Die Schneekönigin

Die Schneekönigin
nach Hans Christian Andersen
fürs Märlitrucke Kindertheater angepasst von Anita Berchtold, 2012
Prolog (wird von einem der Kinder vorgelesen):
Eines Tages hatte der Teufel besonders gute Laune, denn er hatte einen Spiegel erfunden. In diesem Spiegel
spiegelte sich das Gute und Schöne winzig klein und das Böse und Schlechte wurde darin riesengross.
Der Teufel flog auf der ganzen Welt herum und liess die Menschen, die er traf in den Spiegel schauen und am
Ende waren viele, viele Menschen ganz verdreht und verdorben von dem Blick in den bösen Spiegel. Da wollte
der Teufel auch noch in den Himmel hinauffliegen und die Engel hineinschauen lassen, um zu sehen, ob die
Engel sich durch den bösen Spiegel auch verdrehen liessen. Der Teufel grinste und lachte, dass ihm der Bauch
wackelte. Aber als er schon ganz, ganz weit oben war liess er vor lauter Lachen den Spiegel fallen. Der Spiegel
fiel auf die Erde herunter und zersprang in hundert Millionen Stücke. Nun war es aber noch ärger als zuvor,
denn diese hundert Millionen Spiegelsplitter, kaum so gross wie ein Sandkorn, flogen ringsumher in der weiten
Welt. Und wenn jemand so einen Splitter ins Auge bekam, dann sah er alles nur noch hässlich und böse. Wenn
aber jemand so einen Splitter gar ins Herz bekam, dann war es ganz schlimm: dann nämlich wurde das Herz kalt
wie ein Klumpen Eis und man vergass, wie man sich freute und wie man jemanden lieb hatte.
Davon werden wir nun hören!
Die beiden Kinder Kai und Gerda waren die allerbesten Freunde. Jeden Tag nach der Schule trafen sie sich und
spielten draussen miteinander. Sie hatten fast nie Streit und wenn, dann versöhnten sie sich immer ganz schnell
wieder.
Eines Tages, es war ein kalter Winternachmittag, spielten Gerda und Kai zusammen draussen Fangen und
Schneeballschlacht. Es war lustig, wild und laut und irgendwann setzten sie sich atemlos in den Schnee und
gaben ich die Hände. Gerda sagte zu Kai: „Ach Kai, ich bin so froh, dass ich eine so tollen besten Freund wie
dich habe.“ Und Kai antwortete: „Ja, ich bin auch froh, dass du meine Freundin bist. Wir wollen immer
zusammenbleiben, gell!“
Doch plötzlich zuckte Kai zusammen und hielt sich sein Auge zu: „Au, mir ist etwas ins Auge geflogen!“ und
gleich darauf rief er: „Aua! Und jetzt hat mich etwas ins Herz gestochen!“ Gerda wollte Kai helfen, und das,
was ihm ins Auge geflogen war vielleicht wieder herauswischen. Aber Kai war plötzlich ganz verändert und rief:
„Ach, lass mich doch los, hör auf damit! Umarmen ist doof!“ Gerda verstand gar nicht, was mit Kai los war. So
unfreundlich war er sonst nie zu ihr.
Da erschien auf einmal eine wunderschöne weisse Frau. Sie trug eine Krone aus Eiszapfen und auf ihrem langen
Gewand glitzerten tausend Schneekristalle. Trotzdem fürchtete sich Gerda vor der Frau, denn von ihr ging eine
fürchterliche Kälte und Bosheit aus. Gerda sprang auf und floh. Aber Kai stand nur da und staunte die schöne
Frau mit offenem Mund an.
Die Frau sagte: „Guten Tag, Kai.“ „Wie? Sie kennen mich? Wer sind sie?“ fragte Kai. Darauf antwortete die
schöne Frau: „Ich bin die Schneekönigin. Willst du mit mir kommen in mein Reich?“ „Oh, ja, das würde mich
schon interessieren“, antwortete Kai. „Ist es denn weit bis dorthin? Ich muss zum Abendessen wieder daheim
sein.“ Die Schneekönigin lachte böse und sagte: „Neeein, komm nur mit. Es wird dir gefallen, Es ist
wunderschön dort und du bekommst deinen eigenen Eisthron direkt neben meinem, wenn du willst.“
Das gefiel Kai nun sehr und so folgte er der Schneekönigin. Aber die Hand der Schneekönigin war so kalt und
der Weg war so weit, deshalb begann Kai schon bald zu jammern und zu flehen, sie möge ihn wieder
heimlassen. Aber die Schneekönigin liess seine Hand nicht mehr los und hüllte ihn in ihren Mantel. Sobald der
Mantel um Kais Schultern lag, fühlte er die Kälte nicht mehr und er vergass, wer er war, wo er hingehörte und
wen er lieb hatte.
