Bürkler Nicolas - Die riskante Strategie von Glencore

Samstag, 17. Oktober 2015 / Nr. 240
Wirtschaft
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15
Betrugsmasche zielt auf Facebook-User
SMS-BETRUG Ein angeblicher rats erhielten. Es gehe nun darum, ihm
einen PIN per SMS zu senden, schreibt
Freund bittet um Hilfe – die
«der falsche Schleiss» im Messenger
weiter,
nachdem er die Handynummer
Gaunerei im Internet ist seit
bekommen hat.
Jahren bekannt. Derzeit wird
«Achtung an alle»
sie wieder häufig angewandt.
«Ich bin soeben auf einen TrickbeCHARLY KEISER
[email protected]
Vorgestern Donnerstag, 18 Uhr: Zugs
Bildungsdirektor Stephan Schleiss sitzt
im Flugzeug, das ihn und seine Partnerin aus den Ferien in Moskau zurück
nach Zürich bringt. Etwa zur selben Zeit
«kopieren» Betrüger das Facebook-Profil des SVP-Politikers. Sie erstellen ein
neues Profil mit dessen Namen und
Profilbild. Via Facebook-Messenger werden in der Folge die Facebook-Freunde
von Schleiss kontaktiert. «Ich habe Deine Handynummer verlegt, kannst Du
mir sie bitte geben?» Dies steht sinngemäss in der Nachricht, die wohl alle
880 Facebook-Freunde des Regierungs-
Viel Arbeit für
VW-Werkstätten
ABGAS-AFFÄRE sda. Auf das Netz
der VW-Vertragswerkstätten rollt mit
dem Massenrückruf in der DieselAffäre eine gigantische Arbeitswelle
zu. Nach Angaben des VW-Generalimporteurs Amag gibt es in der
Schweiz über 400 Servicepartner von
Volkswagen, Audi, Seat, Skoda und
VW-Nutzfahrzeuge, die zur Nachbesserung autorisiert sind.
128 802 Autos in der Schweiz
Damit ergeben sich mit den 128 802
vom Rückruf betroffenen Dieseln in
der Schweiz rechnerisch 322 Fahrzeuge pro Werkstatt. «Wir gehen derzeit davon aus, dass die Umrüstung
maximal ein bis zwei Stunden pro
betroffenem Wagen beanspruchen
wird», teilte Amag-Sprecher Livio Piatti gestern mit. «Bei der weit überwiegenden Anzahl der Fahrzeuge in
der Schweiz wird voraussichtlich ein
Software-Update ausreichend sein»,
gab Piatti weiter bekannt. Damit ergeben sich 37 bis 75 Arbeitstage für
einen Werkstattmitarbeiter, wenn dieser sich ausschliesslich mit dem Rückruf beschäftigen würde. Je nach Personalschlüssel und räumlichen Werkstattkapazitäten bräuchte also jeder
VW-Servicepartner etliche Wochen für
die Aktion. Daneben fällt aber noch
das ganz normale Tagesgeschäft an.
Damit scheinen Wartezeiten absehbar.
In Deutschland ist es noch schlimmer. Dort kommen rein rechnerisch
auf jede Werkstatt 1100 Fahrzeuge zu.
Damit ergeben sich gut 200 Arbeitstage für eine Arbeitskraft.
Nachrüstung kostenlos
In der Schweiz ist die Amag gemäss
eigenen Angaben auf einen Rückruf
vorbereitet und diesbezüglich in enger Abstimmung mit dem Bundesamt
für Strassen (Astra). Sobald die Amag
die Halteradressen vom Astra vorliegen habe, werde die Importeurin
die betroffenen Kunden entsprechend
informieren. «Ab Januar 2016 wird
mit der Nachbesserung der Fahrzeuge begonnen, und zwar kostenlos für
alle Kunden», teilte die Amag mit.
