Stolz und Scham in Matera

Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 30. Mai 2015 - 11:05-12:00 Uhr
Stolz und Scham in Matera –
Geschichten eines Aufstiegs in Süditalien
Mit Reportagen von Kirstin Hausen
Redaktion und Moderation: Katrin Michaelsen
Musikauswahl: Babette Michel
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- unkorrigiertes Exemplar –
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„Von den Höhlenwohnungen in Matera will ich nichts wissen. Dort bin ich geboren, im
Dreck, im Elend, unsere Wohnung hier hatte drei Zimmer und einen Stall.“
„Es gab eine klare Abgrenzung zwischen denen, die in der Oberstadt wohnten und denen,
die unten in den Sassi lebten. Das war auch ein kultureller Unterschied. Es galt das
ungeschriebene Gesetz, dass die von oben niemanden von unten heirateten und umgekehrt,
es waren zwei getrennte soziale Gruppen.“
„Matera war ein netter Ort, aber wenn du 20 Jahre alt bist und ehrgeizig, dann willst du im
Leben was erreichen und das war hier deutlich schwieriger als woanders.“
Stolz und Scham in Matera – Geschichten eines Aufstiegs in Süditalien.
Gesichter Europas mit Reportagen von Kirstin Hausen. Am Mikrofon Katrin
Michaelsen
Matera liegt tief im Süden, im Landesinneren. In der Region Basilikata,
eingeklemmt zwischen Apulien und Kalabrien. Dort wo Italien schmal ist und
einsam. 244 Kilometer östlich von Neapel, 63 Kilometer südlich von Bari.
60.000 Einwohner hat Matera. Menschen gibt es hier schon seit der
Jungsteinzeit. Das Gebiet war durchgängig besiedelt, wohl auch weil es
wasserreich ist. Zwar ist der Wasserlauf „Gravina di Matera“ eher ein Bach als
ein Fluss. Aber er hat sich unermüdlich durch den Tuffstein gefressen und eine
Schlucht geformt, in die Materas Bewohner herabschauen. In den Wänden
dieser Schlucht, in den weichen Tuffstein legten Menschen einst Wohnhöhlen
an. Inmitten einer karstigen Gegend finden sich früheste Spuren menschlicher
Ansiedlungen und Felsenkirchen, die zwischen dem 8. und 10. Jahrhundert
entstanden. Und das nicht nur in Matera. Über 8000 Hektar erstreckt sich eine
spektakuläre Steinlandschaft und konnte erhalten werden, dank eines Gesetzes
der Region Basilikata aus dem Jahr 1976. Der naturhistorische „Parco della
murgia materana“ wird heute von Schulklassen aus ganz Italien besucht. Aber
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auch die Kinder aus der Umgebung sind eingeladen, das immense
kulturgeschichtliche Erbe ihrer Heimat kennenzulernen.
REPORTAGE 1
36 Schulkinder, vier Lehrerinnen, zwei Mütter und ein Busfahrer stehen vor Antonio
Montemurro, dem didaktischen Leiter im Zentrum für Umwelterziehung „Centro Educazione
ambientale“. Jeder hat eine Frage. Wo die Toiletten sind, wo man das Butterbrotpapier
entsorgen kann, wo der Bus sicher steht und ob es vor Ort einen Erste-Hilfe-Raum gibt, sollte
es jemandem schlecht werden in der Mittagshitze.
„Wir wollen unseren Besuchern, ob gross oder klein, diese Gegend näher bringen, durch
Informationen, aber auch durch Emotionen
Der Mittfünfziger streicht sich den braunen, ausgeleierten Pullover glatt, zupft an seinem
dunklen Bart, dann scheucht er alle nach draußen und teilt die Kinder in Gruppen ein.
Atmo Antonio spricht, alles lacht
„Ich freue mich immer sehr über die Schulklassen, besonders wenn sie wieder abfahren“, sagt
Antonio und zwinkert zwei Frauen zu, die sich für die Führung durch den Naturpark bereit
machen. Flavia und Anna wechseln einen vielsagenden Blick. Sie kennen ihren Chef nach
mehr als zehn Jahren Zusammenarbeit nur zu gut. Antonio wirkt anfangs ruppig, hat aber ein
Herz aus Gold. Flavia und Anna machen sich noch rasch einen Espresso.
Atmo Flavia und Anna
Atmowechsel zu Kindergruppe
Draußen spielen drei Jungen improvisiertes Boccia, mit herumliegenden Steinen. Sie sind
sandfarben, wie die Mauern der „Masseria Radogna“. Diese einsame Behausung mitten in der
karstigen Landschaft sieht aus wie eine kleine Festung aus Naturstein mit winzigen Fenstern.
Sie stammt aus dem 14. Jahrhundert und diente bis vor 80 Jahren einer adligen Familie aus
Matera als Sommerresidenz. Erreichbar war sie nur auf Maultieren oder zu Fuß,
Pferdefuhrwerken drohte ein Achsenbruch auf den steinigen Pfaden. Heute ist die Masseria
Ausgangspunkt für Entdeckungstouren in den Naturpark.
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Atmo Anna spricht
Parkführerin Anna schart ihre Gruppe in einem Halbkreis um sich und verteilt Karten und
selbstklebende Fotos an die Kinder. Auf einem ist die Masseria abgebildet. Das wird sofort an
der richtigen Stelle aufgeklebt. Die übrigen vier Felder sind noch leer. Neugierig schauen sich
die Kinder um, ihr Forschergeist ist geweckt.
Atmo Anna zu Pflanzen
Anna nennt die Namen der heimischen Pflanzen, stachlige Büschel in Kniehöhe. Sie zerreibt
wilden Thymian zwischen den Fingern und lässt die Kinder es ihr nachtun. Der Geruch ist
unverwechselbar.
Plötzlich bleibt Anna stehen und zeigt auf einen doppelten Steinkreis, in dessen Mitte sich
eine schmale, von Menschenhand geschaffene, Öffnung auftut, die in eine unterirdische
Höhle führt. Schon liegt ein Junge auf dem Bauch und robbt sich an die Öffnung heran. Seine
Klassenlehrerin hält ihn am Rucksack zurück.