Unterdessen suchte Gerda ihren Kai ganz verzweifelt in der ganzen Stadt. Da kam sie auch an den Fluss. Dort
fragte sie die Fische, ob sie ihren Freund Kai gesehen hätten. „Nein, hier ist dein Kai nicht“, antworteten die
Fische. Gerda war so traurig und sie fragte die Fische: „Ach, ist er etwa tot?“ „Nein“, antworteten die Fische
„Tot ist er nicht.“ Und sie tanzten für die traurige Gerda.
Da sah Gerda am Ufer des Flusses ein kleines Boot. Sie stieg hinein und liess sich vom Fluss wegtreiben in der
Hoffnung, der Fluss möge sie zu Kai führen. Nach einer Weile trieb das Boot wieder an Land und Gerda stieg
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aus. Sie fand sich in einem herrlichen Blumengarten wieder. Eine alte Frau kam aus dem Haus, das war eine
Blumenfee. „Wer bist denn du“, fragte die Blumenfee und Gerda erzählte ihr, wer sie sei und warum sie auf
Reisen sei. Aber auch die Blumenfee hatte Kai nicht gesehen, doch wollte sie Gerda bei sich behalten, denn sie
fühlte sich sehr alleine in ihrem Garten. Die Blumenfee war nicht böse, aber sie zauberte doch hie und da ein
bisschen und so gab sie Gerda einen verzauberten Apfel zu essen. Als Gerda hineinbiss, wurde sie sehr müde
und schlief ein. Während dieses Schlafes sollte Gerda vergessen, dass sie auf der Suche nach Kai war.
Als Gerda wieder aufwachte, wusste sie zuerst wirklich nicht, wo sie war und warum. Sie ging neugierig im
Garten umher und fragte auch die Blumenfee, warum sie hier sei. Diese aber wollte es Gerda natürlich nicht
verraten und ging, noch einmal einen Apfel des Vergessens zu holen. Unterdessen fragte aber Gerda auch die
Blumen und die verrieten dem Mädchen, warum es auf der Reise sei. „Ach ja, natürlich“, rief da Gerda. „Wie
konnte ich das nur vergessen. Ich muss sofort weiter. Ich bin schon viel zu lange hier, es ist ja schon Herbst
geworden. Sagt mir, Blumen, wisst Ihr wo mein Kai ist?“ „Nein“, antworteten die Blumen „Das wissen wir
nicht.“ „Ach, ist er etwa tot?“ fragte Gerda. Die Blumen aber antworteten: „Nein, Gerda, tot ist er nicht.“ Und
die Blumen tanzten für das traurige Kind.
Gerda bedankte sich bei den Blumen und verliess schnell den Garten. Lange Zeit wanderte sie, da kam sie eines
Abends an ein Schloss. „Ach“, wunderte sich Gerda. „Da ist ja ein Schloss. Wer wohnt wohl darin?“ Als
Antwort bekam sie ein lautes „Kraaa-Kraa! Der Prinz und die Prinzessin wohnen da! Aber was willst du denn
da?“ Gerda sah sich um und erblickte eine grosse Krähe. Da fragte sie: „Ich suche meinen lieben Kai. Hast du
ihn etwa gesehen?“ Doch auch die Krähe hatte Kai nicht gesehen und da wurde Gerda ganz verzagt, denn sie
war schon so weit gereist und war so müde. Die Krähe aber rief: „Kraa-Kraa, ich hol den Prinzen, wart du nur
da!“
Bald schon kam die Krähe mit dem Prinzen und der Prinzessin zurück und rief: „Kraa-Kraa, schaut, da ist sie jaa,
die traurige, müde Gerdaa!“ Der Prinz und die Prinzessin waren sehr nett zu Gerda und wollten sie zu sich ins
Schloss einladen. Doch Gerda wollte lieber weitersuchen. Da schenkten die beiden der kleinen Gerda eine
Kutsche mit einem Pony für die müden Beine und einen warmen Umhang und einen Muff gegen die Kälte.
Man sagte sich auf Wiedersehen und die Krähe begleitete Gerda noch ein wenig auf ihrem Weg.
Da kamen sie in einen dunklen Wald und auf einmal sprangen hinter einem Baum ein paar Räuber hervor.
