Die Radio-Agenda: Steht das duale Rundfunksystem vor

VPRT-Panel, Medientage München 2015, 22. Oktober 2015,
„Die Radio-Agenda: Steht das duale Rundfunksystem vor dem Kollaps?“
Impuls von Prof. Dr. Thomas Hirschle
Als in Norddeutschland Mitte der 80 er Jahre die ersten privaten Radios auf Sendung
gingen lief eine Werbekampagne mit dem Slogan „Lieber NDR, Du musst jetzt ganz
tapfer sein. Ab 1.7. gibt es RSH“.
Dieser etwas boshafte Trost war dringend nötig, denn mit einem Innovativen, frechen
und flott präsentierten Programm ging RSH gegen die betulichen und in alten
Gewohnheiten erstarrten Programme an und zog die Hörer vom NDR scharenweise
zu sich rüber.
Nach diesem fulminanten Start bildete sich im Lauf der folgenden Jahre das heraus,
was man das duale System nannte. Es ergab sich ein Kräftegleichgewicht zwischen
den Privaten und den öffentlich- rechtlichen Radios. Hatten die Privaten 1990 nur
einen Marktanteil von 20 % so stieg dieser bis zum Jahr 2000 auf etwa 50 % an.
Wichtig dabei war, dass die Privaten in allen Alterskohorten bis 49 den deutlich
höheren Marktanteil hatten. Der Ausgleich erfolgte nur durch die über 50-jährigen,
die in ihren Hörgewohnheiten verharrten.
Diese Entwicklung war eigentlich ein Wunder, denn wirkliche Waffengleichheit hat bis
heute nie bestanden:

UKW-Frequenzen 962 zu 1368 mit einem Verhältnis der

Sendeleistung von 6 671 KW zu 21 110 KW

Mitarbeiter 4065 zu 11 078

Werbeerträge/Gebühreneinnahmen 575 Mio. € zu 3000 Mio.

