http://www.mediaculture-online.de Autor: Würfel, Maren / Keilhauer, Jan. Titel: Die konvergente Medienwelt: Materiallieferant und sozialer Raum für die Identitätsarbeit Jugendlicher. Quelle: Theunert, Helga (Hrsg.): Jugend – Medien – Identität. Identitätsarbeit Jugendlicher mit und in Medien. Schriftenreihe Interdisziplinäre Diskurse Band 4, München 2009, S. 95-113. Verlag: kopaed verlagsgmbh. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Maren Würfel / Jan Keilhauer Die konvergente Medienwelt: Materiallieferant und sozialer Raum für die Identitätsarbeit Jugendlicher Dass Medien, Medieninhalte und mediale Handlungsmöglichkeiten einen gewichtigen Einfluss auf die Lebensvollzüge insbesondere von Heranwachsenden haben, ist ein zentrales Ergebnis der Forschung zur Mediensozialisation und Identitätsbildung mit Medien. Die Entwicklung der Medienkonvergenz wird bislang aber noch nicht in ihrer vollen Tragweite in die zugrunde gelegten theoretischen Konzepte einbezogen. Dabei schlägt sich diese Entwicklung immer deutlicher auch in der Medienaneignung Heranwachsender nieder. Heranwachsende leben immer mehr mit den und in den Medien und verknüpfen Medienangebote miteinander, wenn sie sich mit identitätsrelevanten Inhalten beschäftigen (Schorb u.a. 2009b). Damit ist von einer zunehmenden Relevanz der Medienkonvergenz für Prozesse der Identitätsarbeit mit Medien auszugehen, die mit neuen Qualitäten verbunden sind. Unter der Konvergenzperspektive kann nicht mehr nur die Aneignung einzelner Medienangebote untersucht werden. Vielmehr geht es um die Funktionen des gesamten Medienensembles für die Identitätsarbeit. Am deutlichsten ist die Identitätsrelevanz dort zu beobachten, wo die Subjekte Inhalte, in denen sich ihre Identitätsthemen wiederfinden, medienübergreifend verfolgen und bearbeiten. In diesem Beitrag werden wir, basierend 1 http://www.mediaculture-online.de auf den Ergebnissen des Medienkonvergenz Monitoring 1, zunächst das Phänomen der Medienkonvergenz aus der Perspektive der Nutzenden beschreiben. Ausgehend von einer theoretischen Annäherung an Prozesse der Identitätsarbeit werden wir anschließend darstellen, welche Funktionen das konvergente Medienensemble für die Identitätsarbeit der Subjekte einnehmen kann. Medienkonvergenz und Medienaneignung Das Konvergieren der Medienwelten findet auf einer technischen und einer inhaltlichen Ebene statt. Auf der technischen Ebene beschreibt Medienkonvergenz das Zusammenlaufen verschiedener Übertragungswege auf Grundlage der Digitalisierung sowie die Entwicklung multifunktionaler Endgeräte durch das Verschmelzen verschiedener Mediengeräte. Auf inhaltlicher Ebene beschreibt Medienkonvergenz die Mehrfachvermarktung von Inhalten über verschiedene Medienkanäle und -plattformen hinweg (vgl. Wagner 2005). Hierbei geht es den Anbietern von Medieninhalten um Synergieeffekte und Kundenbindung durch crossmediale Vermarktungsstrategien und die Etablierung von Medienmarken bis hin zum ‚transmedia storytelling‘ (Jenkins 2006). So wurde z.B. der Medieninhalt MATRIX über verschiedene mediale Plattformen hinweg ‚erzählt‘, wobei jedes Medium einen spezifischen Beitrag zum Verständnis des ganzen Matrix-Universums leisten soll: Der Film kann zur Einführung in die ‚Story‘ dienen, das Computerspiel zur weiteren Exploration des Universums etc. (ebd., S. 93ff.). Über diese Mehrfachvermarktung hinaus bietet das konvergente Medienensemble eine Vielzahl weiterer Angebote, die an einen konkreten Medieninhalt anknüpfen. Hierzu zählen sowohl Angebote von anderen professionellen Medienproduzenten als auch nutzergenerierte Angebote. Im Zeitalter des Web 2.0 oder ‚Mitmach-Netzes‘ verschwimmen die Grenzen zwischen Medienproduzenten und Medienkonsumenten. Dieser angebotsbezogenen Perspektive stellt die medienpädagogische Forschung die Perspektive der Nutzenden auf Medienkonvergenz entgegen und untersucht die Aneignung von Medien durch die Subjekte (vgl. z.B. Wagner 2006). Das heißt zunächst, am Zugriff der Nutzenden auf die 1 Das Medienkonvergenz Monitoring untersucht die Aneignung des konvergenten Medienensembles durch Heranwachsende in der Langzeitperspektive. Ein Schwerpunkt liegt auf der Bedeutung des konvergenten Medienensembles für die Identitätsarbeit Heranwachsender. Weitere Informationen unter: www.medienkonvergenz-monitoring.de 2 http://www.mediaculture-online.de konvergenten Strukturen des Medienangebotes anzusetzen. Die Analyse muss darüber hinaus herausarbeiten, wie sich Konvergenz in den Medienaneignungsmustern der Nutzenden manifestiert. Medienaneignung umfasst den „komplexen subjektiv variierenden und variierten Prozess der Integration der Medien in den alltäglichen Lebens- und Erfahrungskontext“ (Theunert 2005, S. 115). Medien sind dabei als Objekte zu verstehen, die Träger bzw. Mittler von Inhalten sind. Die Aneignung von Medien meint damit den Zugriff auf (technische) Medien, mit dem Ziel des ‚Zu-Eigen-Machens‘ von medial präsentierten Inhalten sowie dem Ziel der eigenen Präsentation von Inhalten (vgl. Schorb 2007). Neben diese beiden Dimensionen treten mit Blick auf das konvergente Medienensemble weitere: So schließt die Aneignung von Medien in einer strukturellen Dimension die Aneignung von Verknüpfungen im Medienensemble ein. In einer raumbezogenen Dimension bezieht sich Medienaneignung auf die Aneignung von Medien als (soziale) Räume, insbesondere im Hinblick auf soziale Austauschprozesse. Wir fassen zusammen: • Die Aneignung des konvergenten Medienensembles bedeutet eine medienübergreifende Aneignung von Inhalten in ihren jeweiligen medientechnischen und -strukturellen Kontexten. • Bei der Aneignung des konvergenten Medienensembles greifen die Subjekte nicht nur auf medial präsentierte konvergente Inhalte zu, sondern stellen diese auch selbst her. Sie konstruieren selbst inhaltlich konvergente (also auf andere Medieninhalte bezogene) Angebote oder agieren als Verweisgeber und schaffen damit auf struktureller Ebene neue Verknüpfungen im konvergenten Medienensemble. • Die subjektive Aneignung von Inhalten im konvergenten Medienensemble umfasst auch den Zugriff auf Medien als soziale Räume zur kommunikativen Verarbeitung von Medieninhalten in der Interaktion mit anderen. 