Fall 5

Prof. Dr. Frank Saliger
Übung im Strafrecht
für Anfänger
Sommersemester 2015
Einheit 5
6. Mai 2015
Unterlassen
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Sachverhalt
Teil 1
Das Ehepaar Anna (A) und Bertram (B) macht auf der Insel Juist Urlaub. Als B eines
Abends einen Spaziergang in den Dünen macht, kommt ihm zufällig sein Nachbar (N)
entgegen, mit dessen Frau B eine Affäre hatte. N stürzt sich wütend auf B und beginnt
sogleich, auf ihn einzuschlagen. Um sich vor dem körperlich stark überlegenen N zu
schützen, sieht B zu Recht keine andere Möglichkeit, als sein Taschenmesser zu ziehen
und mit bedingtem Tötungsvorsatz ungezielt auf N einzustechen. N bricht zusammen.
Obwohl B zutreffend davon ausgeht, dass N in Lebensgefahr ist und baldiger Hilfe
bedarf, unternimmt er nichts. Auf seinem Heimweg wird er vom Wanderer (W)
eingeholt, der ihm aufgeregt berichtet, er habe einen schwer blutenden Mann gesehen,
und ihn nach der nächsten Möglichkeit zu telefonieren fragt. B erklärt dem W, er (B)
habe schon das Notwendige veranlasst. Da W ziemlich erschöpft und ortsunkundig ist,
gibt er sich damit zufrieden und setzt seinen Weg fort. In Wahrheit hatte B keinen
Augenblick daran gedacht, für die erforderliche Hilfe zu sorgen, obwohl es ihm ein
Leichtes gewesen wäre, mit seinem Handy einen Notarzt zu rufen. N stirbt, wäre aber
gerettet worden, wenn N oder W den Notarzt verständigt hätten.
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Das Unterlassungsdelikt:
Prüfungsaufbau
I.
Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a. Erfolg
b. Nichtvornahme der gebotenen
Rettungsmöglichkeit trotz physisch realer
Handlungsmöglichkeit
c. Quasi-Kausalität
d. Objektive Zurechnung
e. Entsprechungsklausel, § 13 I a.E.
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2. Subjektiver Tatbestand
Besonderheit: Irrtum über die Garantenstellung gem.
§ 16 I 1  Täter irrt sich über tatsächliche
Umstände, z.B. darüber, dass das ertrinkende Kind
sein eigenes ist
II. Rechtswidrigkeit
1. Allgemeine Rechtfertigungsgründe
2. Rechtfertigende Pflichtenkollision
III. Schuld
1. Allgemeine Schuldausschließungs- und
Entschuldigunsgründe
2. Zumutbarkeit normgemäßen Handelns
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3. Besonderheit: Irrtum über die Garantenpflicht
gem. § 17 S. 1 (Verbotsirrtum)  Täter irrt sich
über die rechtliche Einstufung, z.B. darüber, dass
auch ein nicht sorgeberechtiger Elternteil Garant für
das Leben des Kindes ist
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Teil 1
A. Strafbarkeit des B gem. § 212 I wegen
Niederstechens des N
I.Tatbestand
1.Objektiver Tatbestand
2.Subjektiver Tatbestand
II.Rechtfertigung
Rechtfertigung wegen Notwehr gem. § 32?
1.Notwehrlage
Gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff des N auf die
körperliche Unversehrtheit des B
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2. Notwehrhandlung
a. Erforderliche Verteidigung
Niederstechen des N war einzige Möglichkeit
b. Gebotenheit
3. Subjektives Rechtfertigungselement
III. Ergebnis
B. Strafbarkeit des B gem. §§ 212 I, 13 I wegen
Liegenlassens des N
I. Tatbestand
1. Objektiver Tatbestand
a. Erfolg
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b. Nichtvornahme der gebotenen Rettungshandlung
B hätte leicht per Handy einen Notarzt verständigen und
N so retten können, tat es aber nicht
c. Quasi-Kausalität
Der Anruf beim Notarzt könnte nicht hinzu gedacht
werden, ohne dass der Tod des N mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit entfiele.
d. Garantenstellung
P: Ingerenz bei Rechtfertigung des Vorverhaltens durch Notwehr?