Atmo Lehrerin schimpft
Anna schmunzelt und erklärt, dass sie vor einer Grabstätte aus der Bronzezeit stehen.
Atmo Anna: tomba dell età del bronzo
Dann macht sie einen Schritt zurück und fragt nach Hinweisen auf eine steinzeitliche
Ansiedlung, die es hier gegeben hat. Eifrig beginnen die Kinder zu suchen. 13 solcher
Siedlungen gibt es im Park, gefunden wurden sie von einem Hobbyarchäologen Anfang des
19.Jahrhunderts. Anna hilft nach und fragt, was denn die Steinzeitmenschen auszeichnete.
Atmo Junge
„Sie sind sesshaft, sie ziehen nicht mehr umher und werden Bauern“ ruft Oreste. Seine
Lehrerin nickt anerkennend.
Atmo Anna
„Und deshalb müssen sie sich und ihre Felder vor den wilden Tieren schützen“ ruft Anna und
zeigt auf einen klar erkennbaren Graben, der weit um die Schulklasse herum verläuft.
Atmo Kinder
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Die Kinder suchen nach dem Foto des Grabens und kleben es auf ihre Karte. Sie sind ganz bei
der Sache und folgen Anna begierig zur nächsten Entdeckung, einer Felsenkirche aus dem
Hochmittelalter.
„Felsenkirche bedeutet, dass Menschen diese Kirche aus dem Felsen herausgeschlagen
haben. Schaut euch mal um, seht ihr hier Mauern oder Fenster? Nein. Der Raum in dem
wir stehen, ist eine Höhle, die Menschen gegraben haben. Hier gibt es mehr als 150 dieser
Kirchen, die wir Felsenkirchen nennen.“
Die Kinder sind beeindruckt und stehen eng beieinander, damit alle Platz haben. Der Raum
misst etwa 20 Quadratmeter. Die Wände sind uneben und rau.
„Dieses Gestein ist sehr kalkhaltig, daher lässt es sich leicht bearbeiten. Früher war hier
das Meer und wo wir jetzt stehen der Meeresboden. Mit ein bisschen Glück finden wir
sogar noch Muschelfossilien in den Wänden. Dass wir uns in einer Kirche befinden,
erkennen wir an den Bögen und eingeritzten Kreuzen und an den Fresken. Wisst ihr, was
Fresken sind?“
Atmo
Oh ja, das wissen die Viertklässler sehr genau. Die Lehrerinnen platzen fast vor Stolz und
schauen sich die Fresken im hinteren Teil der Felsenkirche genauer an. Die Schüler drängen
dagegen ins Freie, angezogen von Kuhglockengeläute, das sich rasch nähert.
Atmo
Graue, eher kleine Kühe mit Hörnern schauen neugierig auf die Gruppe, dann widmen sie
sich wieder den Grasbüscheln zwischen den Steinen. Die Tiere sind perfekt an ihre
Umgebung angepasst und ziehen ohne Hirten, nur von zwei Hunden begleitet, frei herum. Die
Gesichter der Schulkinder glühen, von der Sonne und von den vielen Eindrücken.
Erschöpfung macht sich breit. Roberto hat sich das Knie aufgeschürft, Greta braucht ein
Taschentuch, Filippo hat Hunger und Simona muss auf die Toilette. Anna gibt den
Lehrerinnen ein Zeichen: Schluss für heute. Es geht zurück zum Ausgangspunkt, der Masseria
Radogna.
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Matera und die Region Basilikata waren vielen Italienern bis nach dem zweiten
Weltkrieg kein Begriff. Fast niemand wusste etwas von den Felsenkirchen und
den Fresken, die ihre Wände aus Tuffstein schmückten. Die Kirchen
verwahrlosten, wurden als Ställe für Tiere genutzt und später auch als
Behausungen für mehrere Familien. Man lebte auf engstem Raum. Seite an Seite
mit Eseln, Schweinen und Hühnern. Es waren katastrophale
Lebensbedingungen, die sich dem Arzt und Schriftsteller Carlo Levi boten, als
er in diese verlassene Gegend kam. 1945 veröffentlichte Carlo Levi seine
Schilderungen über die Zustände in Matera.
LITERATUR 1
In einiger Entfernung vom Bahnhof kam ich auf eine Straße, die nur auf einer Seite von alten
Häusern gesäumt war und auf der anderen an einem Abgrund entlangführte. In diesem
Abgrund lag Matera. Aber von dort oben sah man fast nichts, weil der außerordentlich steile
Hang beinah senkrecht abfällt. Als ich mich hinabbeugte, sah ich nur Terrassen und Pfade,
die den Ausblick auf die darunterliegenden Häuser verdeckten. Gegenüber erhob sich ein
Berg von hässlicher, grauer Farbe ohne die Spur einer Anpflanzung und ohne einen einzigen
Baum, nichts als Erde und Steine in der prallen Sonne. Ganz unten floss ein Gießbach, die
Gravina, mit nur spärlichem, verschlammtem Wasser auf dem Kiesgrund. Fluss und Berg
wirkten düster und böse, so dass es einem das Herz zusammenzog. Die Schlucht hatte eine
merkwürdige Form: wie zwei halbe Trichter nebeneinander, die durch einen kleinen
Vorsprung getrennt sind und sich unten in einer gemeinsamen Spitze vereinigen. (…)Diese
umgekehrten Kegel, die Trichter heißen Sassi: Sasso Caveóso und Sasso Barrisáno. Sie sind
so geformt, wie wir uns in der Schule die Hölle Dantes vorgestellt haben. (…) Es sind Höhlen,
die man in die verhärtete Lehmwand der Schlucht gegraben hat: Jede hat vorn eine Fassade.