3 http://www.mediaculture-online.de Präferenzgeleitete Aneignung des konvergenten Medienensembles Welche Bedeutung Medien(-inhalte) für Subjekte erlangen, kann umfassend erfasst werden, wenn die medienübergreifenden Aneignungsprozesse mit all den benannten Implikationen in den Blick genommen werden. Richtet sich der Fokus der Untersuchung – wie in unserem Fall – auf den Zusammenhang der Aneignung von Medien(-inhalten) mit der Identitätsarbeit Heranwachsender, ist insbesondere die medienübergreifende Aneignung jener Medien(-inhalte) von Bedeutung, die in besonderem Maße identitätsrelevant sind. Besonders identitätsrelevant sind Medien(-inhalte) dann, wenn sie den subjektiven Interessen Heranwachsender entsprechen. Unter Interessen sind solche Personen-Gegenstands-Beziehungen zu verstehen, die durch „eine hohe persönliche Wertschätzung des Interessengegenstandes und eine positive emotionale Befindlichkeit während der Ausübung des Interesses“ (Krapp 2006, S. 40) gekennzeichnet sind. Interessengegenstand kann all das sein, was „einem Menschen im direkten oder übertragenen Sinn ‚begegnet‘ und worauf sich sein Denken und Handeln mehr oder weniger dauerhaft richten kann. Dazu gehören natürlich auch Medien“ (ebd.). Die bewusste und selbstbestimmte Zuwendung von Personen zu Gegenständen ihrer Umwelt ausgehend von den subjektiven Interessen in Form von Interessenhandlungen hebt diese Gegenstände unter anderen hervor: Interessengegenstände sind identitätsrelevant (Schiefele 1974; 1986). Als empirischer Zugang zur Untersuchung der Identitätsarbeit Heranwachsender im konvergenten Medienensemble eignen sich besonders ihre bevorzugten Medieninhalte, die wir mediale Präferenzen nennen (vgl. Wagner 2006). Sie sind eine Ausprägungsform von Interessen und damit per se identitätsrelevant. Mit Medieninhalt meinen wir den im Medium enthaltenen bzw. über das Medium präsentierten ‚Text‘, in der Regel eine Narration. Die präferenzgeleitete Medienaneignung erfolgt über den Zugriff auf verschiedene mediale Erscheinungsformen des präferierten Inhalts sowie über die Verarbeitung des präferierten Inhalts über Äußerungsformen. Verschiedene mediale Erscheinungs- und Äußerungsformen in ihrem Zusammenspiel sind damit für konvergente Aneignungsmuster der Subjekte zentral. Mediale Erscheinungsformen: Medieninhalte treten den aneignenden Subjekten im konvergenten Medienensemble in verschiedenen Erscheinungsformen gegenüber, wobei 4 http://www.mediaculture-online.de der Inhalt in seinen Erscheinungsformen mehr oder weniger stark variiert. Erscheinungsformen eines Inhaltes lassen sich analytisch differenzieren in: Erscheinungsformen, die zur Mehrfachverwertungskette eines Inhalts gehören, Erscheinungsformen, die eine Bearbeitung des Inhalts von Seiten Dritter darstellen und informationsorientierte Erscheinungsformen, die an den Inhalt anknüpfen. • Erscheinungsformen, die zur Mehrfachverwertungskette eines Inhaltes gehören, stellen in der Regel codal variierte Formen des Inhaltes bzw. in verschiedenen Mediengattungen auftretende Variationen des Inhaltes dar, wobei der ‚Text‘ und die Aussage weitgehend unverändert bleiben. Mehrfachvermarktete Erscheinungsformen von HARRY POTTER sind beispielsweise der Film, der Roman oder das Computerspiel.2 • Erscheinungsformen, die eine Bearbeitung des Inhalts von Seiten Dritter darstellen, greifen den Inhalt auf und modifizieren diesen. Dabei kann der zugrundeliegende ‚Text‘ durchaus tiefer gehende Veränderungen erfahren, insbesondere auch im Hinblick auf seine Aussage. Bei diesen Erscheinungsformen kann es sich sowohl um nutzergenerierte als auch um professionell produzierte handeln. Im Fall von HARRY POTTER ist das beispielsweise die nutzergenerierte Videopersiflage HARRY POTTER UND DER GEHEIME PORNOKELLER (bei YouTube). Ein Aufgreifen von HARRY POTTER beim TV Comedyformat SWITCH RELOADED wäre eine professionell produzierte, inhaltlich-bearbeitete Erscheinungsform. • An den Inhalt anknüpfende, informationsorientierte Erscheinungsformen haben eine weniger große Nähe zum eigentlichen ‚Text‘. Auch wenn die Entscheidung beim Subjekt liegt, ob es eine Erscheinungsform eher zur Information oder zur Unterhaltung heranzieht, sind mit informativen Erscheinungsformen solche professionell oder durch Nutzende produzierte Angebote gemeint, die Hintergrundinformationen zum Medieninhalt und seinen Erscheinungsformen anbieten, z.B. informative Elemente der offiziellen Harry Potter-Homepage oder von Fanpages sowie Artikel in Zeitschriften. 2 Interaktive, vor allem spielbezogene Formen des Inhaltes stellen eine Besonderheit dar. Sie sind zugleich Erscheinungsformen des Inhaltes als auch Äußerungsformen zum Inhalt. Hier verschmelzen beide Dimensionen miteinander. So transportiert das Harry Potter-Computerspiel die narrativen Elemente der Geschichte, bietet zugleich aber auch die Möglichkeit selbst zu agieren und damit im gewissen Maße zu gestalten. Im Falle eines Online-Spieles sind darüber hinaus interpersonal-kommunikative Äußerungsformen angelegt. 