HEIZÖLPREISE
Richtpreise in Franken (inkl. Mehrwertsteuer) für die Stadt Luzern
(übrige Gebiete je nach Transportkosten)
Preis 100 Liter 16.10.2015 Vortag
800 – 1500
83.40
82.70
1501 – 2000
80.70
80.00
2001 – 3500
76.10
75.50
3501 – 6000
73.50
72.90
6001 – 9000
72.00
71.40
9001 – 14 000
69.00
68.40
Quelle: Swiss Oil Zentralschweiz
trug reingefallen», warnt kurz darauf
ein Zuger und «Freund» von Schleiss
auf seiner Facebook-Seite seine Kontakte auf dem Socialmedia-Portal. «Die
schicken Nachrichten zuerst mit einem
gehackten Profil von einem Freund
und bitten Dich, ihm einen Code, den
Du per SMS erhalten hast, weiterzuleiten. Dabei werden auf der Handyrechnung 100 Franken abgebucht.
Achtung an alle! Vielleicht probieren
die Betrüger das jetzt auch in meinem
Namen.»
Da er auf dem Profil von Schleiss
gesehen habe, dass dieser in Moskau
weile, habe er ihm seine Natelnummer
geschickt, erzählt der Zuger weiter. Dies
wohl auch, weil Schleiss einst in einer
Parallelklasse zur Schule gegangen sei.
«Ich habe mich schon ein wenig ge-
wundert, warum er ausgerechnet mich
um den Gefallen gebeten hat», ergänzt
er und verrät: «Als der vermeintliche
Schleiss mir dann aber schrieb, er
brauche einen zweiten PIN-Code per
SMS, habe ich die Unterhaltung umgehend beendet. Mir war sofort klar:
Das ist nicht Stephan Schleiss.» Ein
Kollege habe sich gar zu zwei SMSNachrichten verleiten lassen, sagt der
Betroffene, der gestern das Bezahlen
per Handyrechnung bei der Swisscom
sperren liess. Damit ist klar: Die Betrüger haben mit ihrem Vorgehen sicherlich bei mehreren Leuten Erfolg
gehabt.
Seriöser Anbieter wird missbraucht
Der Zahlungsdienst, der von den Betrügern und Hackern missbraucht wird,
heisst im aktuellen Fall Boku. Der Dienst
macht das Zahlen per Handyrechnung
möglich und wird von vielen seriösen
Firmen genutzt.
Nach dem Motto «Gelegenheit macht
Diebe» haben Betrüger schon vor einigen Jahren in Deutschland, Österreich
und der Schweiz die Gutgläubigkeit von
Leuten missbraucht (siehe Box). Und
wie auch im Fall von Stephan Schleiss
wurde das gefälschte Internet-FacebookProfil anschliessend jeweils sofort wieder gelöscht.
Sein Facebook-Profil sei nicht gehackt
worden, sagt Schleiss, der zur Sicherheit
jedoch seine entsprechenden Passwörter
geändert hat. «Es ist natürlich nicht
lustig für mich, wenn mit einem gefälschten Account von mir und mit
meinem Namen Schindluder getrieben
wird», betont der SVP-Regierungsrat, der
aufgrund des Vorfalls rund ein Dutzend
Mails, SMS und Anrufe erhalten hat.
«Ich hoffe nun einfach, dass möglichst
wenige meiner Facebook-Freunde auf
den Betrug hereingefallen sind», sagt
der Zuger Bildungsdirektor.
«Da siehst du wirklich blöd aus, wenn
die Leute in deinem Namen betrogen
werden», sagt auch der betroffene Zuger
und ergänzt: «Ich hoffe nun einfach,
dass die Betrüger nicht das Gleiche mit
meinen Freunden veranstalten. Und da
ich fast 1200 Facebook-Freunde habe,
könnte sich das für die Gauner dummerweise lohnen.»
Richtiges Verhalten
WARNUNG kk. Die sogenannten Social-Engineering-Angriffe nutzen
die Hilfsbereitschaft, Gutgläubigkeit oder die Unsicherheit von
Personen aus, um an vertrauliche
Daten zu gelangen oder die Opfer
zu bestimmten Aktionen zu bewegen. Dies schreibt die eidgenössische Melde- und Analysestelle
Informationssicherung auf ihrer
Webseite und empfiehlt:
" Im Internet nur so viele Informationen wie nötig publizieren.
" Zurückhaltung auch am Telefon
mit der Herausgabe von Infos.
" Keine vertraulichen Informationen wie zum Beispiel Benutzername und Passwort weitergeben.