Die Türen standen wegen der Hitze offen, und ich sah in das Innere der Höhlen, die Licht und
Luft nur durch die Türe empfangen. Einige besitzen nicht einmal solche, man steigt von oben
über Falltüren oder Treppchen hinein. In diesen schwarzen Löchern mit Wänden aus Erde,
sah ich Betten, elenden Hausrat und hingeworfene Lumpen.
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„Christus kam nur bis Eboli“ ist ein Klassiker des italienischen Neorealismus,
und eine literarische Dokumentation des „mezzogiorno“, des Südens. Der
Roman beschreibt die ungeschminkte Wirklichkeit. Der Titel bezieht sich auf
ein Sprichwort, mit dem die Menschen ihre eigene Rückständigkeit begründen:
Gott hat es nicht bis in die Berge der Basilikata geschafft, deshalb ist hier die
Zeit, deshalb sind hier die Sitten auf einem vorchristlichen Niveau stehen
geblieben. Was Carlo Levi aufschrieb, wurde im hochpolitisierten Italien der
Nachkriegszeit sofort zur „Chefsache“. Der christdemokratische
Ministerpräsident Acìde de Gàspari nannte Matera „den Schandfleck Italiens“
und versprach großzügige Hilfe aus Rom. Dahinter steckte auch ein Kalkül:
Denn das Elend im rückständigen Süden hätte den Kommunisten in die Hände
spielen können. Und so wurden die Sassi von Matera kurzerhand als Eigentum
des Staates deklariert und zugemauert. Die Bewohner zogen in neu errichtete
Siedlungen in der Umgebung, die ihnen vom Staat zugeteilt wurden. Manche
waren darüber erfreut, manche nicht.
REPORTAGE 2
Atmo aus Kaffeehaus am morgen
Ein ofenfrisches Croissant ohne Füllung und ein Espresso: schwarz, kein Zucker. Luigi Festa
frühstückt wie jeden Sonntagmorgen in der Pasticceria Schiuma, einer der besten und ältesten
Konditoreien von Matera. Die Frau des Konditors begrüßt ihn mit einem strahlenden Lächeln,
dann lässt sie ihn an seinem Stammplatz in Ruhe die Zeitung lesen. Luigi Festa ist Mitte 80,
eher klein, hat dunkelbraune Augen und einen neugierigen, wachen Blick.
„Ich war ein lebhaftes Kind, meine Mutter band mich in ihrer Verzweiflung sogar am
Bettposten an.“
Luigi Festa ist in bitterer Armut aufgewachsen, in einer der Höhlenwohnungen von Matera,
die heute Weltkulturerbe sind. In den 50er Jahren waren sie feucht-kalte, dunkle
Behausungen, teilweise so niedrig, dass man nur geduckt darin stehen konnte. Hier lebten
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Menschen und Tiere auf engstem Raum zusammen. Wer einen Esel oder ein Schwein hatte,
konnte sich glücklich schätzen. Luigis Familie hatte nur zwei Hühner.
„Ich hatte noch eine kleine Schwester, meine Mutter ging arbeiten, weil mein Vater im
Krieg gefallen war und sie ganz allein für uns sorgen musste. Sie konnte weder lesen noch
schreiben, aber sie schaffte es, in der Küche des Krankenhauses angestellt zu werden. Sie
war den ganzen Tag dort und wir Kinder blieben allein. Zum Glück gab es damals eine
große Solidarität in der Nachbarschaft, eine Nachbarin kochte für uns, eine andere wusch
unsere Kleider, nur dieser starke Zusammenhalt machte das Überleben möglich.
Es sind dramatische Erinnerungen, aber Luigi Festa spricht gerne über seine Kindheit in den
sassi. Es war nicht die schlechteste Zeit seines Lebens, sagt er heute im Rückblick. So einen
starken Gemeinschaftssinn hat er später nie wieder erlebt. Es war der Gemeinschaftssinn der
Ausgeschlossenen, die unterhalb des Felsplateaus lebten, auf dem sich die Stadt entwickelt
hatte.
„Es gab eine klare Abgrenzung zwischen denen, die in der Oberstadt wohnten und denen,
die unten in den Sassi lebten. Das war auch ein kultureller Unterschied. Es galt das
ungeschriebene Gesetz dass die von oben niemanden von unten heirateten und umgekehrt,
es waren zwei getrennte soziale Gruppen.“
Die meisten Bewohner der Sassi waren Tagelöhner, die sich auf den Feldern in der
Umgebung verdingten, oder sie besassen selbst ein Stückchen Land. Auch Handwerker und
Krämer gab es, die ihre Waren auf der Straße feilboten. Sie alle nahmen die soziale
Ausgrenzung hin als sei sie ein gottgewolltes Schicksal. Sie kamen höchstens für
Handlangerdienste in die Häuser der Bessergestellten. Giovanni Festa lehnte sich dagegen auf
– schon als Kind.
„Als ich so 12, 13 Jahre alt war, versuchte ich, gemeinsam mit meinen Freunden aus der
Nachbarschaft, die Oberstadt zu erreichen. Ich wohnte genau unterhalb eines schönen
Aussichtsplatzes und wollte dort hinauf, aber die Kinder von oben taten alles, um uns
wieder nach unten zu drängen.“
Ein triumphierendes Funkeln in den Augen zeigt, dass am Ende Luigi und seine Mitstreiter
gewannen. Doch gebrochen war der Bann, der auf den Bewohnern der Sassi lag, damit noch
lange nicht.
Atmowechsel
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Ein alter Mann in tadellosem Zweireiher kommt an den Tisch. Giovanni Schiuma, Gründer
der Konditorei und ein Freund aus Kindertagen von Luigi Festa.