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Pro:
•Notwehr bietet sehr weite Befugnisse, aber nur solange der Angriff gegenwärtig ist  Lebensgefahr nicht
mehr gerechtfertigt
•Weite des Notwehrrechts so umfassend, dass späteres Helfen dem Angegriffenen auch zumutbar ist
Contra:
•Das Vorverhalten, das die Gefahr auslöst, war das
Niederstechen und dieses war gerechtfertigt und damit
nicht pflichtwidrig
•Der Angreifer hat seine Gefährdung selbst ausgelöst
und kann von seinem Opfer keine Hilfe erwarten
II.Ergebnis
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C. Strafbarkeit des B gem. § 323c wegen
Liegenlassens des N
I.Tatbestand
1.Objektiver Tatbestand
a.Unglücksfall
Unglücksfall: plötzlich eintretendes Ereignis, das eine
erhebliche Gefahr für ein Individualrechtsgut herbeiführt
b.Unterlassen von Hilfe
c.Zumutbarkeit
P: Zumutbarkeit nach vorangegangener
Notwehr
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Pro:
•Weite des Notwehrrechts rechtfertigt Aufrechterhaltung der allgemeinen Solidaritätspflicht
•Gefahr eines weiteren Angriffs, Verwirrung etc. können
im individuellen Fall einbezogen werden
Hier: N war gleichgültig
Contra:
•Angreifer hat Gefahr selbst verursacht und kann keine
Hilfe von seinem Opfer verlangen
2.Subjektiver Tatbestand
II.Rechtswidrigkeit
III.Schuld
IV.Ergebnis
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D. Strafbarkeit des B gem. § 212 I wegen
„Wegschickens“ des W
I.Tatbestand
1.Objektiver Tatbestand
a.Handlung
Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs  aktives
Tun, Handlung (+)
b.Erfolg
c.Kausalität + objektive Zurechnung
II.Rechtswidrigkeit + Schuld
III.Ergebnis
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Sachverhalt
Teil 2
Am nächsten Tag unternehmen A und B auf eigene Faust eine Wattwanderung. Dabei gesteht B der
A seine Affäre. A ist entsetzt. Als B unversehens mit dem Fuß in einem schlammigen Priel stecken
bleibt, meint A, dass dies die gerechte Strafe des Himmels sei und geht weiter. Dabei erwartet sie,
dass B von der Flut eingeholt wird, hält es aber für gut möglich, dass er sich noch rechtzeitig befreit.
Sie nimmt aber auch seinen Tod durch Ertrinken billigend in Kauf. Sie lässt sich auf der
Strandpromenade nieder und sieht zu, wie langsam die Flut kommt. Sie beobachtet genüsslich, wie
das Wasser erst über das Knie und dann über die Hüfte des B steigt und er sich vor Angst windet.
Als sie jedoch sieht, wie das Wasser unaufhörlich in Richtung Kinn steigt, merkt sie, dass B sich
wohl nicht mehr wird befreien können. Sie bekommt plötzlich Mitleid und denkt außerdem, dass B
seine Lektion wohl gelernt habe. Sie ruft daher die Wasserwacht, die den B gerade noch rechtzeitig
befreien kann.
Wie hat sich A nach dem StGB strafbar gemacht? § 211 (Mord), § 221 (Aussetzung), §§ 223 ff.
(Körperverletzungsdelikte) und §§ 239 ff. (Freiheitsdelikte) sind nicht zu prüfen.
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Teil 2
A. Strafbarkeit der A gem. § 212 I, 13 I, 22, 23 I
wegen Zurücklassens des B im Watt
Vorprüfung
Nichtvollendung + Strafbarkeit des Versuchs,
§§ 12 I, 23 I
I.