5 http://www.mediaculture-online.de Erscheinungsformen können über verschiedene mediale Zugangswege rezipiert werden. Diese Wege machen sich an den verwendeten Träger-, Speicher- und Programmmedien sowie an den verwendeten Mediengeräten fest. So kann der Harry Potter-Film z.B. auf DVD, als Videodatei am Rechner, im Fernsehprogramm oder im Kino gesehen werden. Die Harry Potter-DVD wiederum kann sowohl mit dem DVD-Player als auch über den PC gesehen werden. Nicht nur der Zugriff auf verschiedene Erscheinungsformen kann somit die Aneignung des Inhalts beeinflussen, sondern auch der Gebrauch verschiedener technischer Medien. Denn mit unterschiedlichen technischen Zugängen zu den Erscheinungsformen sind unterschiedliche Kontexte, Bedingungen und implizierte Erwartungen an die Rezeption verbunden (vgl. Hasebrink 2004). Mediale Äußerungsformen: In seiner Aneignung eines Medieninhaltes rezipiert das Subjekt nicht nur Erscheinungsformen dieses Inhalts (verinnerlicht also Äußerliches), sondern kann sich auch medial in verschiedenen Formen äußern (äußert also Innerliches). Äußerungsformen sind im Kontext präferenzgeleiteter Medienaneignung als mediale Manifestationen der Verarbeitung von Medieninhalten zu verstehen. Die Relevanz von medialen Äußerungsformen für die Aneignung von Inhalten hat mit fortschreitender Entwicklung des Internets zum Web 2.0 sowie vereinfachter Zugänglichkeit und Bedienbarkeit von entsprechender Hard- und Software deutlich zugenommen. Analytisch unterscheiden wir zwischen interpersonal-kommunikativen Äußerungsformen und produktiv-gestaltenden Äußerungsformen. • Interpersonal-kommunikative Äußerungsformen umschließen alle kommunikativen Medientätigkeiten des Subjektes, die sich an ein konkretes Gegenüber (Individuum oder Gruppe) richten und auf den direkten sozialen Austausch zielen, wie z.B. ein eigener Chatbeitrag in einem Themenchat zu HARRY POTTER. • Produktiv-gestaltende Äußerungsformen richten sich tendenziell an eine (größere) Öffentlichkeit, nicht vordergründig auf den direkten sozialen Austausch und sie sind in der Regel nicht flüchtig. Beispiele hierfür sind das Verfassen von Fanfiction zu HARRY POTTER oder auch das Hochladen eines Harry Potter-Bildes im eigenen Social Network-Profil. Am Beispiel der 15-jährigen Jana und ihrer Präferenz für den Medieninhalt NARUTO umreißen wir im Folgenden, wie sich präferenzgeleitete Medienaneignung im Einzelfall 6 http://www.mediaculture-online.de vollziehen kann.3 Daran anknüpfend zeigen wir – nach einer theoretischen Annäherung an den Begriff der Identitätsarbeit – welche Bedeutung die präferenzgeleitete Medienaneignung für die Identitätsarbeit Heranwachsender hat. Dabei werden wir exemplarisch auf das Einzelfallbeispiel zurückkommen. Präferenzgeleitete Medienaneignung am Beispiel: Jana und NARUTO Jana ist 15 Jahre alt und besucht die 10. Klasse einer Realschule am Rande einer Großstadt. Medien spielen in Janas Leben eine ausgesprochen große Rolle. Sie beschäftigt sich viel mit dem Internet-PC und hat mehrere stark ausgeprägte mediale Präferenzen. Ihre mit Abstand wichtigste Präferenz aber ist Naruto, eine Geschichte über jugendliche Ninja im (fiktiven) altertümlichen Japan. Der Hauptcharakter ist der Junge Naruto, der zusammen mit andern jungen Ninja. u.a, dem Mädchen Sakura, erwachsen wird. Jana präferiert Naruto schon seit mehr als zwei Jahren. Sie ist durch ihren älteren Bruder damit in Kontakt gekommen. Für die Aneignung greift sie auf eine Vielzahl von Erscheinungsformen des Inhalts zu. Am wichtigsten sind ihr das Manga und der Anime. die zur Mehrfachverrmarktungskette des Inhalts gehören und die Narration transportieren. Die Naruto-Anime Erscheinungsform Manga rezipiert Jana über zwei Wege, Manga-Heft und Internet-Manga. Für sie hat jedes Medium seinen eigenen Vorteil: An den Manga-Heften schätzt sie, dass man sie ‚in der Hand halten‘ und sammeln kann. Im Internet liest sie den Manga, weil sie hier auf die neuesten Episoden zugreifen kann, wenn auch nur in englischer Sprache. An der Erscheinungsform Anime gefällt ihr vor allem die audiovisuelle Umsetzung des Inhalts sowie zusätzliches inhaltliches Material, denn der Inhalt zwischen Anime und Manga variiert leicht. Den Anime rezipiert Jana ebenfalls auf zwei Wegen: über das Programmmedium Fernsehen und über das Internet, konkret YouTube. Dabei bevorzugt Jana den Zugriff über den Internet-PC und YouTube 3 Der Einzelfall ist dem Medienkonvergenz Monitoring entnommen. Die Aneignung des konvergenten Medienensembles und dessen Relevanz bei der Identitätsarbeit von Heran-wachsenden wurde u.a. mittels qualitativen Intensivinterviews mit 41 Heranwachsenden im zweiten Halbjahr 2007 untersucht. 7 http://www.mediaculture-online.de und das aus zwei Gründen: Sie kann stets programm- und zeitunabhängig auf die aktuellsten Episoden zugreifen und die Onlineversion des Anime ist ‚ungeschnitten‘ – im Gegensatz zur TV-Version im deutschen Nachmittagsprogramm. Weitere (mehrfach vermarktete) Erscheinungsformen, denen sich Jana zuwendet, sind Naruto-Filme, der Naruto-Soundtrack (den Jana entweder begleitend zum Manga-Lesen oder in der Schule hört) sowie verschiedene Naruto-Bilder (z.B. die Wallpaper fürs Handy). Neben den Erscheinungsformen aus der Mehrfachvermarktungskette, wendet sich Jana auch weiteren, insbesondere nutzergenerierten Naruto-Erscheinungsformen wie Fanpages, Fanfiction, Fanforen und Fanart zu. Für die Aneignung ist dabei vor allem die Fanfiction und -art relevant, die sie u.a. über die Plattform animexx.de bezieht. Um an weitere Informationen über die Naruto-Welt zu gelangen, greift Jana auf gedruckte AnimeZeitschriften, hauptsächlich aber auf das Internet mit seinen vielfältigen Fanseiten und -foren zu. Jana verarbeitet den Naruto-Inhalt auch über mehrere Äußerungsformen sowohl interpersonal-kommunikativer als auch produktiv-gestaltender Art. Die interpersonale Kommunikation mit anderen Naruto-Fans in Internetforen ist für sie sehr wichtig. Hier kann sie über die Naruto-Welt „philosophieren", ihr Wissen anbringen und diskutieren. Der soziale Austausch in einem Forum war zudem der Ausgangspunkt für das Verfassen eines TV-Guides zu Naruto, in dem sie wöchentlich die aktuellen TV-Episoden beschreibt und kommentiert. Über ihre selbst produzierte Fanart bearbeitet Jana vor allem die weibliche Figur Sakura. Ihre Zeichnungen veröffentlicht Jana im Rahmen ihres Profils auf der Plattform animexx.de und bekommt hier auch Kommentare. Sie erstellt auf dieser Plattform außerdem selbst textbasierte Naruto-Rollenspiele und spielt diese mit anderen Fans. Identitätsarbeit und die Rolle der Medien Wie Beck (1986) konstatiert, hält die gegenwärtige Gesellschaft kaum noch tragfähige Orientierungsmuster bereit, wodurch breite kulturelle Suchbewegungen ausgelöst werden. Menschen werden nicht mehr in ‚Identitäten‘ hineingeboren, sondern sehen sich einer Vielzahl an möglichen Lebenszielen und -stilen gegenüber. Diese (Wahl-)Freiheiten sind durchaus riskante Freiheiten (vgl. ebd.), wenn dem Subjekt die Grundlagen für fundierte 8 http://www.mediaculture-online.de Entscheidungen fehlen. Einhergehend mit Tendenzen zur Individualisierung von Lebensläufen und Pluralisierung von Lebensmustern, mit Enttraditionalisierungs-, Fragmentierungs- und Entgrenzungsprozessen, rückt auch die Frage nach der eigenen Identität und damit Fragen wie: Wer bin ich? Wie bin ich geworden wie ich bin? und Wer/wie will ich sein? in den Mittelpunkt. Diese müssen vom Subjekt immer wieder neu gestellt und beantwortet werden. Die Konstruktion von Identität, das Streben nach Lebenskohärenz, ist zur lebenslangen Aufgabe geworden, an der das Subjekt alltäglich arbeitet (Keupp u.a. 2002). Im Jugendalter aber stellt sich die Frage nach Identität nach wie vor besonders drängend. Um Identität zu konstruieren, müssen Menschen verschiedene Erfahrungsfragmente so miteinander verknüpfen, dass ein subjektiv sinnvoller Zusammenhang entsteht. Grundlegend für diese individuelle Verknüpfungsarbeit als aktive und kreative Eigenleistung des Subjektes sind (situative) Selbstthematisierungen sowie damit einhergehende Selbstreflexionsprozesse (vgl. ebd.). Die alltägliche Verknüpfungsarbeit findet in mehrfacher Hinsicht statt: inhaltlich, lebensweltlich und zeitlich. Inhaltlich verknüpft das Subjekt (scheinbar) Widersprüchliches oder auch Ergänzendes. Verknüpfungsarbeit in lebensweltlicher Hinsicht meint die subjektive Zusammenhang- und Sinnkonstruktion über verschiedene Lebensbereiche, im Sinne von Teilidentitäten (z.B. in Bezug auf Familie, Schule, Partnerschaft) bzw. Rollenidentitäten hinweg. Zeitlich leistet das Subjekt Verknüpfungsarbeit sowohl retro- als auch prospektiv dahingehend, dass es gemachte Erfahrungen, aktuelle Identitätsausprägungen sowie Identitätsentwürfe und -projekte in einen subjektiv sinnvollen und stimmigen Zusammenhang bringt (vgl. ebd.). Insbesondere für die Ausbildung von Identitätsentwürfen und die Arbeit an Identitätsprojekten greift das Subjekt auf externe Anregungen zu: Es bedient sich in einem „kulturellen Supermarkt für Weltdeutungsangebote aller Art" (Hitzler/Honer 1994, S. 308), der zu einem gewichtigen Teil mit Medieninhalten ‚bestückt‘ ist. Medieninhalte sind auch für Narrationsarbeit, der zentralen Methode der Verknüpfungsarbeit (Kraus 1996), von Bedeutung. Denn Selbstnarrationen werden vor allem „von gesellschaftlich vorgegebenen Fertigpackungen“ (Keupp u.a. 2002, S. 216) und damit durch „erzählerische Muster, medial verstärkte Metaerzählungen und von Machtfragen geprägte Darstellungsmechanismen mit beeinflusst“ (ebd.). 9 http://www.mediaculture-online.de Über Verknüpfungsarbeit hinaus stellen sich dem Subjekt in seiner Identitätsarbeit zwei in einem Spannungsverhältnis stehende Kernaufgaben: Authentizität und soziale Anerkennung. Mit Blick auf Authentizität geht es dem Subjekt um das ‚Sich-Erkennen‘ und damit auch um das Gefühl, dass das, was es tut, auch wirklich zu ihm selbst passt (ebd.). Das Streben nach sozialer Anerkennung macht sich dagegen am sozialen Gegenüber fest. Hier geht es dem Subjekt darum, von anderen gesehen, verstanden und anerkannt zu werden (vgl. Döring 2008) und damit um Handlungsfähigkeit. Soziale Anerkennung verlangt nach interpersonaler Kommunikation. Das Subjekt sucht nach mehr oder weniger klar kommuniziertem (positivem) Feedback auf die präsentierte Identität. Und an der Anerkennung durch andere entscheidet sich nicht zuletzt, welche prospektiven oder aktuellen Identitätsfacetten weiterverfolgt oder verworfen werden. Für die Kernaufgabe ‚soziale Anerkennung‘ ist das Subjekt also auf soziale Ressourcen angewiesen. Unterstützende soziale Beziehungsnetze sind in der gegenwärtigen Gesellschaft aber nicht per se gegeben, sondern müssen über kontinuierliche intensive Beziehungsarbeit konstruiert bzw. aufrechterhalten werden (vgl. Keupp 2005). Denn mit Tendenzen zur Enttraditionalisierung und Entgrenzung einhergehend wird soziale Anerkennung zu einem prekären Gut. Angeeignete Medieninhalte – als inkorporiertes kulturelles Kapital – können ein „erweitertes indirektes, wenngleich zu einem gewissen Teil fiktives Sozialkapital sein“ (Keupp u.a. 2002, S. 205). Durch diese Übertragung von (medialem) kulturellem Kapital kann die Beschränktheit des ‚realen‘ sozialen Raumes in Teilen aufgehoben werden bzw. vom Subjekt kompensiert werden. Geht es Keupp u.a. alleinig um eine über Medienaneignungsprozesse mögliche Antizipation sozialer Anerkennung, bleibt aber zu ergänzen, dass Medien bzw. darauf bezogene Nutzungskompetenzen viel direkter noch in soziales Kapital überführt werden, nämlich wenn sie den Subjekten als Räume zur (interpersonalen) Kommunikation dienen (vgl. auch Krotz 2003; 2004). Kohärenz, Authentizität und soziale Anerkennung sind die übergeordneten Zielkategorien bzw. Aufgaben der Identitätsarbeit. Triebfeder für diese Identitätsarbeit sind die Identitätsziele, die das Subjekt in verschiedenen Identitätsprojekten und auf verschiedenen Ebenen verfolgt (vgl. Keupp u.a. 2002). Auf der sozialen Ebene streben die Subjekte insbesondere Integration und damit das Gefühl der Zugehörigkeit zu anderen an. Auf einer kognitiven Zielebene versucht das Subjekt, Autonomie und Entschiedenheit 10 http://www.mediaculture-online.de zu erreichen. Zu Identitätszielen auf der emotional geprägten Ebene zählen Selbstachtung und Selbstwirksamkeit wie auch Kompetenzerleben. Und schließlich verfolgt das Subjekt Identitätsziele auch auf einer produktorientierten Ebene. Neben Originalität geht es ihm hier vor allem um Objektivation (bzw. Äußerung, Vergegenständlichung) von Identitätsaspekten. „Dies steht hinter all den Identitätsprojekten, wo eine Person sich in einem Produkt (Werk ...) situationsüberdauernd objektiviert“ (ebd., S. 262). Und gerade für diese Prozesse bedarf das Subjekt des Zugriffs auf kulturelle Ressourcen. Insbesondere Medien – und hier