Atmo: Giovanni murmelt: che nostalgia, erano tempi bellissimi
„Ich denke mit Wehmut an die Sassi von damals zurück, sagt er und setzt sich für einen
Moment. Die Konditorei ist jetzt fast leer. Seine berufliche Laufbahn begann Giovanni
Schiuma blutjung mit einem Eiswägelchen, das er sich selbst zusammengebaut hatte und mit
dem er täglich durch die engen Gassen der Sassi fuhr. 1946 war das. Vom italienischen
Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit war noch nichts zu spüren und Eis eine Delikatesse,
die sich in den Sassi eigentlich niemand leisten konnte. Bei Giovanni konnte man auch in
Naturalien bezahlen. Luigi, damals um einiges jünger, verdiente sich sein Eis, indem er beim
kräftezehrenden Verschlagen der Eiskristalle half. Harte Arbeit hat ihn auch später nicht
abgeschreckt.
„Ein Freund von mir war Maurer und nach Großbritannien ausgewandert. Ich wollte auch
dorthin, aber meine Mutter mochte mich nicht gehen lassen. Hier gab es kaum Arbeit,
keine Perspektive für mich. Aber dann trieb sie eine Art Stipendium für mich auf, und ich
konnte studieren. Am Ende des Studienjahres kam ein Dozent auf mich zu und fragte, ob
ich bei Olivetti arbeiten wollte. So bin ich nach Norditalien gezogen. Bis in die achtziger
Jahre habe ich in Turin als Personalchef in einer Fabrik gearbeitet.“
Trotz seines sozialen Aufstiegs ist Luigi Festa den Sassi verbunden geblieben. Als seine
Mutter in eine der neu gebauten Siedlungen außerhalb von Matera umzog, war Luigi Festa
darüber nicht glücklich. Zwar gab es jetzt statt einer unzuverlässig flackernden Glühbirne
überall elektrisches Licht, fließend warmes Wasser und später sogar eine Waschmaschine,
aber die Nachbarn waren nicht mehr die von früher. Heute lebt in dem Haus im Vorort „La
Martella“ seine Nichte mit Familie. Andrea, der jüngste Sohn, holt Luigi Festa heute bei der
Konditorei ab und fährt ihn nach „La Martella“ zum sonntäglichen Mittagessen.
Atmo Autofahrt
An Wiesen und Weizenfeldern vorbei geht es in die Ebene. Hier ist die Erde fruchtbar:
Tomaten, Auberginen, Paprika, Zucchini wachsen ohne große Anstrengung. Früher zogen die
Menschen aus den Sassi im Morgengrauen mit ihrem Vieh auf den Acker um abends
ausgelaugt und hungrig wieder zurückzukehren. Die weiten Wege wollten ihnen die Planer
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der Siedlung „La Martella“ ersparen. Zu jeder Wohnung gehörte ein kleines Stück Land zum
Bewirtschaften.
Atmo Ankunft
Als Luigi Festa aus dem Auto steigt, wird er mit einem Nicken von zwei alten Männern
begrüßt, die auf einer Bank am Rande des Dorfplatzes sitzen und rauchen. Sie tragen karierte
Hemden und derbe Schuhe, an denen Lehm klebt, ihre Gesichter sind sonnenverbrannt. Luigi
Festa erzählt ihnen von den Sassi, so wie sie heute sind: restauriert und herausgeputzt für die
Touristen. Doch die zwei winken ab. Rosario Toselli beginnt sogar zu schimpfen.
„Hör bloss auf, von den Höhlenwohnungen in Matera will ich nichts wissen. Dort bin ich
geboren, im Dreck, im Elend, mit 12 Jahren bin ich hier angesiedelt worden, jetzt bin ich
75. Unsere Wohnung hier hatte drei Zimmer und einen Stall.“
„Wir lebten von dem, was uns die Erde gab. Wir hatten Hühner, Kaninchen, Schweine.
Atmo: Luigi fragt
„Und wieviel Land habt ihr bekommen?“ fragt Luigi Festa.
Atmo Männer antworten
Zwischen 4 und 6 Hektar Land pro Familie gab es. Das reichte zur Selbstversorgung, solange
die Kinder klein waren, doch mit den Jahren wuchs die Bevölkerung von „La Martella“ und
es fehlte an Wohnraum.
Atmo Mann 1 si sposavano e si andavano a Matera
Die jungen Leute gingen weg nach der Hochzeit, zurück nach Matera oder nach Amerika,
sagt Rosario Toselli und greift nach seinem Gehstock. Auch Luigi Festa wendet sich zum
Gehen. Seine Nichte wartet mit dem Sonntagsbraten.
Atmo ausklingen lassen
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LITERATUR 2
Kinder gab es unzählige. In der Hitze, im Staub, fliegenumschwärmt tauchten sie von allen
Seiten auf, entweder ganz nackt oder mit ein paar Lumpen bekleidet. Ich habe noch nie ein
solches Bild des Elends erblickt (…). Ich sah Kinder auf der Türschwelle im Schmutz unter
der glühenden Sonne sitzen mit halbgeschlossenen Augen unter rot geschwollenen Lidern; die
Fliegen setzten sich auf die Augen, aber sie rührten sich gar nicht, sie verjagten sie nicht
einmal mit den Händen. Ja, die Fliegen krochen ihnen über die Augen, und sie schienen es
nicht zu spüren. (…) Anderen Kindern begegnete ich, deren Gesichtchen volle Runzeln waren
wie bei alten Leuten; vor Hunger waren sie zu Skeletten abgemagert mit völlig verlausten,
grindigen Haaren. Aber der größte Teil hatte dicke, riesige, aufgetriebene Bäuche und von
Malaria bleiche, leidende Gesichter.
Ich stieg immer weiter bis zum Grund der Schlucht hinab, und eine große Menge von Kindern
lief in einer Entfernung von ein paar Schritten hinter mir her und wuchs immer mehr an. Sie
riefen etwas, aber ich konnte nicht erfassen, was sie in ihrem unverständlichen Dialekt
forderten. (…) Inzwischen waren wir auf den Grund der Schlucht bei Santa Maria de Idris,
einer schönen Barockkirche angelangt, und als ich aufblickte, sah ich endlich ganz Matera
wie eine schräge Mauer. Von hier wirkte es fast wie eine richtige Stadt. Die Fassaden der
Höhlen, die wie weiße nebeneinander stehende Häuser aussahen, schienen mich mit den
Türlöchern wie schwarze Augen anzusehen. So ist es wirklich eine sehr schöne, malerische
und eindrucksvolle Stadt.