Falls jemand darauf besteht, dem
Systemverantwortlichen, der Bank,
dem Internet Service Provider usw.
melden; kein Dienstleistungsanbieter fragt nach einem Passwort.
Die riskante Strategie von Glencore
BAAR Die Turbulenzen um
den Zuger Rohstoffkonzern
Glencore halten an. Trotz
hoher Schulden glaubt ein
Rohstoffexperte nicht, dass
die Firma akut gefährdet ist.
Glencore kommt nicht aus den Schlagzeilen. Praktisch täglich sind in den
letzten Wochen Berichte über den Rohstoffkonzern mit Sitz in Baar zu lesen.
Die Aktie sackte im September massiv
ab. Von der grössten Krise in der Geschichte war die Rede von einem immensen Schuldenberg, sogar über einen
möglichen Verkauf der Firma wurde
spekuliert. Glencore – als börsenkotiertes
Unternehmen inzwischen einer gewissen
Informationspflicht unterworfen – gibt
sich gewohnt verschlossen, sah sich aber
zweimal gezwungen, eine Stellungnahme zu veröffentlichen. Zum einen musste Glencore die enormen Kursgewinne
seiner Aktie am 5. Oktober an der Hongkonger Börse erklären (wir berichteten).
Zum anderen publizierte Glencore einen
Tag später ein Faktenblatt zu seiner
finanziellen Lage, um die Anleger zu
beruhigen. Wie steht es also um den
Zuger Rohstoffgiganten? Wo liegen die
Probleme und die Risiken?
Die Preise für Rohstoffe verharren auf tiefem Niveau. Besonders der Kohlepreis
ist stark gefallen. Das Bild zeigt eine Kohlemine von Glencore in Australien.
Getty
BONITÄTS-EINSTUFUNG
Ein grosses Fragezeichen setzen Analysten hinter die Kreditwürdigkeit: Sollten die massgebenden Ratingagenturen
das Kreditrating von Glencore runterstufen, werden höhere Zinsen fällig.
Nicolas Bürkler, Finanz- und Rohstoffexperte sowie Dozent an der Hochschule Luzern, sagt dazu: «Das grösste Risiko für Glencore stellen meines Erachtens
zurzeit die eigenen Finanzierungskosten
dar: Sobald das Kreditrating von Glencore zu stark fällt, werden die Finanzierungskosten zu hoch und der Handel
droht, nicht mehr gewinnbringend zu
werden. Gehen die Gewinne aus dem
operativen Geschäft zurück, kommt das
Kreditrating noch mehr unter Druck,
und ein Teufelskreis kommt in Gang.»
Für Glencore sei es daher enorm wichtig, ein «anständiges» Rating beizubehalten, so Bürkler. Umso mehr, wenn
man einem Bericht der Wirtschaftszeitung «The Wall Street Journal» glauben
will, demzufolge Glencore seine Handelsaktivitäten mit knapp 18 Milliarden
US-Dollar an kurzfristigen Krediten finanziert.
Die Ratingagentur Standard & Poor’s
erteilt Glencore aktuell ein Rating von
BBB, Moody’s stuft Glencore mit Baa2
ein; beide Agenturen fügen den Zusatz
«negativer Ausblick» an. Übersetzt bedeuten diese Einstufungen etwa «investmentwürdig mit mittlerer Sicherheit».
Eine baldige Herabstufung ist momentan nicht absehbar. Entscheidend, so
Bürkler, sei aber, dass Glencore vor allem
Banken als Gläubiger und laut dem
Finanzierungs-Faktenblatt uneingeschränkten Zugang zu 15,25 Milliarden
US-Dollar habe. «Das war beispielsweise damals bei Petroplus nicht der Fall»,
erklärt der Experte. Die Petroplus Holdings AG war eine börsenkotierte, international tätige Erdölfirma, ebenfalls mit
Sitz in Zug. Dem Unternehmen wurden
Ende 2011 Milliardenkredite von mehreren Banken gesperrt. Petroplus ging
im Frühjahr 2012 in Konkurs und verschwand von der Börse.