vor allem verfügbare technische Medien sowie Medienkompetenz, aber auch angeeignete Muster – sind als kulturelle Ressourcen von Bedeutung. Von Seiten der medienwissenschaftlichen und insbesondere der medienpädagogischen Forschung wird die Frage nach der Bedeutung von Medien für Identitätsbildungsprozesse seit Langem gestellt. Zum Teil in theoretisch ausgerichteten Arbeiten zur Mediensozialisation, vor allem aber in den empirisch ausgerichteten Forschungen wurde die Identitätsrelevanz von Medien(-aneignung) vielfach, wenn auch zum Teil mit anderen Begrifflichkeiten, thematisiert. Meist wurde hier auf Einzelmedien, insbesondere verschiedene Fernsehgenre oder -formate fokussiert. Seit der Jahrtausendwende und insbesondere mit dem Aufkommen des Schlagworts Web 2.0 liegt der Fokus der Forschung auf der Bedeutung des Internets für Jugendliche Lebensweisen und -welten. Dabei ist die Identitätsfrage wieder verstärkt in den Mittelpunkt gerückt (z.B. Turkle 1998; Fritz 2003; Misoch 2004; Kammerl 2005; Tillmann 2008). Arbeiten, die die Ebene der Einzelmedien verlassen, fokussieren stark auf rezeptive Medientätigkeiten oder die Bedeutung von Medien allgemein für Identitätsarbeit (z.B. Barthelmes/Sander 2001; Wenger 2003; Wegener 2008). Das JFF hat mit seiner Untersuchung konvergenzbezogener Medienaneignung (Wagner/Theunert 2006) bereits empirische Ergebnisse dazu geliefert, welche Bedeutung die konvergenzbezogene Medienaneignung für die Identitätsarbeit Heranwachsender einnehmen kann. Die folgenden Überlegungen sollen einen weiteren Schritt in diese Richtung darstellen. 11 http://www.mediaculture-online.de Identitätsarbeit mit dem konvergenten Medienensemble Unter der Konvergenzperspektive ist zu berücksichtigen, wie die Subjekte verschiedene mediale Erscheinungs- und Äußerungsformen in ihrer präferenzgeleiteten Medienaneignung verknüpfen und welche Funktionen die inhaltlich miteinander verschränkten medienbezogenen Handlungen im Rahmen der Identitätsarbeit einnehmen. Es lassen sich zwei Funktionen des konvergenten Medienensembles beschreiben: Es liefert durch seine Inhalte in ihren verschiedenen Erscheinungsformen Material für die Identitätsarbeit. Und es steht den Subjekten als Raum zur Verfügung, in dem sie dieses Material mittels verschiedener Äußerungsformen be- und verarbeiten können. Wir werden die Funktionen des konvergenten Medienensembles als Materiallieferant und Raum für Identitätsarbeit anhand des Fallbeispiels von Jana verdeutlichen. Dabei gehen wir erstens darauf ein, wie präferierte Medieninhalte als Material für Identitätsarbeitsprozesse herangezogen werden können und beschreiben, welche Bedeutung der subjektiven Verknüpfung von verschiedenen Erscheinungsformen zukommen kann. Zweitens gehen wir auf die Bedeutung der Aneignung dieser Inhalte über verschiedene Äußerungsformen im Raum der konvergenten Medienwelt ein. Zunächst aber betrachten wir den persönlichen und sozialen Hintergrund unseres Fallbeispiels in Bezug auf Identitätsarbeit. Hintergrund: Jana im Streben nach Authentizität und sozialer Anerkennung Jana wohnt mit ihrer Mutter, einer Altenpflegerin, und ihren drei Halbgeschwistern in einer kleinen Plattenbauwohnung. Zu Hause muss sie viel ‚mit anpacken‘ und Verantwortung für die zwei jüngeren Geschwister übernehmen, von ihrer Mutter erhält sie aber nur wenig Aufmerksamkeit und emotionale Zuneigung. Jana nimmt sich als intelligent, kommunikativ, ehrgeizig und vielseitig interessiert wahr. Sie zählt zu den Klassenbesten und will nach Abschluss der Realschule das Abitur machen. Allerdings ist Jana bei ihren Mitschülerinnen wenig beliebt und fühlt sich von diesen nicht verstanden und nicht anerkannt. Sie und zwei weitere befreundete Mitschülerinnen werden von den Klassenkameraden ausgegrenzt. Jana ist nicht bereit, das zu akzeptieren und setzt sich stark für ihre Freundinnen ein. Über ihre Musikpräferenzen und ihr Outfit versucht sie sich 12 http://www.mediaculture-online.de von den anderen („glamour tussies“ und „hopper“) abzugrenzen und einen eigenen Stil zwischen Metal, Punkrock und Emo, in Verbindung mit Manga/Anime zu behaupten. Janas wichtigstes Identitätsprojekt ist das einer starken, selbstbewussten, gebildeten und vor allem beliebten jungen Frau. Ihr geht es darum, ihr Selbstwertgefühl auszubauen und Kontexte der sozialen Anerkennung zu finden. Viele ihrer daran anschließenden konkreten Identitätsentwürfe und -projekte bearbeitet sie mit ihrer medialen Präferenz Naruto, die in engem Zusammenhang mit einem allgemeinen Interesse für Mangas/Animes und Japan steht. Das konvergente Medienensemble als Materiallieferant für die Identitätsarbeit Als identitätsrelevantes Material sind vor allem Figuren bzw. mediale Personen tragend. Im Rahmen von Identifikations-, Spiegelungs- und Vergleichsprozessen (vgl. z.B. Charlton/Neumann-Braun 1990; Baacke 1999) sowie über parasoziale Beziehungen (z.B. Schramm/Hartmann 2007) setzen sich die Subjekte mit den medial präsentierten Figuren auseinander. Damit gehen Prozesse der Selbstthematisierung und -reflexion wie auch der Antizipation von sozialer Anerkennung einher. Auch nicht figurengebundene Informationen über Welt bzw. Gesellschaft werden von den Subjekten zur Identitätsarbeit herangezogen. Subjektiv Relevantes wird in Wissen überführt, das als Ressource zur Arbeit an aktuellen Identitätsprojekten sowie als Impuls- bzw. Ideengeber für neue Identitätsentwürfe dient. Darüber hinaus liefern Medien Material für Identitätsarbeit in Form von medialen Erzählmustern, die die Subjekte als Muster für Selbstnarrationen heranziehen können. Die Aneignung eines Medieninhaltes über verschiedene Erscheinungsformen kann die Identitätsrelevanz des Inhaltes deutlich erhöhen. Dies lässt sich in folgenden Aspekten fassen: • Ausweitung: Durch den Zugriff auf verschiedene Erscheinungsformen kann die Aneignung des präferierten Inhaltes multimodal erfolgen und der Medienalltag dichter mit dem Präferenz-Material gefüllt werden. Dies kann eine stärkere Bindung 13 http://www.mediaculture-online.de