Wer in das Labyrinth der Sassi von Matera abtaucht, dem offenbart sich eine
Welt voller Gegensätze: Auf der einen Seite restaurierte Restaurants mit
Panorama-Terrassen und edle Boutique-Hotels, auf der anderen Seite
windschiefe, einsturzgefährdete Ruinen. 30 Jahre lang waren die Sassi
Sperrgebiet. Nach der Umsiedelung der Bewohner in den 50er und 60er Jahren
standen die Wohnungen leer, die Häuser verfielen und niemanden kümmerte es.
In den 70er Jahren kamen Hippies, besetzten die Ruinen, setzten sie
eigenmächtig instand und lebten abgesondert von den Bewohnern der Oberstadt
nach eigenen Gesetzen. Die Wende kam in den 80er Jahren. Sowohl
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konservativen als auch linken Politikern dämmerte es allmählich, dass die
Jahrtausende alten Wohnungen ein Juwel waren, auf das Matera stolz sein
konnte, anstatt sich ihrer zu schämen. Und so lehnte eine Mehrheit im
Gemeinderat im letzten Moment den Plan ab, die Sassi mit Bulldozern dem
Erdboden gleich zu machen. Stattdessen setzte sich eine ganz andere Idee durch:
Die Idee einer umfassenden Sanierung.
REPORTAGE 3
„Hier sind wir im Bauch von Matera. Dieser Teil der Stadt ist durch die Mauer dort oben
vom Zentrum getrennt.“
Der Ingenieur Giuseppe Enrico Demetrio zeigt auf eine verwitterte Steinmauer 5 Meter über
seinem Kopf. Der Bauch von Matera, das sind die Sassi. Die Höhlenwohnungen und
Felsenkirchen mit Fresken aus dem 8. Und 9. Jahrhundert, die unterhalb eines Felsplateaus
am Hang kleben. Unesco-Weltkulturerbe und Grund für Touristen aus aller Welt, nach Matera
zu kommen. Heute. Noch vor 30 Jahren verirrte sich kaum jemand in die sassi.
„Hier lebten nur ein paar Aussteiger, die die moderne Gesellschaft ablehnten. Ihnen ist es
zu verdanken, dass die Stadträte überhaupt begriffen haben, dass man hier noch wohnen
konnte.“
Mit Stolz spricht Giuseppe Enrico Demetrio über das gigantische Restaurierungsprojekt, das
seine Stadt auf den Weg gebracht hat. Der untersetzte Mittvierziger mit rundem Gesicht,
schwarzem Haar und randloser Brille hat aktiv am Wandel Materas mitgewirkt, erst als
Gemeinderatsmitglied, dann als Ingenieur, der sich vor allem mit Fragen der Statik und der
Erdbebensicherheit beschäftigt.
„Wir mussten einige Mauern verbreitern oder neue hinzufügen, um die Gebäude
erdbebensicher zu machen. Es ist trotzdem eine sehr sanfte Restaurierung, die die
traditionelle Bauweise respektiert.“
In der Tat fällt dem Betrachter vielfach gar nicht auf, dass überhaupt restauriert wurde. Die
Dachziegel sind unregelmäßig grau, die Steine der Häuser sind die, aus denen sie vor
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Jahrhunderten erbaut wurden. Sorgsam wurde wieder aufgeschichtet, was eingestürzt war,
Stein um Stein zusammengesetzt, wie bei einem Puzzle.
„Wir haben eine ganze Stadt restauriert, viele Hektar Wohnfläche, einsturzgefährdete,
völlig heruntergekommene Häuser. Hier steht ein noch nicht restauriertes Haus neben
einem, das bereits zu neuem Leben erwacht ist. Wir haben es so restauriert, wie es damals
erbaut wurde.“
Trotzdem ist kein Freiluftmuseum entstanden, sondern ein lebendiges Viertel, das heute mit
Bars, Restaurants und Unterkünften Besucher anlockt, von Luxus bis einfach.
„Man hat bewusst einen musealen Charakter vermieden. Das war die richtige
Entscheidung, denn die Sassi sind wieder zum Leben erwacht. Mit der Zeit kamen dann
immer mehr Unterkünfte für Touristen hinzu, aber das ist für mich ein Zeichen für die
Öffnung nach außen, die diese Stadt erlebt.“
Matera erlebt eine Blütezeit. Die Stadt wirkt dynamisch und zukunftsorientiert. Den Ingenieur
freut das. Vergnügt spaziert er durch das Gassenlabyrinth und schaut, wo Arbeiten im Gange
sind. Denn in Matera sind es vor allem Privatleute, die restaurieren, nicht der Staat.
„In den Achtziger Jahren haben es die lokalen Politiker hier gewagt, ein
Restaurierungsprogramm aufzustellen, das sich auf die eigenen Kräfte stützte und die
Bürger ermunterte, in die Sassi zu investieren. Zunächst wurde das als verrückte Idee
abgetan, die Sassi waren ja Eigentum des Staates, weil ihre Bewohner damals enteignet
worden waren. Aber der Staat ließ sie verfallen und so bot die Stadtverwaltung Privatleuten
ein 30jähriges Mietrecht an gegen die Verpflichtung zur Restaurierung. Das Experiment
gelang und die Sassi wurden Schritt für Schritt restauriert. Es gibt aber auch noch ganz
unberührte Ecken, wo erst noch begonnen werden muss.
Diese Ecken mag der Ingenieur fast am liebsten. Und so schaut er auf dem Weg zu seinem
Lieblingscafé in dunkle Fensterhöhlen und hinter jedes Absperrband, auf das er stößt. Er hat
viel gelernt in den vergangenen 20 Jahren. Über das Mauern und Spachteln, wie man es früher
machte, über vergessene Techniken, die die Alten den Jungen wieder beigebracht haben im
Rahmen der Restaurierungsarbeiten. Sein geschultes Auge wandert über Hauswände und
Höhleneingänge.