Tatbestand
1. Tatentschluss
= Vorsatz bzgl. aller objektiver Tatbestandsmerkmale
2. Unmittelbares Ansetzen
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= wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum „Jetzt
geht‘s los“ überschritten hat und sein Handeln nach
seiner Vorstellung ohne wesentliche
Zwischenschritte in die Tatbestandsausführung
münden wird
P: Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens beim
Unterlassungsdelikt
1. Ansicht: Verstreichenlassen der ersten
Rettungsmöglichkeit
Gegenargumente:
• Versuchsbeginn regelmäßig bevor Gefahr für das
Rechtsgut eintritt
• Versuchsbeginn regelmäßig früher als beim
Begehungsdelikt, das höheres Unrecht darstellt
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Hier (+), A hätte sofort die Wasserwacht verständigen
oder ggf. B noch selbst aus dem Priel befreien können
2. Ansicht: Verstreichenlassen der letzten
Rettungsmöglichkeit
Gegenargument:
• Versuchsbeginn fällt regelmäßig mit der Vollendung
zusammen  entspricht nicht der normalen
Deliktsstruktur
Hier (-), die Rettung ist noch gelungen, so dass die
letzte Rettungsmöglichkeit nicht verstrichen sein konnte
3. Ansicht (h.M.): Zeitpunkt, in dem eine ernsthafte
Gefahr für das Rechtsgut eintritt
Hier: Wasser näherte sich schon dem Kinn des B, das
Ertrinken stand unmittelbar bevor
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II. Rechtswidrigkeit
III. Schuld
IV. Rücktritt
1. Kein Fehlschlag
Der Versuch ist fehlgeschlagen, wenn der Täter den
Erfolg nicht mehr ohne wesentliche Zäsur
herbeiführen kann.
P (Exkurs): Einzelaktstheorie, Tatplantheorie oder
Gesamtbetrachtungslehre
Hier: A hätte einfach warten können, dann wäre B
ertrunken  kein Fehlschlag
2. Außertatbestandliche Zielerreichung
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P: Rücktritt trotz außertatbestandlicher
Zielerreichung möglich?
Exkurs: Ratio der Rücktrittsmöglichkeit
• Kriminalpolitische Gründe: Rücktritt als „goldene
Brücke“ zurück ins Recht
• Verdienstlichkeit: Täter soll für Rückkehr ins Recht
belohnt werden
• Opferschutz
• Strafzwecke: Bestrafung des zurückgetretenen Täters
dient nicht mehr der Prävention
Contra:
• Täter hat sein eigentliches Ziel erreicht und verdient
die Privilegierung der Straflosigkeit nicht
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• Weiterhandeln ist nicht Aufgabe alten, sondern Verwirklichung neuen Unrechts
Pro:
• Wortlaut des § 24: Tat gem. § 11 I Nr. 5 ist nur der
gesetzliche Tatbestand  nur dieser und nicht das
Erreichen außertatbestandlicher Ziele darf relevant
sein
• Opferschutz
• Ablehnung der Rücktrittsmöglichkeit privilegiert gefährlicheren Täter, der absichtlich den Erfolg herbeiführen möchte, gegenüber dem, der nur bedingt vorsätzlich handelt
3. Taugliche Rücktrittshandlung
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P: Unterscheidung zwischen beendetem
Versuch und unbeendetem Versuch beim
Unterlassungsdelikt möglich und sinnvoll?
1. Ansicht: (+), unbeendet, wenn Täter nur die
ursprüngliche Handlung nachholen muss, beendet,
wenn zusätzliche Rettungsmaßnahmen nötig sind
2. Ansicht: (-), es ist ohnehin die zurechenbare
Verhinderung des Erfolgs durch aktive Handlung
notwendig
 A hat B durch Rufen der Wasserwacht gerettet
4.Freiwilligkeit
Autonome Motive (h.M.) vs. Verbrechervernunft
V.Ergebnis
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Das versuchte Unterlassungsdelikt:
Prüfungsaufbau
Vorprüfung
I.Tatbestand
1.Tatentschluss
a.Bzgl. des Erfolgs
b.Bzgl. der Nichtvornahme der gebotenen
Rettungsmöglichkeit trotz physisch realer
Handlungsmöglichkeit
c.Bzgl. der Quasi-Kausalität
d.Bzgl. der objektiven Zurechnung
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e. Bzgl. der Entsprechungsklausel, § 13 I a.E.
2. Unmittelbares Ansetzen
P: Unmittelbares Ansetzen beim Unterlassungsdelikt
•
Verstreichenlassen der ersten Rettungsmöglichkeit
•
Verstreichenlassen der letzten Rettungsmöglichkeit
•
Eintritt einer konkreten Gefahr für das Rechtsgut
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III. Schuld
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1. Schuldausschließungs- und
Entschuldigungsgründe
2. Zumutbarkeit normgemäßen Handelns
3. Ggf. § 17 S. 1
IV. Rücktritt
1. Kein Fehlschlag
2. Taugliche Rücktrittshandlung
P: Möglichkeit der Unterscheidung zwischen
beendetem und unbeendetem Versuch?
3. Freiwilligkeit
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