an die Inhalte und insgesamt eine größere Relevanz der Präferenz für die verschiedenen Prozesse der Identitätsarbeit nach sich ziehen. • Vertiefung: Über den Zugriff auf vielgestaltiges Präferenz-Material können die Subjekte ihre Selbstreflexion und Selbstnarration anhand der medialen Präferenz vertiefen. Insbesondere die gezielte Zuwendung zu weiteren, inhaltlich spezifischeren sowie informationsorientierten Erscheinungsformen kann die eigenen Bezüge zum präferierten Inhalt und damit eigene Identitätsthemen stärker hervortreten lassen. • Multiperspektivität: In der konvergenten Medienwelt können präferierte Medieninhalte aus unterschiedlichen Perspektiven in Augenschein genommen werden. Gerade durch die zum Teil weitreichende Ergänzung der Angebote um nutzergenerierte Erscheinungsformen des Inhaltes können andere Sichtweisen und Interpretationsangebote die reflexive Auseinandersetzung mit dem Inhalt bereichern. • Mehrfachrelevanz: Bei der Aneignung von Medieninhalten wird in der Regel nicht nur ein Identitätsthema bearbeitet bzw. ein Identitätsprojekt verfolgt. Vielmehr arbeiten die Subjekte zugleich an mehreren Identitätsprojekten. Bei der Aneignung eines Medieninhaltes über (inhaltlich variierende) Erscheinungsformen und verschiedene mediale Zugriffswege (und -kontexte) aber kann sich die Breite der mit einem Inhalt bearbeiteten Projekte noch vergrößern. Denn mit dem Zugriff auf andere Erscheinungsformen können weitere inhaltliche Aspekte hervortreten und tiefer verarbeitet werden. • Fan- und Expertentum: Der umfassende Besitz von oder Zugang zu möglichst vielen Erscheinungsformen des präferierten Inhalts ist oft für eine Selbstdefinition als Fan und damit eine medienbezogene Teilidentität von großer Bedeutung. Neben der persönlichen Bindung an die Präferenz dient eine umfassende Zuwendung auch der Entwicklung einer Expertenposition innerhalb des sozialen Umfelds. Über verschiedene Erscheinungsformen eignen sich die Subjekte aktuelles und differenziertes Wissen zum Inhalt und seinen Erscheinungsformen an. Diese Materialien wenden sie zum Zweck der sozialen Beziehungsarbeit und Zuordnung nach außen. Sie können sich Gleichaltrigen gegenüber als kompetent erleben, sich den echten Fans zuordnen oder von anderen weniger versierten 14 http://www.mediaculture-online.de Nutzenden der gleichen Präferenz abgrenzen sowie sich bestimmten kulturellen Stilen zugehörig zeigen. Naruto – Material für Janas Identitätsarbeit Aus dem Medieninhalt Naruto zieht sich Jana für ihre Identitätsarbeit vor allem die Figur Sakura heraus – eine starke, sehr intelligente und beliebte Ninja-Schülerin. Für Jana ist Sakura eine Identifikationsfigur, aus der sie sich Handlungsund Deutungsmuster sowie Stoff für ihre Narrationsarbeit in Bezug auf ihr zentrales Identitätsprojekt einer starken, selbstbewussten, gebildeten und zugleich sozial anerkannten jungen Frau zieht. Sie dient ihr als Vorbild. Am besten gefällt ihr, als Sakura „auf eine Mission geht [..] um den Häuptling da zu retten […] Und da besiegt sie halt zusammen mit einer alten Frau so 'nen starken Typen.“ Jana findet das „total faszinierend, weil Ein von Fans erstelltes Naruto-Manga man denkt ja eigentlich: Ein Mädchen, das ist klein (Dojinshi) und schwach …“ Über wahrgenommene Parallelen zwischen den eigenen (authentischen) Eigenschafen und den Eigenschaften der Sakura, antizipiert Jana soziale Anerkennung. Die Geschichte der Sakura zieht sie auch heran, um sich selbst retro- und prospektiv zu beschreiben. Denn auch Sakura war nicht immer sehr beliebt: Als junge Schülerin wurde sie von Gleichaltrigen gehänselt, hat sich dann aber zu einer starken, anerkannten Ninja entwickelt. So bewundert Jana an ihr: „Die ist so steigerungsfähig. Das find ich immer so toll.“ Die Fähigkeit, sich zu steigern, nimmt sie auch bei sich selbst wahr und bezieht so den Weg von Sakura in ihre eigene Narrationsarbeit als Schablone mit ein: So hat sie sich z.B. in wenigen Jahren von einer mittelmäßigen Schülerin zur „Klassenbesten“ entwickelt und will sich – wie auch ihr Vorbild – weiter steigern. 15 http://www.mediaculture-online.de Den Charakter. die Lebensgeschichte und Fähigkeiten ihrer Identifikationsfigur Sakura arbeitet Jana sehr detailliert über den (programm- und ortsunabhängigen) Zugriff auf Manga- und Anime-Episoden sowie über den gezielten Zugriff auf Fanfiction-Angebote 4 im Internet, die die Lieblingsfigur und deren Geschichte weiterentfalten, heraus. Durch die Fanfiction sowie Beiträge in Fanforen kann Jana mit der Wahrnehmung und Bewertung der Figur durch andere Fans in Berührung kommen und vor diesem Hintergrund ihre eigenen Interpretationen reflektieren. Neben der Arbeit am zentralen ldentitätsprojekt der starken und beliebten jungen Frau bearbeitet Jana im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit Naruto weitere Identitätsfacetten. Am Inhalt Naruto gefällt ihr auch sehr, dass es „ganz viel darum geht wie das altertümliche Leben in Japan war.“ Die komplexe Naruto-Welt mit ihrer Samurai-Tradition fasziniert Jana und sie entwickelt auf dieser Grundlage ihr Interesse für asiatische Geschichte und Religion. Naruto ist für sie ein Ideengeber für den Entwurf, eine Studienreise nach Japan zu unternehmen und vielleicht sogar später in Asien zu leben. Bei der präferenzgeleiteten Aneignung von Naruto erarbeitet sie sich ein tiefgehendes Expertenwissen über den Medieninhalt Naruto und darüber hinaus über Japan im Allgemeinen. Hierfür saugt sie Informationen über Naruto auf wie ein Schwamm, rezipiert die jeweils aktuellsten Manga- und Anime-Erscheinungsformen und zieht ‚Insiderinformationen‘ aus Fanforen. Mit diesem Expertenwissen und dem Besitz von Mangaheften, Bildern, Soundtrack, etc., definiert sich Jana als Fan und fühlt sich sozial zugehörig und kompetent. Das konvergente Medienensemble als sozialer Raum für die Identitätsarbeit In der konvergenten Medienwelt können die aufgegriffenen medialen Inhalte über vielfältige interpersonal-kommunikative oder produktiv-gestaltende Äußerungsformen beund verarbeitet werden. Von Bedeutung für die Identitätsarbeit sind hier vor allem Prozesse des Selbstausdrucks, der Selbstpräsentation sowie der sozialen Integration. 