„Diese Mauer hier wurde schludrig restauriert, man kann den Unterschied zwischen Alt
und Neu ganz deutlich erkennen. Sie sieht ja fast aus wie frisch erbaut!“
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Das gefällt Giuseppe Enrico Demetrio gar nicht. Matera soll Beispiel für die gelungene
Restaurierung einer Altstadt sein, in jeder Hinsicht. Sowohl, was die Technik angeht, als auch
im Hinblick auf die Finanzierung und die Durchführung. Denn dank der vielen Privatleute,
die einzelne Restaurierungsprojekte vorangetrieben haben, hatte die Organisierte Kriminalität
keine Chance. Große Bauvorhaben sind in Italien traditionell ein gefundenes Fressen für die
Mafia, in Süditalien erst recht. Doch die Basilikata ist eine vergessene Region, vergessen
sogar von Mafia und Ndrangheta, die im benachbarten Kalabrien brutal die Menschen
unterdrückt? Warum nicht in Matera?
„Die Menschen hier sind eine solche Unterdrückung nicht gewohnt und würden sie nicht
akzeptieren. Die Bürger von Matera lassen sich nicht erpressen. Es hat Versuche gegeben,
aber die sind angezeigt und von der Polizei aufgeklärt worden. Matera ist ein Modell für
den gesamten Süden. Hier sieht man, dass es geht. Und dass es für alle nur gut ist, wenn
sich wirtschaftliche Aktivitäten frei entfalten können, so entstehen Arbeitsplätze. Sobald es
zu Infiltrationsversuchen kommt, wird Anzeige erstattet.“
Atmowechsel zu Café
Giuseppe Enrico Demetrio betritt eine Espressobar, die in einer der vielen Höhlenwohnungen
aufgemacht hat. Die Wände sind nackter Fels und die chromglänzende Theke in der Mitte des
niedrigen Raumes kontrastiert mit der archaischen Umgebung. Sparsam eingerichtet, modern,
cool, aber nicht steril – diese Bar wäre der Hit in Berlin oder New York. In Matera ist sie
eines von vielen Beispielen für die Wiedergeburt der Sassi.
Die Art und Weise wie die Sassi von Matera restauriert wurden hat in Italien
Vorbild-Charakter. Nicht als staatliches Großprojekt, sondern mit Hilfe vieler
kleiner privater Investoren. Der Staat hat die Bürger machen lassen, hat sich
zurückgenommen und auch Ausländer haben die Chance genutzt und in die
Sassi investiert. Seit die Höhlensiedlung 1993 zum Weltkulturerbe wurde, geht
es aufwärts in Matera. Die Stadt ist sogar in Hollywood ein Begriff. Mel Gibson
drehte in Matera seinen polarisierenden Film „ Die Passion Christi“. Um die
Zuschauer in das Jerusalem vor 2000 Jahren zu versetzen, musste der
Filmemacher nur die Kirchtürme und die Satellitenantennen am Computer
verschwinden lassen. Denn das archaische Aussehen der Felsenhöhlen
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den gewunden Gassen boten eine perfekte Kulisse. Inzwischen ist Matera nicht
nur ein begehrtes Filmset, die Stadt zieht auch Besucher aus aller Welt an:
Franzosen, Amerikaner, Briten, Deutsche und auch Japaner bringen der Stadt
Einnahmen, von denen sie früher nur träumen konnte. Die Ausländer sind nicht
nur als „Geldquelle“ auf der Durchreise willkommen, sondern durchaus auch als
Investoren und Mitbürger. Die Zahl der Neuansiedlungen aus Übersee ist in den
vergangen Jahren sprunghaft gestiegen, die Immobilienpreise immer noch
niedrig und die Lebenshaltungskosten erst recht.
Mikaela Bandindi weiß das schon lange zu schätzen. Sie wagte den Umzug von
Kapstadt nach Matera als die Stadt noch im Dornröschenschlaf lag.
REPORTAGE 4
„Diese Bar hier ist eigentlich ein Missverständnis. Ich wollte ursprünglich gar keine Bar
aufmachen, ich wollte nur, dass meine Mitarbeiter und ich nach der Arbeit hier einen
Drink und ein paar Snacks serviert bekommen. So habe ich einen Barmann eingestellt.
Inzwischen arbeiten hier zehn und an einem gut besuchten Freitag oder Samstag mixen sie
1000 Cocktails.“
Koketter Augenaufschlag, verschmitztes Lächeln. Mikaela Bandini ist Mitte 40 und ständig in
Bewegung. Blonder Kurzhaarschnitt mit frechen Fransen, blaue Augen, kein Makeup,
sonnengebräunt. Die Leiterin einer Marketingagentur und Organisatorin von Reisen in ganz
Italien hat tausend Dinge gleichzeitig laufen und ihr Handy immer im Blick.
„Ich habe zwei Firmen und das hier sind die Büroräume. Dreieinhalb Jahre hat es
gedauert, bis das Gebäude wieder bewohnbar war. Diese Glastüren, die auf den Hof
führen, waren vorher Fenster. Wir konnten sie nur deshalb in Türöffnungen verwandeln,
weil wir mit alten Fotos beweisen konnten, dass es noch früher einmal Eingänge waren.
Hier lebten früher mehrere Familien zusammen, mehr als 40 Personen. Dort hinten, in
der Höhle, die in den Fels gehauen wurde, hingen die Schinken und Würste.“
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Zu dem loftartigen Komplex gehört auch das frühere Schulhaus von Matera. Jahrzehntelang
bröckelte es vor sich hin, dann kam Mikaela. Sie stellte sich der Gemeinde als Investorin vor
und begann mit der Restaurierung.
„Ich lebe hier seit 23 Jahren, ich bin also ein bisschen eine Einheimische und trotzdem
auch eine Fremde, weil sich meine Art, Dinge anzugehen von der hiesigen unterscheidet.
