Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.08.2015, Unternehmen (Wirtschaft), Seite 22 Deutsche Start-ups beleben den Übernahmemarkt Lange wurden sie vermisst. Jetzt aber melden sich junge Unternehmen mit einer 700 Millionen Euro-Transaktion zu Wort. Und auch in der Industrie herrscht reger Übernahmebetrieb. Von Georg Giersberg FRANKFURT, 9. August Der deutsche Übernahmemarkt brummt. Was sich schon Ende des vergangenen Jahres abzeichnete (F.A.Z. vom 29. Dezember: "Das Jahr 2014 war der Hammer"), hat sich im ersten Halbjahr dieses Jahres nahtlos fortgesetzt. "Der Markt für Unternehmenstransaktionen mit Beteiligung deutscher Unternehmen als Käufer oder Verkäufer hat sich weiter dynamisch entwickelt", stellt Axel Gollnick fest, geschäftsführender Partner der auf Beteiligungen und Übernahmen spezialisierten Beratung Angermann M & A International. Die Zahl der Transaktionen liegt mit 853 um 40 Prozent über dem zehnjährigen Durchschnitt für das erste Halbjahr. Darunter waren einige Großübernahmen. Der zwei Stiftungen gehörende deutsche Automobilzulieferer ZF Friedrichshafen gab mehr als 10 Milliarden Euro für die Übernahme der amerikanischen TRW Automotive aus. Mit 30 Milliarden Euro Umsatz gehört ZF jetzt zu den drei führenden Autozulieferern der Welt. Die Deutsche Annington erwarb für fast 8,8 Milliarden Euro (davon 3,9 Milliarden Kaufpreis und 4,9 Milliarden Euro Schuldenübernahme) das Immobilienunternehmen Gagfah. Der Übernahmehunger der Deutschen Annington, mit 350 000 Wohnungen und einem Börsenwert von 21 Milliarden Euro das zweitgrößte Immobilienunternehmen Europas, war damit aber nicht gestillt. Für knapp zwei Milliarden Euro erwarb man auch im ersten Halbjahr die Süddeutsche Wohnen. Siemens - auf dem Übernahmemarkt als Käufer und Verkäufer ein ständiger Gast - kommt unter den zehn größten Transaktionen gleich zweimal vor. Zum einen kaufte der Münchener Elektrokonzern für sieben Milliarden Euro das amerikanische Unternehmen Dresser-Rand. Das ist ein globaler Anbieter von Kompressoren, Turbinen und Motoren für die Erdöl- und Gasindustrie. Pech für Siemens: Nach dem Erwerb brach der Umsatz um ein Viertel ein, weil die Kunden aufgrund sinkender Öl- und Gaspreise nicht mehr investierten. Aber Siemens verkaufte auch Unternehmen, darunter für gut zwei Milliarden Euro die Hörgerätesparte (Audiology Solutions) an den schwedischen Private-EquityInvestor EQT sowie die Familie Strüngmann (bekannt als Gründer von Hexal, dem heute zu Sandoz/Novartis gehörenden größten deutschen Generikahersteller) als Ko-Investor (22 Prozent). Der von Siemens erzielte Preis war stolz: Die Käufer zahlten das 14,8-Fache des Gewinns nach Ebitda. Das ist ein Beispiel dafür, dass die Preise für Unternehmen derzeit sehr hoch sind. Ein fast ebenso hohes "Multiple" wurde mit dem 13,7-fachen Ebitda für den Anbieter von Laboren (vor allem Blutuntersuchungen) Synlab bezahlt. Das Augsburger Unternehmen ging für 1,85 Milliarden Euro an den britischen Private-Equity-Investor Cinven. Dieser hatte sich zuvor schon an einem französischen Laborbetreiber beteiligt und schmiedet aus beiden die Nummer eins auf dem europäischen Markt. Üblich sind solche Preise nicht. Im Durchschnitt werden Preise zwischen dem Sieben- und Neunfachen des Ebitda (Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen) gezahlt. 1 Die lange in Deutschland vermisste Start-up-Szene machte vor wenigen Wochen durch einen Paukenschlag auf dem Markt für Übernahmen auf sich aufmerksam. Ende Juli ging das im Jahr 2000 gegründete Fintech-Unternehmen "360 Treasury Systems AG" (360 T) für 725 Millionen Euro an die Deutsche Börse AG. Die aus Frankfurt operierende Handelsplattform für Devisen war von Carlo Kölzer und einigen Freunden gegründet worden. Ihr Verkauf ist nicht nur im derzeit stark aufstrebenden Bereich Fintech (Finanztechnologie) eine große Übernahme, sondern auch ein Signal, dass auch deutsche Start-ups durchaus großes Potential haben. Eine Konsolidierung zeichnet sich offenbar bei den über das Internet verkaufenden Lieferdiensten ab. Die erst im Jahr 2011 gegründete Berliner Delivery Hero Holding GmbH, zu der in Deutschland die Essenlieferdienste Lieferheld und Pizza.de gehören, hat für 531 Millionen Euro das Unternehmen Yemeksepeti.com erworben. Yemeksepeti stellt monatlich in der Türkei und im Nahen Osten mehr als drei Millionen Essen her, ist profitabel und wächst derzeit um 60 Prozent im Jahr. Die Berliner Start-up-Schmiede Rocket Internet SE hatte zuvor den Lieferdienst Talabat aus Kuweit für rund 150 Millionen Euro erworben und in einer Folgetransaktion in Delivery Hero gegen Anteile eingebracht. Parallel dazu hatte Delivery Hero den Erwerb der griechischen Plattform e-Food.gr angekündigt. Die erst vier Jahre alte Delivery Hero Holding aus Berlin