4 Zu Fanfiction-Angeboten gehören neben geschriebenen Fanfiction-Geschichten zu Naruto vor allem sogenannte Dojinshis, von Laien gezeichnete (also nutzergenerierte) Mangas. 16 http://www.mediaculture-online.de • Selbstausdruck: Wenn sich die Subjekte über mediale Äußerungsformen selbst ausdrücken, setzen sie sich aktiv zu den präferierten Inhalten und in diesem Zuge zu den damit bearbeiteten Identitätsthemen in Beziehung. Die Äußerung (von Innerlichem) als Ergebnis im Prozess der Verarbeitung des Inhaltes ermöglicht es dem Subjekt, dem Geäußerten – wie einem Objekt – gegenüberzutreten. Dadurch werden neue Reflexionsprozesse in Gang gesetzt. Insbesondere bei der Produktion eigener Inhalte (z.B. Bilder, Videos, Textbeiträge) und Ausgestaltung eigener Präsentationsflächen (z.B. eigene Profile oder Blogs) fördern mediale Ausdrucksformen die (kreative) Verarbeitung von medialen Inhalten. Dies beinhaltet auch das eigenwillige Erweitern und Auslegen der angebotenen Narrationen und Figuren und eine noch enger an eigene Identitätsthemen geknüpfte Bearbeitung der präferierten Inhalte. • Selbstpräsentation: Mediale Äußerungsformen dienen, wenn sie anderen zugänglich gemacht werden, der Präsentation von Identitätsfacetten bzw. aktuellen Identitätsprojekten. Durch Reaktionen von anderen auf eigene mediale Produkte und Äußerungen zur Präferenz kann Aufmerksamkeit sowie Zustimmung oder Anregung und damit soziale Anerkennung erlebt werden. Damit können die eigene Verarbeitung bzw. ‚Interpretation‘ des Inhalts mit der des Gegenübers in Beziehung gesetzt und Reflexionsprozesse angestoßen werden. Eine spezifische, experimentelle Form der Selbstpräsentation anhand von Medieninhalten wird insbesondere in interaktiv-spielerischen medialen Räumen ermöglicht, weil hier auch bei einem Scheitern des Versuchs, soziale Anerkennung zu erlangen, kaum Konsequenzen für den sozialen Alltag entstehen. Die Subjekte können hier im Sinne eines Probehandelns Identitätsentwürfe und -projekte präsentieren, handelnd ausdifferenzieren und ihre Tauglichkeit in Bezug auf Authentizität und soziale Anerkennung überprüfen, bevor sie diese im Alltagshandeln umsetzen. • Soziale Integration: Äußerungsformen zur medialen Präferenz können auch dazu dienen, soziale Beziehungsarbeit zu leisten und sich sozial zu integrieren, also das Gefühl sozialer Einbettung und Zugehörigkeit zu erlangen. Hier kann die Äußerungsform zur Präferenz durchaus auch nur als ‚Mittel zum Zweck‘ fungieren. 17 http://www.mediaculture-online.de Janas Arbeit mit dem Naruto-Material im Raum der konvergenten Medienwelt Jana nutzt den Raum der konvergenten Medienwelt auf vielfältige Weise zur Identitätsarbeit mit ihrer Präferenz Naruto. Sie bringt ihre eigenen Identitätsthemen u.a. durch die Erstellung von Fanfiction zum Ausdruck. So hat sie z.B. eine Geschichte über eine NinjaPrüfung verfasst, mit der sie sich über ihre eigenen Werte der Solidarität und Gerechtigkeit Klarheit verschafft. Sie bearbeitet auch ihr Identitätsprojekt einer selbstbewussten, starken Frau, wenn sie beschreibt wie ihre weibliche Hauptfigur „den Sasuke befreit aus den Griffen von diesem bösen Orachimaru.“ Ihre eigenen Geschichten und Zeichnungen präsentiert Jana im Naruto-Fanforum, wo sie von anderen kommentiert werden: „Da sagen sie halt immer: gut. Also sie geben manchmal so konstruktive Kritik [...] Und das hilft mir eigentlich auch dabei, das besser zu machen.“ Durch das Feedback auf ihre Bilder erlebt Jana Aufmerksamkeit, fühlt sich verstanden in Bezug auf ihre Interpretation der Sakura und erhält zugleich noch Anregungen. um am Identitätsprojekt ‚Manga-Zeichnerin‘ zu arbeiten. Das Naruto-Forum ist für Jana ein Raum für den persönlichen Austausch, in dem sie aufgrund ihres Expertenwissens soziale Anerkennung erfährt, sogar von älteren Jungen. „z.B. mit diesem Madara, der halt 22 Jahre alt ist, hab ich halt immer philosophiert, wer z.B. der Vater von Naruto ist.“ Hier diskutiert sie über die Geschichten, Charaktere und die mediale Aufbereitung mit befreundeten und fremden Naruto-Fans. Dabei gehen die Gespräche oft über den Naruto-Inhalt hinaus. Diesen nutzt sie als Verbalisierungsrepertoire für den Austausch über persönliche Themen, wie u.a. ihre Liebesbeziehungen, und zur Präsentation eigener Identitätsfacetten. Als TV-Guide-Autorin baut sie auf der Auseinandersetzung mit der Anime-Erscheinungsform auf, präsentiert sich als sattelfeste Naruto-Expertin und versucht sich aus der Schar der Fans herauszuheben. Jana entwirft selbst textbasierte Rollenspiele (RPG) und spielt diese vor allem mit ihrer besten Freundin. Die Naruto-Welt gibt ihr den Rahmen für das „virtuelle“ Handeln vor, bei dem sie eigene Identitätsthemen bearbeitet. Dazu hat Jana die Figur der Seiuri kreiert, die (in Anlehnung an Sakura) „eigentlich so die Überfliegerin ist, die immer in allem die Beste war. […] aber war halt unbeliebt und hat sich halt so ein bisschen abgekapselt, bis ihre beste Freundin halt kam.“ Hier verarbeitet Jana ihre eigene Biografie unter Rückgriff auf das Naruto-Material. Und hier erprobt sie zusammen mit ihrer Freundin Handlungen, mit 18 http://www.mediaculture-online.de denen sie soziale Anerkennung und Authentizität zugleich erlangen kann. „Dann sind sie halt weggegangen in ein anderes Dorf und da hatten sie halt die Leute nicht mehr“, erklärt Jana den Fortgang der Geschichte im eigenen RPG. Seiuri und ihre Freundin haben sich selbst neue Kontexte sozialer Anerkennung gesucht – ebenso wie Jana, wenn sie sich im sozialen Raum Internet bewegt. Denn über kommunikative sowie produktiv-gestaltende Äußerungsformen zu Naruto hat sich Jana vielfältige soziale Bezüge geschaffen, Kontakte zu Gleichgesinnten aufgebaut und ihre besten Freunde kennen gelernt, mit denen sie sich auch außerhalb des Netzes trifft. Für sie ist klar, warum sie kommunikativ und produktiv-gestaltend im Netz tätig ist: „Das bringt halt soziale Kontakte oder steigert das Selbstbewusstsein.