Aber ich bin nicht in Konflikt geraten mit den Leuten hier. Ich würde niemals belehrend
auftreten, trotzdem bin ich weniger flexibel als die meisten hier und in meiner Bar werden
die Dinge so gemacht, wie ich es will. Das wird aber auch geschätzt, ich habe hier so etwas
wie einen Qualitätsstandard geschaffen.“
Stolz schwingt mit, wenn Mikaela Bandini über ihre Aktivitäten spricht. Als sie vor mehr als
20 Jahren der Liebe wegen ihre Heimatstadt Kapstadt verließ, war sie eine hübsche, junge
Studienabgängerin, die ihrem Mann nach Matera gefolgt war. Heute ist sie die dynamischste
Unternehmerin der Stadt.
„Letztlich geht es immer darum, ob du Arbeitsplätze schaffst. Das ist hier und in der
ganzen Region Basilikata das wichtigste. Wenn du bereit bist, Leute fest einzustellen,
bekommst du auch öffentliche Fördergelder. So konnte ich hier einiges bewegen, aber am
Anfang war es schwer. Matera war ein netter Ort, aber wenn du 20 Jahre alt bist und
ehrgeizig, dann willst du im Leben was erreichen und das war hier deutlich schwieriger als
woanders. Es gab kaum Entfaltungsmöglichkeiten damals, aber das ist inzwischen anders.“
Ihr italienischer Mann hat eine Reiseagentur, die beiden lernten sich am Flughafen kennen.
Inzwischen haben sie zwei heranwachsende Kinder, die ihre Schulaufgaben bei Mikaela im
Büro machen. Wie ein Büro wirkt das mit Sesseln und alten Küchenmöbeln gemütlich
eingerichtete Wohnzimmer aber nicht. Eher wie eine Kreativwerkstatt. Die Arbeitsatmosphäre
ist entspannt, Mikaelas Mitarbeiter sind durchweg jung und wirken mit ihren Sneakers, Jeans
und McBooks wie aus der Apple-Reklame. Sämtliche Klischées vom rückständigen Süden
werden hier auf den Kopf gestellt. „Area 8“ heißt Mikaelas Reich, das sich nach Feierabend
in eine Bar verwandelt, die sowohl Einheimische als auch Ausländern anzieht.
„Dieser Ort hier ist ein Treffpunkt für ganz unterschiedliche Leute geworden, wir sind
Kultur-Botschafter. Oft machen wir Buchpräsentationen und Lesungen, jeden Abend läuft
etwas anders.“
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Atmo: Mann kommt hinzu
Ein großer, lässig gekleideter Mann erscheint im Türrahmen. Der Freund einer Freundin,
Deutscher. Er wohnt nebenan und ist auf einen Kaffee vorbeigekommen.
Atmo: coffee? You dont want my coffee
Den Kaffee, den ich mache, willst du sicher nicht trinken, sagt Mikaela und kontrolliert ihre
emails. Zum Kaffeetrinken hat sie jetzt keine Zeit. Gundolf schüttelt belustigt den Kopf.
„Meine Partnerin, Rossella, kennt Mikaela schon seit Ewigkeiten. Die ist ja immer busy
und Rossella auch, die arbeitet total viel, es gibt hier tatsächlich Leute, die richtig
arbeiten.“
Gundolf hat in Los Angeles für den Filmemacher und Regisseur Francis Ford Coppola
gearbeitet, dessen Großvater aus der Basilikata stammt. Er kannte Süditalien nicht, bevor er
hier herkam. Matera ist anders als er es sich vorgestellt hatte. Dynamischer – und trotzdem
bleibt Zeit, das Leben zu geniessen. Wenn man nicht immer so viel beschäftigt ist wie
Mikaela Bandini.
Früher schämten sich die Menschen aus Matera zu kommen, heute sind sie stolz
darauf. Erleben sie doch einen beispiellosen Aufstieg. Vom nationalen
Schandfleck zum UNESCO Weltkulturerbe. 2019 folgt die nächste Etappe, dann
wird Matera europäische Kulturhauptstadt. Überzeugt haben nicht nur die
antiken Höhlensiedlungen, sondern auch das Kulturprogramm, das die Stadt
bietet und auf die Beine stellen will. So gibt es bereits heute ein
Literaturfestival, das „Women-Ficton-Festival“ das einzigartig ist in Italien und
von einer amerikanischen Schriftstellerin mit Wohnsitz in Matera organisiert
wird. Das Haus des spanischen Malers José Ortega, der vor dem Franco-Regime
flüchtete und in Matera lebte und arbeitete, steht kurz vor der Eröffnung und das
Kulturzentrum „Casa Cava“ bietet internationale Musik und Tanz mitten in den
sassi. Die Stadt, die einst zu den ärmsten Süditaliens zählte, erlebt eine Phase
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wirtschaftlichen Aufschwungs, und das trotz der allgemeinen Krise des Landes.
Der Tourismus hat daran großen Anteil.
REPORTAGE 5
Atmo: stamattina un cappuccino? Buon giorno….
Frühstück auf der Natursteinterrasse des „Palazzo degli abati“. Gemütliche Korbstühle,
Sonnenschirme und eine Aussicht über die sassi, die sich bis zum Flüsschen Gravina im Tal
hinterziehen. Ezio Bisa aus Caserta in Kampanien ist zum ersten Mal in Matera und
begeistert.
„Dieses Restaurierungsprojekt hat einen Preis verdient und ist ein Vorbild für den ganzen
Süden. Mit wieviel Geduld und Leidenschaft hier Haus für Haus restauriert wurde, das ist
beeindruckend. Wir sind glücklich, Matera entdeckt zu haben und werden ganz sicher
wiederkommen.“
Ezio Bisa ist mit Frau, Töchtern und den Schwiegereltern für ein Wochenende in Matera.
Untergekommen sind sie in einem feinen Bed and Breakfast mitten in den Sassi. Geführt wird
es von Mutter und Sohn.
