Open Access - De Gruyter

ZRS 2016; 8(1–2): 114–118
Open Access
Marie Josephine Rocholl. 2015. Ostmitteldeutsch – eine moderne
Regionalsprache? Eine Untersuchung zu Konstanz und Wandel im thüringischobersächsischen Sprachraum (Deutsche Dialektgeographie 118). Hildesheim,
Zürich, New York: Georg Olms. vii, 370 S.
Besprochen von Luise Czajkowski: Universität Leipzig, Institut für Germanistik,
Beethovenstraße 15, D-04107 Leipzig, E ˗ Mail: [email protected]
 
 
DOI 10.1515/zrs-2016-0021
Der vorliegende Band wurde als Dissertation an der Universität Marburg angenommen. Er gliedert sich ein in eine Reihe zahlreicher Untersuchungen, die im
Rahmen des Langzeitprojekts Regionalsprache.de (REDE) das Ziel verfolgen, die
modernen Regionalsprachen des Deutschen systematisch zu erschließen. Konkret
untersucht wird die Sprache in den Städten Dresden und Reichenbach (im Obersächsischen), Erfurt und Sondershausen (im Thüringischen) und Gera (im dazwischenliegenden Übergangsgebiet). Nach der Darstellung des Forschungsstandes
zum vertikalen Sprechlagenspektrum und zur Einteilung der ostmitteldeutschen
(omd.) Sprachlandschaft werden Korpus und Methoden der Untersuchung dargestellt. Es folgen ein auf Grundlage bestehender regionalsprachlicher Forschungsarbeiten erstelltes Lautinventar der Untersuchungsorte (S.  54–88) und
eine Zusammenfassung verschiedener genutzter Verfahren (Dialektometrie, phonetische Abstandsmessung, Variablen- und Formantanalyse) mit einer Darstellung der Vor- und Nachteile.
Nach dieser Einführung werden im Anschluss verschiedene Untersuchungen
präsentiert, die das Ziel haben nachzuweisen, dass „wir es im omd. Raum aktuell
mit der Herausbildung EINER modernen Regionalsprache zu tun haben“ (S. 2).
Die einleitenden Ausführungen zur „Genese der modernen Regionalsprache im
ostmitteldeutschen Raum – vom Dialekt zum Regiolekt“ sind etwas mit Vorsicht
zu genießen. Der Fokus der Argumentation liegt an dieser Stelle nämlich vor
allem auf dem Fehlen einer deutlichen Abgrenzungslinie zwischen dem Thüringischen und dem Sächsischen, ja eigentlich dem Fehlen jedweder Grenzlinien im
omd. Raum. Dabei wird beispielsweise Spangenberg (1993) zitiert, der im Hinblick
auf die Abgrenzung des nordostthüringischen Raumes der Saale ihre Funktion als
sprachliche Grenze abgesprochen hat. Vielmehr sei das Nordostthüringische auch
mit dem ostsaalisch anschließenden Osterländischen zu vergleichen (vgl. S. 28).
Was hier und auch im gesamten Kapitel zu kurz kommt, ist die historische Genese
des Dialektraumes. Dass die Saale für die heutige Abgrenzung des nordostthürin© 2016 Luise Czajkowski, published by De Gruyter
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Ostmitteldeutsch – eine moderne Regionalsprache?
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gischen Raumes eine weniger entscheidende Rolle spielt, hat wohl eher etwas
damit zu tun, dass der nordostthüringische Raum ehemals niederdeutsch gewesen ist und sich damit per se deutlich stärker von den restlichen omd. Mundarten
absetzt – ob nun östlich oder auch westlich der Saale. Die Nähe zum Osterländischen ist somit auch der Historie des Dialektraums geschuldet. Zudem ist
fraglich, ob das Fehlen klarer Grenzen hinreichend ist für eine Argumentation
zugunsten einer gemeinsamen Regionalsprache. Ob sich ein sprachlicher Raum
deutlich durch eine oder mehrere Isoglossen intern gliedern lässt, ein mehr oder
weniger breites Übergangsgebiet (wie Wiesinger es beschreibt) zwischen den
Räumen liegt oder auch eine wie hier thüringisch-obersächsische Staffellandschaft (S. 27) – am Ende geht ein Dialekt in den anderen über. Es sind also
mindestens zwei verschiedene Sprachräume beteiligt.
Doch ist die Arbeit Rocholls keine sprachhistorische. Vielmehr liegt ihr
Schwerpunkt in der Präsentation der sprachdynamischen Prozesse innerhalb der
Dialektlandschaft und diese arbeitet Rocholl mit verschiedenen Methoden deutlich heraus. Zunächst stellt sie mithilfe der Variablenanalyse die konstituierenden
Merkmale der modernen ostmitteldeutschen Regionalsprache dar (S. 100–185).