“ Auf Basis der sozialen Beziehungsarbeit wird sie im Forum sehr aktiv. Sie übernimmt Verantwortung für inhaltliche Beiträge, nimmt eine Moderatorinnenrolle ein, entwickelt ihre Expertise weiter und kann sich über dieses Engagement als kompetent und selbstwirksam, vor allem aber als sozial integriert und anerkannt erleben. Janas FanartZeichnung der Figur Sakura und zwei Kommentare dazu Fazit Am Einzelfall der 15-jährigen Jana und ihrer präferenzgeleiteten Medienaneignung wurde gezeigt, auf welche Weise das konvergente Medienensemble gezielt und individuell – also ausgerichtet an den subjektiven Interessen, Themen und Kontexten – von Heranwachsenden für ihre Identitätsarbeit herangezogen werden kann. Der Internet-PC ist dabei die zentrale Schaltstelle. Jana greift aus verschiedenen Erscheinungsformen zu ihrer NARUTO-Präferenz Material heraus. Dieses vielgestaltige Material nutzt sie, um ihre 19 http://www.mediaculture-online.de Identitätsarbeit zu vertiefen und auszudehnen, mehrere Identitätsaspekte miteinander verknüpft zu bearbeiten und aus unterschiedlichen Perspektiven in Augenschein zu nehmen sowie Expertise zur Präferenz auszubilden. Im medialen Raum erweitert sie die Auseinandersetzung mit dem Material über verschiedene Äußerungsformen, in denen sie das Material stärker mit den eigenen Identitätsthemen versieht, mit Hilfe ihrer Präferenz ihre Identitätsarbeit zum Ausdruck bringt. Das Internet ist für Jana vor allem ein Raum der sozialen Interaktion. Über die Reaktionen anderer auf ihre präferenzbezogenen Äußerungen verarbeitet sie nicht nur die Medieninhalte, sie nutzt die Präferenz zugleich gezielt, um soziale Anerkennung für ihre Identitätsfacetten und -projekte zu bekommen. Die Spannung zwischen Authentizität und sozialer Anerkennung ist im medialen Raum vergleichsweise gering: Hier kann sie subjektiv authentisch handeln (als selbstbewusste, starke, gebildete Frau und als NARUTO-Fan) und sie erlangt daraufhin Anerkennung. Eine Entgegensetzung der vermeintlich ‚virtuellen‘ Internetwelt und der ‚realen‘ Welt besteht dabei aber nicht: ‚virtuell‘ ist zugleich sozial-real. Denn nicht zuletzt finden vielfältige Transferprozesse zwischen medialem und ‚realem‘ Handeln statt, z.B. dann, wenn Janas Internetbekanntschaften zu engen Freundschaften werden, die auch im direkten sozialen Kontakt gelebt werden, oder wenn sie das aus dem Internethandeln geschöpfte Selbstvertrauen auch auf andere soziale Beziehungen bezieht. Festzuhalten ist, dass die konvergente Medienwelt bei Weitem nicht nur eine Vervielfachung der Zuwendung zu Inhalten ermöglicht, sondern insbesondere der (mediale) soziale Raum, der sich hier entfaltet, die Bedeutung von Medien für die Identitätsarbeit grundlegend verändert. Die Identitätsrelevanz einer medialen Präferenz steigt mit dem Zugriff auf das konvergente Medienensemble. Nur wenige Heranwachsende greifen so umfassend wie Jana auf das konvergente Medienensemble zu. Fast alle aber verfolgen einen präferierten Inhalt über verschiedene Erscheinungsformen bzw. unterschiedliche Mediengeräte (vgl. Schorb u.a. 2008, 2009b; Wagner/Theunert 2006). Insbesondere das Internet mit seinen vielfältigen Angeboten bzw. Erscheinungsformen ist von zunehmender Bedeutung. Jedoch verarbeitet nur ein Teil der Heranwachsenden präferierte Medieninhalte umfassend über mediale Äußerungsformen. Die Ergebnisse des Medienkonvergenz Monitoring verweisen darauf, dass insbesondere solche Jugendliche ihre medialen Präferenzen über die ganze Breite des konvergenten Medienensembles verfolgen, die dies als sozialen Raum, der das 20 http://www.mediaculture-online.de direkte soziale Umfeld zielgerichtet zu erweitern vermag, aufgrund ihrer lebensweltlichen Situation wünschen und zu gebrauchen wissen. Aber auch insgesamt zeichnet sich ab, dass mit wachsender Bedeutung und Veralltäglichung der Web 2.0-Nutzung Äußerungsformen im Rahmen der präferenzgeleiteten Medienaneignung (und Identitätsarbeit) relevanter werden. So ist die Selbstpräsentation im Rahmen von Netzwerkplattformen wie SCHUELERVZ unter Zugriff auf mediale Präferenzen (z.B. über Bilder, Gruppenmitgliedschaften etc.) für viele bereits selbstverständlich (vgl. Schorb u.a. 2009a). Die konvergente Medienwelt wird somit für Jugendliche ein immer wichtigeres Terrain der Identitätsarbeit (vgl. auch Schorb 2006). Das Verfolgen von medialen Präferenzen über das konvergente Medienensemble hinweg kann per se weder positiv noch negativ im Hinblick auf eine gelingende Identitätsarbeit und Lebensführung bewertet werden. Die konvergente Medienwelt fungiert hier vielmehr als Verstärker (vgl. Theunert 2006). Förderliche ebenso wie problematische Medienvorlieben und sich daran ausbildende Identitätsfacetten können erweitert und vertieft werden. Bemerkenswert bleibt das Potenzial, welches mit der Perspektivenerweiterung sowie mit kreativen Ausdrucksformen und dem diskursiven Aushandeln im medialen sozialen Raum verbunden ist. Welche konkrete Bedeutung das konvergente Medienensemble einnimmt, entscheidet sich jeweils im konkreten Einzelfall. Daher muss die Aneignung konvergenter Medienwelten in ihrer ganzen Komplexität und im Zusammenhang mit persönlichen und sozialen Kontexten stärker in den Blick genommen werden. Insbesondere ist herauszuarbeiten, wie konvergente Aneignungsmuster mit jugendkulturellen Szenen und sozialen Lagen und Milieus korrespondieren (vgl. Wagner 2008). Literatur Baacke, Dieter (1999). Jugend und Jugendkulturen. Darstellung und Deutung. Weinheim, München: Juventa. 21 http://www.mediaculture-online.de Barthelmes, Jürgen/Sander, Ekkehard (2001). Erst die Freunde, dann die Medien. Medien als Begleiter in Pubertät und Adoleszenz. Medienerfahrungen von Jugendlichen, Band 2. München: Verlag Deutsches Jugendinstitut. Beck, Ulrich (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Charlton, Michael/Neumann-Braun, Klaus (1990). 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