„Kraa-Kraa“, rief da die Krähe und floh. Gerda aber konnte nicht wegfliegen und so hielten die Räuber sie an
und johlten und brüllten: „Raus aus der Kutsche, Mädchen. Die gehört jetzt uns!“ Gerda wollte sich wehren:
„Das ist aber gemein. Ich brauche die Kutsche, um meinen lieben Kai zu suchen.“ Aber davon wollten die
Räuber nichts wissen und lachten Gerda nur aus: „Haha, suchen kannst du auch zu Fuss. Los, raus aus der
Kutsche und ab mit dir!“ Aber nun drängte sich ein Mädchen durch die Räuberbande. Sie war die Tochter des
Räuberhauptmanns und sie wollte Gerda nicht einfach so gehen lassen: „Halt! Schnipp-Schnapp-Schnurre-PurreBasselurre! Ich will mit dem Mädchen spielen. Und den Muff will ich auch haben. Gib her!“ Das Räubermädchen
schnappte sich den warmen Muff, steckte die Hände hinein und strahlte: „Ah, herrlich! Schnipp-SchnappSchnurre-Purre-Basselurre! So, und nun kommst du mit in meine Räuberhöhle und erzählst mir von Kai.“ Sie
führte Gerda in ihre Räuberhöhle. Dort stand ein einfaches Bett und in der hintersten Ecke wohnte ein Rentier
auf dessen Schulter eine Schneeeule sass. Gerda erzählte dem Räubermädchen alles von sich und Kai und dass
sie niemals aufgeben werde, ihn zu suchen. Das Räubermädchen war so beeindruckt davon, dass es Gerda
anbot, ihr morgen nach dem Aufwachen zu helfen. Dann schlief das Räubermädchen ein.
Gerda aber konnte nicht schlafen. Sie war viel zu aufgeregt nach all den Erlebnissen. Auf einmal fing die
Schneeeule an zu sprechen:“Schuhuh-Schuhuu, ich habe deinen Kai gesehen. Er fuhr auf dem Schlitten der
Schneekönigin. Sie hat ihn mitgenommen in ihr Reich. Schuhuu-Schuhuu!“ Da setzte sich Gerda kerzengerade
auf in dem Räuberbett und flüsterte: „Wirklich? Ist das wahr?“ Die Schneeeule antwortete: „Schuhuu-Schuhuu,
jaja! Frag nur das Rentier. Es kennt das Reich der Schneekönigin gut.“ „Rentier, sage mir, ist das wahr? Weisst
du wo mein lieber Kai ist?“ Und das Rentier nickte ernst und sagte: „Ja, Gerda, Dein Kai ist bei der
Schneekönigin hoch im Norden. Dort ist auch meine Heimat. Morgen früh fragen wir das Räubermädchen, ob
ich dich hinführen darf.“
Am anderen Morgen fragten Gerda und das Rentier, ob sie zusammen zur Schneekönigin fahren dürften. Das
Räubermädchen war zwar wild, aber nicht böse und so liess sie Gerda mit den Rentier ziehen. Es gab den beiden
Brot und Schinken mit und die warmen Handschuhe seiner Mutter, denn den Muff wollte es behalten.
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Nach langer Reise erreichten das Rentier und Gerda endlich Finnland. Hier kannte das Rentier sich aus und es
brachte Gerda zu einer weisen Finnenfrau, die ihnen vielleicht weiterhelfen könnte. Die Finnenfrau wohnte in
einem kleinen Häuschen am Waldrand und lud Gerda ein, sich bei ihr ein wenig aufzuwärmen. Zum Rentier
sagte sie aber: „Kai ist bei der Schneekönigin eigentlich ganz zufrieden. Er hat Gerda und seine Eltern schon
ganz vergessen, denn er steht unter dem Zauber der Schneekönigin.“ Da fragte das Rentier, ob die Finnenfrau
denn nicht einen Zaubertrunk oder etwas ähnliches kenne, mit dem man den Zauber der Schneekönigin
überwinden könne. Die Finnenfrau antwortete: „Ich kann Gerda nicht mehr Kraft geben als sie schon hat. Siehst
du denn nicht, wie gross ihre Kraft ist? Sogar das Räubermädchen hat ihre Wünsche erfüllt. Die Kraft von Gerda
ist ihre Freundschaft zu Kai!“
Als Gerda sich ausgeruht hatte wollte sie schnell mit dem Rentier zur Schneekönigin. Aber die Finnenfrau sagte:
„Nein, Gerda, das Rentier kann dich nur bis zur Grenze bringen. Von dort aus musst du allein weiter. Das Reich
der Schneekönigin ist sogar für das Rentier zu kalt.“ „Aber wird es denn nicht auch für mich zu kalt?“ fragte
Gerda. „Ja“, antwortete die Finnenfrau „Auch für dich wird es dort sehr, sehr kalt. Aber denke immer an Kai,
dann wird dich die Freundschaft wärmen. Auf Wiedersehen!“
So brachte also das Rentier Gerda noch bis zur Grenze des Reiches der Schneekönigin. Dort verabschiedeten sich
die beiden und Gerda ging allein weiter. Die Kälte schnitt sie wie mit Messern und Gerda konnte in der Eisluft
kaum Atmen. In ihrer Verzweiflung rief Gerda: „Ach, ich kann nicht mehr weiter. Es ist zu kalt und ich bin ganz
alleine. Kann mir denn niemand helfen?!“ Da erschienen aus dem Schneegestöber drei Schneeelfen und
nahmen Gerda bei der Hand. Sie führten sie zum Schloss der Schneekönigin. Dort standen Wachen vor dem Tor,
die riefen: „Halt!“ Gerda antwortete: „Bitte, lasst mich durch. Ich möchte meinen lieben Kai besuchen.“ Die
Wachen antworteten: „Hier gibt es keinen Kai.“ „Doch“, beharrte Gerda, „der Junge, der hier wohnt heisst Kai
und ist mein Freund.“ Da sagten die Wachen: „Es gibt hier wohl einen Jungen, den unsere Herrin mitgebracht
hat. Aber er hat keinen Namen. Du kannst nicht herein.“ Alles Bitten und Betteln von Gerda nützte nichts; die
Wachen liessen sie nicht herein. Da begannen die Schneeelfen, um die Wächter herumzutanzen und es ertönte
eine wunderbare Musik. Die Wächter wurden davon so müde, dass sie einschliefen und Gerda an ihnen
vorbeischleichen konnte.