Schliesslich habe Glencore etwa mit
seiner Hausbank Credit Suisse und dem
Grossaktionär Qatar Holding, der Investmentsparte des Staatsfonds von Katar,
zahlreiche grosse und starke Partner, die
laut Bürkler alle ein «sehr grosses Interesse haben, dass es Glencore gut geht».
SCHULDEN
Am meisten berichtet wurde in den
letzten Wochen über den Schuldenberg
von Glencore. Bis zu 100 Milliarden USDollar soll dieser hoch sein, sagen einige Analysten, etwa jene der Bank of
America. Andere wiederum schätzen die
Verbindlichkeiten des Rohstoffgiganten
auf knapp die Hälfte. Glencore selbst
beziffert seine Schulden auf rund 30 Milliarden Dollar. Ein grosser Teil stammt
aus der Übernahme des britisch-schweizerischen Bergbaukonzerns Xstrata vor
zwei Jahren. Dass Glencore damit beinahe doppelt so viele Schulden hat, wie
das Unternehmen aktuell an der Börse
wert ist, schätzt Experte Bürkler als
weniger gewichtig ein. Wichtig sei für
Glencore einzig, dass die Einnahmen
sprudelten und dass die Firma ihre
Zinsen bezahlen könne. Dieser Punkt
führe jedoch zum Kern in der «Frage
Glencore»: Ist Glencore mit seinem Geschäftsmodell langfristig gut aufgestellt?
GESCHÄFTSMODELL & AUSBLICK
Das Glencore-Geschäftsmodell ist im
Rohstoffbusiness einmalig: Der Konzern
deckt vom Rohstoffabbau über den
Transport bis hin zum Vertrieb die ganze Wertschöpfungskette ab. Die Idee
dahinter: In schwierigen Zeiten – wie
jetzt – soll der Rohstoffhandel das schleppende Geschäft in der Produktion abfedern. Damit diese Rechnung aber
aufgeht, müssten die Glencore-Händler
hohe Risiken eingehen. Jeder einzelne
Händler sei deshalb angehalten, das
Risiko so weit raufzufahren und möglichst viel Gewinn zu erwirtschaften,
jedoch mit der Einschränkung, dass die
gesamte Glencore das Rating von BBB
beibehalten kann. Darauf basiere das
gesamte Geschäftsmodell von Glencore,
erklärt Experte Bürkler. Doch wie sicher
ist dieses ergänzende Modell? Anhand
der Entwicklung von Glencore-Obligationen lasse sich einiges ablesen, sagt
Nicolas Bürkler: «Der Markt schätzt die
Wahrscheinlichkeit eines totalen Ausfalls
– sprich: einer Pleite – von Glencore in
den nächsten fünf Jahren bei 45 Prozent
ein. Das ist sehr hoch und zeigt auf, dass
der Markt extrem skeptisch ist.» Laut
Bürkler sehen die Marktteilnehmer die
grössten Risiken für Glencore innerhalb
der nächsten 12 Monate. Doch eins zu
eins spiegelten die Kurven die Realität
nicht wider, erklärt der Finanz- und
Rohstoffexperte. Meistens werde das
Ausfallrisiko im Vergleich zur Realität
vom Markt dramatisiert, erklärt Bürkler.
Daneben habe Glencore, wie alle Rohstofffirmen, vor allem auf Wachstum
gesetzt: «Die Strategie blieb stets die
gleiche: Glencore hat immer auf eine
steigende Rohstoffnachfrage und auf
steigende Rohstoffpreise gesetzt – auf
eine wachsende Weltwirtschaft also», so
Bürkler. Das sei lange gut gegangen, auch
weil China als grösster Rohstoffverbraucher fleissig die Nachfrage angekurbelt
hat. Nun geht diese Nachfrage massiv
zurück, und weil Glencore stets sehr
risikoreich handelt, zeigen sich die Probleme nun umso klarer.
Zum befürchteten Kollaps von Glencore äussert sich Nicolas Bürkler gelassen: «Zusammengefasst kann man
sagen: Wenn das heutige Kredit- und
Finanzsystem so weiterläuft wie jetzt und
die Weltwirtschaft nicht in eine gigantische Krise stürzt, überlebt auch Glencore. Wenn das System kollabiert, dann
verschwindet auch Glencore.»
LIVIO BRANDENBERG
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