Die einzelnen Laute werden detailliert aufgeschlüsselt in Bezug auf die verschiedenen Aussprachedifferenzierungen in Basisdialekt, Umgangssprache, Regionalund Standardsprache. Ausgezählt werden die standardabweichenden Varianten.
Anschließend wertet Rocholl einzelne Sprachproben mittels akustischer Formantanalysen aus, um nähere Angaben zu den Phänomenen der Zentralisierung,
des Aufbau von gerundeten Vorderzungenvokalen und der rückverlagerten /r/Vokalisierung machen zu können. Dazu erläutert sie erst die Entstehung und das
Auftreten des jeweiligen Phänomens und präsentiert dann neue Formantkarten.
Besonders interessant ist hier die Gegenüberstellung der Erkenntnisse zur Zentralisierung im Westmitteldeutschen (u. a. Herrgen/Schmidt 1986) und der neuen
Erkenntnisse Rocholls zum Ostmitteldeutschen. Demnach ist anhand des vorliegenden Sprachmaterials auch im Omd. eine „ganz ähnliche Umstrukturierung
des phonolog. Steuerungssystems durch das Eindringen der gerundeten Vorderzungenvokale aus der Standardsprache“ (S. 190) zu beobachten. „In den vorliegenden Aufnahmen der Sprecher aus den drei größeren omd. Städten deutet
sich jedoch aktuell ein Aufbau der gerundeten Vorderzungenvokale im intergenerationellen Vergleich an.“ (S. 190)
Rocholl weist nach, dass „verschiedene Varietäten bei Sprechern einer Regionalsprache nicht unabhängig voneinander gesteuert werden“, sondern Phoneme
unterschiedlicher Varietäten innerhalb eines Gesamtsteuerungssystems so angeordnet werden, dass Distinktionen zwischen den verschiedenen Phonemklassen
aufrechterhalten werden. Anhand des Vergleichs von Sprechern unterschiedlichen Geschlechts bzw. aus unterschiedlichen Zeitschnitten zeigt sie überzeugend
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die sprachdynamischen Prozesse auf, die sich durch den Einfluss einer neuen
Varietät (hier der Standardsprache) auf das regionalsprachliche Gesamtsteuerungssystem ergeben (S. 193).
Im Anschluss beschäftigt sich Rocholl noch einmal mit der Abgrenzung des
thüringischen Sprachraums vom obersächsischen. Untersucht werden die Variablen, die meist bei der Abgrenzung der beiden Dialekträume herangezogen werden
(insbesondere von Wiesinger 1983, Kt. 47.11). Interessanterweise sind das mitunter
solche, die bei der Auflistung der konstituierenden Merkmale der modernen ostmitteldeutschen Regionalsprache nicht mehr erscheinen, was Rocholl mit dem
Dialektabbau in den städtischen Zentren erklärt. Mittels einer Similaritätsanalyse
überprüft Rocholl dann die Einbindung des Erfurter Ortsdialekts in die umgebende
Dialektlandschaft (S. 203ff.). Und dieses Ergebnis ist durchaus nennenswert: So
zeigt sich eine starke Einbindung des im Wenkerbogen von 1880 festgehaltenen
Ortsdialekts ins Thüringische (und Obersächsische), während der etwa 130 Jahre
später festgehaltene intendierte Ortsdialekt des Erfurter Sprechers deutlich weniger Ähnlichkeiten mit den umgebenden Dialekten, dafür aber eine große Ähnlichkeit mit der obersächsischen Dialektlandschaft zeigt. Die Einbindung des Ortsdialektes in die thüringische Dialektlandschaft geht offenbar verloren und die
Grenze des Verbundes der einen ostmitteldeutschen Regionalsprache, den Rocholl
hier beschreibt, scheint sich deutlich nach Osten verschoben zu haben.
Hervorzuheben ist auch der intersituative Vergleich der Daten (S. 205ff.),
nämlich die Gegenüberstellung von intendiertem Ortsdialekt (IOD) und alltäglichem Sprachgebrauch. So zeigt sich zum Beispiel, dass ursprünglich obersächsische Monophthonge im IOD gerade von Erfurter Sprechern gebraucht werden,
obwohl diese (nach den Wenkerdaten zu urteilen) im Ortsdialekt gar nicht üblich
sind, wohl aber für die Erfurt umgebende Region. Im alltäglichen Sprachgebrauch
werden die Monophthonge aber deutlich seltener genutzt. Das zeigt, dass den
thüringischen Sprechern obersächsische Varianten von Phonemen ebenso vertraut sind wie die eigenen. Die Sprecher übernehmen lexemweise fremde dialektale Varianten und schreiben fremde Varianten dem eigenen Ortsdialekt zu.