Vita Foschino kommt mit einem Tablett kleiner Kuchenstücke an den Tisch. Ein reichhaltiges
Frühstücksbuffet, eher unüblich in Italien, ist ihr sehr wichtig. Die Gäste sollen sich wohl
fühlen. In Plastik eingeschweißte Croissant gibt es bei ihr nicht, sondern Frischware aus der
Konditorei.
„Hier haben wir Kuchen mit Mandeln, mit Amarenakirschen, mit Zitronencreme, mit
Ricottakäse oder Muffins. Natürlich haben wir auch pikantes, wie Foccaccia oder salzige
Croissants, dazu natürlich auch süße, mit und ohne Füllung – eben das typisch italienische
Frühstück.“
Die Idee, ein Bed and Breakfast im Sasso Barisano aufzumachen, hatte ihr Sohn Francesco.
Als Kind war er oft durch diesen verlassenen Teil Materas gestreift – verbotenerweise. Die
Sassi waren ja Sperrgebiet und einsturzgefährdet. Aber auf Francesco übten sie eine
unwiderstehliche Faszination aus, die bis heute anhält. Zärtlich streicht er über die Mauer, die
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die Terrasse einrahmt. Er ist Anfang 30, hat ein rundes Gesicht, schwarzes Haar und große,
dunkle Augen.
„Mit 18 Jahren bin ich weggegangen und nach zwölf Jahren im Ausland nach Matera
zurückgekehrt. Matera ist meine Heimat und ich habe gespürt, dass die Zeit gekommen
war, etwas für meine Stadt zu tun. Ich war bereits ausgebildeter Reiseleiter und da war es
ein natürlicher Schritt, auf den Tourismus zu setzen. Diese Immobilie hier war bis vor drei
Jahren verlassen und verwahrlost. Ich kam ab und zu hierher, weil meine Mutter hier
geboren worden war, ihre Eltern hatten hier nach der Heirat gelebt, es war das Haus
meiner Vorfahren.“
Bis zur Enteignung und Massenumsiedlung der Bevölkerung in den 50er und 60 er Jahren.
„Diese vier Zimmer, die auf die Terrasse hinausgehen, waren von den Nachbarn, sie
wurden enteignet und umgesiedelt. Meine Familie entschied dagegen, an dem
Umsiedlungsprojekt nicht teilzunehmen, sondern sich selbst eine neue Wohnung zu
suchen. Dadurch fiel ihr Haus nicht an den Staat und ich konnte es sofort restaurieren.
Die Stadt bot mir dann kostenlos diese vier Räume an, unter der Bedingung auch sie zu
restaurieren.“
Drei Jahre dauerte es, dem Gebäude das stolze Antlitz zurückzugeben, dass es im 17.
Jahrhundert einmal gehabt hatte.
„Dieses Haus war der „Palast der Äbte“. Nebenan liegt eine Felsenkirche, und hier lebte
der Abt, der über viel Grundbesitz verfügte, Felder mit Gemüse und Ölbäumen, die er
bearbeiten ließ. Matera war im 17. Jahrhundert eine wohlhabende Stadt. Die Höhlen
dienten als Weinkeller, nicht als Wohnungen. Matera war damals die Hauptstadt der
Basilikata. Dann verlor sie diesen Status und verarmte. Im 17. Jahrhundert wohnten in
diesem Haus nur der Abt und seine Angestellten, hundert Jahre später lebten hier 30
Menschen auf engem Raum, der Rest ist Geschichte.“
Francesco Foschino liegt die Geschichte am Herzen. Er will dem Gebäude und seinen vielen
Bewohnern ihre Würde zurückgeben, indem er an sie erinnert. Die liebevoll zu Gästezimmern
umfunktionierten Höhlenwohnungen hat er nach den Spitznamen der früheren Nachbarn
seiner Großeltern benannt. Die Gäste aus Caserta haben in der zur Suite umgewandelten
Höhlenwohnung „Senza nidd“ übernachtet.
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„Hier wohnte eine arme Familie, die weder Eltern noch Grundbesitz hatte. Sie wurden
„senza nidd“ genannt, das heißt: die, die nichts haben.“
Früher war das Leben in den von Schimmel durchzogenen Höhlen eine Schande und aufgrund
der hohen Luftfeuchtigkeit, Kälte und Dunkelheit schlecht für die Gesundheit. Heute sorgen
Luftentfeuchter, Heizsysteme und ein warmes indirektes Licht für eine heimelige Atmosphäre
und bei den Touristen sind die Höhlenzimmer heiß begehrt.
„Unsere Zimmerpreise liegen leicht über dem Durchschnitt, aber tendenziell sind unsere
Gäste sehr zufrieden und begeistert von der Stadt.“
Francesco schaut über die vielen restaurierten Dächer der Sassi hinweg und lächelt. Als Junge
hat er in einer Geisterstadt gespielt, heute ist das Leben in die Gassen und Gemäuer seiner
Kindheit zurückgekehrt. Der Tourismus habe zugenommen, seit Matera die Kandidatur zu
Europäischen Kulturhauptstadt 2019 gewonnen hat, aber das ist für Francesco erst der
Anfang.
„Matera ist eine Stadt, deren Wert man noch entschlüsseln muss. Einerseits sticht ihre
Schönheit sofort ins Auge. Dieses Panorama hier, die Schlucht, die Kirchen und die
restaurierten Häuser, die Antike ist hier noch spürbar. Andererseits ist die neuere
Geschichte, die Geschichte der Umsiedelung und des Verfalls, vielen Besuchern nicht
bekannt. Und es gibt ja auch heute noch Ruinen, die wieder aufgebaut werden müssen.“
Stolz und Scham in Matera – Geschichten eines Aufstiegs in Süditalien. Das
waren Gesichter Europas mit Reportagen von Kirstin Hausen. Die
Literaturauszüge stammen aus dem Buch “Christus kam nur bis Eboli“ von
Carlo Levi. Erschienen im dtv Verlag. Gelesen von Bernd Reheuser.
Musikauswahl und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Eva Pöpplein und
Ann Dhein.
Am Mikrofon war Katrin Michaelsen.
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