sei am Anfang der Flüchtlingskrise zu blauäugig gewesen. „Die Qualifikation derjenigen, die zu uns kommen, ist sehr unterschiedlich.“ Es werde Jahrzehnte dauern, bis die Flüchtlinge in den Die „German Angst“ zeige sich jedoch nicht nur beim Flüchtlingszustrom. Generell seien die Deutschen etwa im Vergleich zu den Amerikanern eher vorsichtig, analysierte der Hochschulprofessor, der in den USA Finanzwissenschaften gelehrt hat. „Bevor die Deutschen handeln, machen sie sich erst einmal Gedanken“. Diese Gründlichkeit sei in manchen Bereichen zwar auch ein Vorteil. Aber beim Thema Digitalisierung etwa müsse man einfach auch mal ausprobieren und das Risiko eingehen, dass man scheitert. „Wir sehen, dass neue Ideen von jedem Einzelnen kreiert werden können “, sagte Rocholl. Die Handelsblatt-Leser zeigten sich diskussionsfreudig. Evelyn Orbach plädierte im Vergleich mit den risikofreudigeren Amerikanern für mehr Selbstbewusstsein der Deutschen. „Ob viele Amerikaner immer glücklicher und mutiger sind angesichts der fehlenden sozialen Absicherung – ihnen bleibt manchmal gar nichts anderes übrig.“ Alle Termine der Club-Gespräche im Überblick finden Sie unter: http://club.handelsblatt.com/ handelsblatt-club-gespraeche ANZEIGE Der Diktator zeigt sich versöhnlich Syriens Machthaber Assad lobt Deutschland im ARD-Interview. D er Bürgerkrieg in Syrien hat mehr als 200 000 Menschen das Leben gekostet und eine gewaltige Flüchtlingswelle ausgelöst. Nun wendet sich der Machthaber aus Damaskus, Baschar al-Assad, per Fernsehinterview direkt an das Hauptziel der Flüchtlinge – Deutschland. Es sei „gut, wenn Flüchtlinge aufgenommen werden, die ihr Land in Not verlassen“ hätten, sagte Assad laut Vorab-Veröffentlichung in der ARD-Sendung „Weltspiegel extra“, die am Dienstagabend ausgestrahlt werden sollte. Zugleich stellte Assad aber auch die Frage, ob es nicht klüger und „weniger kostspielig“ sei, Syrern dabei zu helfen, in ihrem eigenen Land leben zu können. Der Präsident forderte den Westen auf, gegen den Terror zu kämpfen und nicht gegen sein Land. Im Interview sicherte Assad zu, die seit Samstag geltende Waffenruhe einzuhalten. „Wir werden das Unsrige tun, damit das Ganze funktioniert,“ sagte Assad. Er bot Rebellen eine Amnestie und gegebenenfalls eine „Rückkehr in ihr normales ziviles Leben“ an. Allerdings stellte er eine Bedingung: Seine Feinde müssten die Waffen abgeben. Im Vergleich zu den vergangenen Monaten hat sich die Lage in Syrien zwar beruhigt. Die Waffenruhe werde aber nur teilweise beachtet, heißt es in einer Studie des Institute for the Study of War (ISW), und sie werde an der wahrscheinlichen Fortsetzung russischer und syrischer Luftangriffe auf Assads Gegner im Westen scheitern. So setzt Russland laut ISW seine Kampagne fort, die Assad helfen solle, den Rebellen Gebiete wieder abzuringen, während das russische Verteidigungsministerium Verletzungen der Waffenruhe durch Terroristen und Assad-Gegner meldete. So lange die Waffenruhe allgemein als sehr labil bezeichnet wird, dürfte der Emigrationsdruck anhalten. Die Flüchtlingskrise werde weiter eskalieren, meinen Beobachter. Assad räumte ferner ein, dass Syrien nicht mehr „vollständig souverän“ sei. Er bestätigte, aus Russland, Iran und aus dem Libanon Hilfe zu erhalten. Die Länder hätten ein Interesse daran, das Übergreifen des islamistischen Terrors zu begrenzen. „Letztlich sind sie nicht zu unserer Verteidigung gekommen,“ sagte Assad, „sondern zu ihrer eigenen Verteidigung.“ Pierre Heumann ! ( # % & '# ! # ' )! %# % ! 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