Drinnen im Schloss war ebenfalls alles aus Eis und Schnee und es war niemand zu sehen. Gerda wanderte durch
Hallen und Gänge bis sie auf den Thronsaal stiess. Dort fand sie Kai, wie er auf dem eisigen Boden neben dem
Thorn der Schneekönigin auf dem Boden sass und gelangweilt mit Eissplittern spielte. Schnell rannte Gerda zu
Kai und umarmte ihn: „Kai! Ach, Kai! Mein lieber, lieber Kai! Endlich habe ich dich gefunden.“ Kai sah mit
verwirrtem Blick zu Gerda auf: „Kai? Wer ist das?“ Gerda antwortete: „Aber… das bist doch du! Du bist mein
lieber Kai. Erkennst du mich denn nicht?“ „Nein“, antwortete Kai. Da musste Gerda weinen: „Aber, Kai! Ich bin
doch Gerda. Deine Gerda! Deine allerbeste Freundin!“ Immer noch verwirrt fragte Kai: „Freundin? Was
bedeutet das?“ Aber Gerda konnte nur noch weinen. War es möglich, dass sie diese weite und gefährliche Reise
umsonst gemacht hatte? War es schon zu spät, um Kai zu retten? Da rief Kai plötzlich: „He! Lass das, mit dem
warmen Wasser, das da aus deinen Augen kommt schmilzt du ja mein Eis!...“ Kaum hatte Kai das gesagt,
erschien die Schneekönigin und kreischte: „Was ist hier los! Mädchen, hör sofort auf zu weinen! Du schmilzt ja
mein ganzes schönes Eis! Oh, Oh, mein schöner Zauber vergeht!“ Denn mit den Tränen hatte Gerda nicht nur
das Eis in Kais Händen geschmolzen, sondern auch die Kälte um sein Herz herum. Auf einmal schien es Kai, als
würde er dieses weinende Mädchen doch kennen… „Gerda?“ fragte er unsicher. Wie freute sich da Gerda! Sie
umarmte Kai und juchzte: „Kai! Du erkennst mich! Wie schön!“ „Ja“ antwortete Kai, „Du bist Gerda. Abe wo
bist du denn die ganze Zeit gewesen? Und wo bin ich gewesen?“ Die Antwort kam von der Schneekönigin, die
inzwischen sehr wütend war: „Bei mir bist du gewesen. Und bei mir musst du auch bleiben! Schau doch nur,
wie schön es hier ist. Wie es glitzert und glänzt. Komm, bleib bei mir!“ „Nein“, mischte sich da Gerda ein. „Tu
das bitte nicht. Ich habe dich viele Monate lang überall auf der Welt gesucht. Ich habe dich so vermisst und
deine Eltern sind auch so traurig seit du weg bist. Bitte, Kai, komm heim!“ Da erinnerte sich Kai an seine Eltern
und auch an die schöne Zeit mit seiner Freundin Gerda und Tränen stiegen ihm in die Augen. Als er sie
wegwischen wollte sagte er: „Oh, jetzt haben meine Tränen den Splitter aus meinem Auge herausgewaschen. Es
tut gar nicht mehr weh…“ und er sah sich noch einmal um. „Wie hässlich und kalt es hier ist! Komm, Gerda,
lass uns heimgehen.“ Damit stand er auf, nahm Gerda an der Hand und ging mit ihr aus dem Schloss. Hinter
sich hörten sie die wütenden Schreie der Schneekönigin, die nun keine Macht mehr über Kai hatte und ihn
gehen lassen musste.
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