Damit wird „deutlich, dass die kleinräumigen Phoneme der Basisdialekte für die
moderne Regionalsprache deutlich an Bedeutung verloren haben“ (S. 209). Rocholl weist aber auch darauf hin, dass der Abbau der alten Basisdialekte keineswegs zu einer rein standardkonvergenten Entwicklung im ostmitteldeutschen
Raum geführt hat. So werden dialektale Kurzwörter weiterhin stabil verwendet,
zum Teil sogar mit einer arealen Ausdehnung über dialektale Grenzen hinweg
(S. 217). Mit der Liste der Prozesse im Hinblick auf eine zu beobachtende aktive
Neukonfiguration von Regionalismen in der modernen Regionalsprache (S. 218f.)
und mit der Tabelle zum intersituativen Vergleich in Bezug auf die verschiedenen
Variationsphänomene (S. 232ff.) bietet Rocholl gute Übersichten über die generel-
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le Variabilität von Sprache. Es folgen noch zahlreiche weitere Analysen, wie etwa
Vergleiche subjektiver Beurteilungen und auch die Daten zu den kleineren Städten Sondershausen und Reichenbach.
Rocholl vereint in ihrer Arbeit zur ostmitteldeutschen Regionalsprache die
verschiedenen Ansätze zur Erforschung einer Regionalsprache: Sie erfasst die
konstituierenden Merkmale der Varietäten auf Basis eines mittelhochdeutschen
Referenzsystems, vergleicht die Daten der verschiedenen vorhandenen neuen und
älteren Korpora untereinander, zieht Vergleiche zwischen den Untersuchungsorten, stellt 130 Jahre alte Wenker-Daten neueren Erhebungen gegenüber, um
auch diachrone Aspekte zu erfassen, und zeigt Unterschiede zwischen großstädtischem und kleinstädtischem Gebrauch auf. Die Arbeit ist damit sehr facettenreich,
wenn auch die einzelnen Facetten bisweilen mehr Raum verdient hätten. Der
Aufbau ähnelt dabei aber eher einem Handbuch; oftmals wird Bezug auf einen
schon vorher genannten Aspekt hergestellt, weshalb mehrmaliges Hin- und Herblättern und -suchen nicht ausbleiben kann. Die Arbeit ist zudem sehr dicht
geschrieben. Die eigenen Ergebnisse sind durchgängig gespickt mit Verweisen auf
zahlreiche weitere Forschungsarbeiten. Diese sind allerdings in der Regel nicht
zitiert, sondern nur als Literaturangabe erwähnt, was die Einordnung der Ergebnisse manchmal schwierig macht, insbesondere dann, wenn die fremden Forschungsergebnisse den eigenen widersprechen oder diese relativieren (vgl. z. B.
S. 104 zum Abbau der Vokalhebung für mhd. o). Erläuterungen zum Kontext der
zitierten Literatur wären ebenso hilfreich gewesen wie noch mehr konkrete Wortbeispiele, um die große Fülle der phonetischen Differenzierungen besser nachvollziehen zu können. Auch fallen einzelne sprachliche Unzulänglichkeiten auf,
insbesondere bei dem Versuch, die verschiedenen komplexen Sachverhalte zusammenzubringen. Diese sind aber vor allem dem Bedürfnis geschuldet, der
Wissenschaftssprache zu genügen (Bsp. „Aufgrund des engen historischen Zusammenhangs zwischen den obersächsischen Dialekten als Siedlerdialekte und
dem älteren thüringischen Sprachraum ist der phonologisch-prosodische und
morphologisch-syntaktische Fundamentalbereich der Kompetenz in den Varietäten beider Dialektverbände sehr ähnlich“, S. 39). Es wäre wünschenswert, wenn
bei der Erforschung der deutschen Sprache in Zukunft wieder mehr Wert auf die
Sprache selbst gelegt werden könnte.
Nichtsdestotrotz zeigt Rocholls Präsentation der Daten eine intensive Auseinandersetzung mit den verschiedenen Forschungsergebnissen und bietet einen
Überblick über die zum Teil schwer überschaubare Forschungslage zum ostmitteldeutschen Sprachraum. Die konkreten Erkenntnisse, die sich aus der Untersuchung Rocholls ergeben, fallen zwar nicht immer gleich ins Auge. Im Hinblick
auf die sprachdynamischen Prozesse im ostmitteldeutschen Sprachraum sind sie
aber durchaus beachtlich.
 
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Luise Czajkowski
Literatur
Herrgen, Joachim & Jürgen Erich Schmid. 1986. Zentralisierung. Eine phonetisch-phonologische
Untersuchung zu Konstanz und Wandel vokalischer Systeme. In: Günter Bellmann (Hg.).
Beiträge zur Dialektologie am Mittelrhein. Stuttgart: Franz Steiner, 56–100.
Spangenberg, Karl. 1993. Laut- und Formeninventar thüringischer Dialekte. Beiband zum Thüringischen Wörterbuch: Berlin: Akademie Verlag.
Wiesinger, Peter. 1983. Die Einteilung der deutschen Dialekte. In: Werner Besch u. a. (Hg.).
Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 2. Halbband.
Berlin, New York: De Gruyter, 807–900.
 
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