ist heute (nach Beteiligung zweier amerikanischer Finanzinvestoren) mit 2,8 Milliarden Euro genau so viel wert wie die Traditionsunternehmen Douglas oder Kaufhof - die beide für jeweils 2,8 Milliarden Euro den Eigentümer wechselten. Nicht zuletzt wegen der Geldaufnahme der Delivery Hero Holding floss im Jahr 2014 mehr internationales Wagniskapital nach Berlin (zwei Milliarden Euro) als nach London (1,35 Milliarden). Während Rocket Internet bei Delivery Hero mit nur 38,5 Prozent Anteil in der Minderheit ist, hält der Gründungshelfer bei den beiden anderen Berliner Start-up-Essenlieferdiensten HelloFresh und Foodpanda eine Mehrheit. Foodpanda hat im Februar mehrere Unternehmen in Asien erworben, darunter Just Eat India, Food Runner (Malaysia, Singapur, Philippinen), EatOye (Pakistan) und Koziness.com (Hongkong). Umgekehrt übernahm die japanische Recruit Holdings für 200 Millionen Euro die im Jahr 2012 gegründete Berliner Buchungsplattform für Restaurants Quandoo von den Gründern und Investoren, darunter der Familie Sixt und Holtzbrinck Ventures. Der amerikanische Technikriese Microsoft kaufte das Berliner Start-up "6 Wunderkinder", bekannt für seine To-do-App "Wunderliste". Die sechs Gründer sollen zwischen 90 und 200 Millionen Euro bekommen haben. Aber auch außerhalb Berlins gibt es Neugründungen: Das von dem Chemienobelpreisträger Robert Huber in Martinsried bei München gegründete Biopharmaunternehmen SuppreMol ging für 200 Millionen Euro an den amerikanischen Pharmakonzern Baxter. Der Münchener Elektronikkonzern Rohde & Schwarz kaufte für 100 Millionen Euro die Sirrix AG. Das Karlsruher Start-up Sirrix gilt als einer der international führenden Anbieter von IT-Sicherheit vor allem aufgrund kryptografischer Verfahren für Unternehmen und Behörden. Es entstand 2005 als Ausgründung des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz an der Universität Saarbrücken. Trotz der insgesamt hohen Zahl an Transaktionen im ersten Halbjahr blieb das Gesamtvolumen, also die Summe aller gezahlten Preise, mit 52 Milliarden Euro weit hinter dem entsprechenden Vorjahreswert von 92 Milliarden Euro zurück. Das lag daran, dass in diesem Jahr sehr viel mehr kleine und mittelgroße Unternehmen den Eigentümer wechselten. "Im ersten Halbjahr gab es viele gesunde Brot-und-Butter-Transaktionen", kommentiert Gollnick das Marktgeschehen: "Die sehr hohe Zahl der vereinbarten Transaktionen unterstreicht das hohe Vertrauen in den Markt ungeachtet 2 geopolitischer Risiken." Dazu beigetragen haben auch die weiterhin extrem guten Finanzierungsbedingungen - die niedrigen Zinsen - und die hohe Liquidität im Markt. Unterhalb der größten zehn Übernahmen (siehe Tabelle) gab es sehr viel Bewegung. Die Metro hat ihren Warenhauskonzern Galeria Kaufhof für 2,825 Milliarden Euro an die kanadische Kaufhauskette Hudson's Bay verkauft. Die drei vormals zu Karstadt gehörenden Spitzenwarenhäuser Deutschlands (Berliner Kadewe, Münchener Oberpollinger und Hamburger Alsterhaus) sind jetzt mehrheitlich thailändisch, seit die Central Group aus Bangkok 50,1 Prozent der italienischen Warenhausgruppe La Rinascente erworben hat. Ein Preis für die Übernahme wurde nicht genannt. Die Bekanntgabe des Preises bleibt auch der Lebensmittelhändler Rewe schuldig. Er hat das europäische Reiseveranstaltergeschäft des schweizerischen Touristikkonzerns Kuoni übernommen. Die ReweGesellschaft DER Touristik ist mit einem Umsatz von sieben Milliarden Euro in Europa die Nummer zwei auf dem Reisemarkt hinter TUI (19 Milliarden Euro Umsatz). Ein großes Geschäft, das wenig öffentliche Resonanz fand, war die Fusion der Dorma Holding mit der Kaba Holding. Das deutsche Familienunternehmen Dorma wurde für 1,214 Milliarden Euro an die schweizerische Kaba veräußert. Der Preis wurde nicht als Wert publiziert, weil die DormaGesellschafter Anteile an der fusionierten Gesellschaft dorma + kaba Holding bekamen. Sie haben sogar im Rahmen einer Kapitalerhöhung noch 170 Millionen Euro zu ihrem Unternehmen dazugegeben, um direkt und indirekt auf eine Mehrheit an der neuen Holding zu kommen, die mit fast zwei Milliarden Euro Umsatz zu den drei größten Anbietern der Welt für Türschließtechnik und Zutrittskontrolle gehört. Unter starker öffentlicher Beachtung übernahm der Familienkonzern Oetker (Backpulver, Bier, Schiffe, Banken) den Tiefkühl-Backwarenhersteller Coppenrath & Wiese, die Nachfolgeschwierigkeiten hatten. Ein anderes Nachfolgeproblem löste der amerikanische Investor Warren Buffett. Seine Berkshire Hathaway kaufte für 400 Millionen Euro den Hamburger Händler für Motorradzubehör Detlev Louis Motorradvertriebs GmbH (270 Millionen Euro Umsatz) von der Witwe des Gründers. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv. 3
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