Senderketten pro Bundesland 6-8 zu 1-5
Beginnend etwa im Jahr 2000 setzte ein Roll-back des öffentlich-rechtlichen
Rundfunks ein.
Das verfügbare Mehr an Geld, an technischer und personeller Power wurde
konsequent genutzt. Mit den besten Programmberatern, intensiven Marktanalysen
und Programmforschung, auch dem Herauskaufen der angesagtesten Moderatoren
wurde ein deutlich offensiveres Programm gemacht.
Massiv wurde in aufwändige Veranstaltungen eingestiegen. Diese wurden nicht nur
subventioniert sondern auch in enger Gemeinschaft mit der werbetreibenden
Wirtschaft präsentiert und intensiv beworben.
Der Preis war eine Selbstkommerzialisierung der wichtigsten Programme, und auch
eine Vernachlässigung des Infoauftrags bei vielen Wellen.
Im Ergebnis gelang es aber mit mehr Programmen, einer konsequenten
Flottenstrategie der einzelnen Programme, dem gezielten Positionieren gegen
wichtige private Programme und einer aggressiver Vermarktung den weitern Verlust
von Marktanteilen zu stoppen und dann die privaten Programme allmählich wieder
etwas zurück zu drängen. Die Marktanteile verschoben sich zu einem 45 zu 55 und
nähern sich heute schon dem 40 zu 60 an.
Allein dies wäre noch kein Grund, dieser Gesprächsrunde den Titel: „Steht das duale
Rundfunksystem vor dem Kollaps?“ zu geben. Ein solches Auf und Ab der
Marktanteile ist normal im Wettbewerb trotz des dargestellten Ungleichgewichtes. Ich
habe viel Vertrauen in die Innovationskraft der Privaten und ihre Fähigkeit, im
Wettbewerb zu bestehen.
Aktuell sind aber zwei Entwicklungen festzustellen, die diese labile Struktur bedrohen
und die genügend Anlass geben, hier und heute über dieses Thema zu diskutieren.
Da ist zum einen die gegenwärtige Übergangsphase ins Digitale.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk nutzt die im Digitalen mögliche, und sogar für die
Attraktivität zum Beispiel von DAB+ notwendige Ausweitung des
Programmangebotes für einen gezielten Ausbau seiner Programme. Die aktuell
veröffentlichte Programmliste weist 64 Programme der Landesrundfunkanstalten, 5
weitere nach Landesrecht und 3 des Deutschlandradios aus. Hinzu kommen 146
regional empfangbare Digitalradioprogramme
Hinzu kommt eine große Zahl nicht erfasster Webchannels. Weitere Programme sind
geplant und bei der KEF angemeldet. Ich habe volles Vertrauen in die KEF, dass
diese die Wirtschaftlichkeit und die Auswirkung auf das duale System gründlich prüft
und mitgestaltet.
Wichtigster Punkt dabei ist ein Ausbau des Jugendangebotes welches aktuell zur
Ratifizierung durch die Länderparlamente ansteht. Bestandteil dieser neuen
Möglichkeiten ist eine uneingeschränkte Offenheit für alle Eventaktivitäten und
crossmedialen Formen bis hin zu einer Produktion von Inhalten für Drittplattformen
wie Facebook und ähnliche.
Wir beobachten gegenwärtig einen breiten Ausbau multimedialer Versuchsprojekte.
Dabei erfolgt in aller Regel ein Aufschalten von DAB – Programmen auf UKW,
vordergründig als Promotion für DAB. Verbunden ist dies oft mit einem internen
Frequenztausch der leistungsstärkere Frequenzen für diese Programme nutzbar
macht.
Als Beispiel sei hier genannt die Umnutzung von UKW – Frequenzen des
Kulturprogramms hr2 für YouFM, dem Jugendprogramm des HR.
Das Ding, das Jugendprogramm des SWR, begann als reines DAB – Angebot und ist
heute auf dem Weg zur regulären UKW – Verbreitung.
Die Entwicklung bei BR Klassik und dem geplanten Jugendprogramm kennen wir
alle. Die Liste könnte noch verlängert werden.
Auf der privaten Seite steht dem nichts Vergleichbares entgegen. Es ist auch
mangels Finanzierbarkeit zumindest nichts Gleichgewichtiges zu erwarten
Mit ein wichtiger Auslöser für dieses zunehmende Verschiebung des
Kräftegleichgewichtes insgesamt ist die DAB-Entwicklung. Während die Finanzierung
über den Rundfunkbeitrag zwar eng bemessen, aber insgesamt gesichert ist, steht
die Klärung der Finanzierung für die privaten Anbieter noch aus. Im Gegenteil, das
auf die UKW-Verbreitung gestützte Geschäftsmodell wird durch die Diskussion über
die Migration zu DAB in Frage gestellt.
Nicht verschwiegen werden sollte dabei, dass die Privaten mit DAB sich teilweise
schwertun. Die ARD – Anstalten haben sich nach einem langen internen Ringen
zumindest in der Außenwahrnehmung auf eine weitgehend einheitliche Position
verständigt. Die Privaten haben sich ebenfalls nach langem Ringen immerhin auf
eine „ Ja – aber Position“ verständigt. Gleich wohl gibt es noch genügend Skeptiker
mit dem bekannten Nord-West zu Süd-Ostgefälle der DAB Gegner und Befürworter.
Ein Stück weit findet man dies auch bei den Landesmedienanstalten was die Sache
für die privaten Radiosnoch schwieriger macht. Vielleicht ist dies mit ein Grund dafür,
dass die Liebe der Medienpolitiker zu den öffentlich - rechtlichen Anstalten neu
entfacht zu sein scheint.
Insgesamt ist festzustellen, dass sich der Umstieg in die digitale Welt mehr als eine
Abfolge unkoordinierter Einzelaktivitäten nach den jeweiligen tagespolitischen
Notwendigkeiten vollzieht und nicht als ein strategisch geplanter und koordinierter
Gesamtprozess. Vermisst werden eine ordnende Hand, ein klares und an Realitäten
orientiertes Konzept und ordnungspolitischer Gestaltungswille.
Die zweite Gefahr liegt darin, dass die zufälligen Ergebnisse dieser ungesteuerten
Entwicklung die Grundlage der künftigen Strukturen des dualen Systems im digitalen
Zeitalter werden. Wer glaubt ernsthaft, dass die Politik die Kraft hat, nach Durchbruch
zum Digitalen das nun gerade neu Entstandene zu ändern und beispielsweise die
nun etablierten Programme abzuschalten.
Es fehlt gerade für das Radio nicht nur ein ordnungspolitisches Konzept für den
Übergang, sondern – fast noch wichtiger - auch für die schlussendlich gewollten
Strukturen nach dem Umstieg.
In seiner langfristigen Bedeutung haben wir eine ähnliche bedeutsame
Umbruchsituation wie 1985 beim Start des privaten Rundfunks. Nur besteht ein
wesentlicher Unterschied: In den politischen Führungsebenen war damals jedem
klar, dass Handlungsbedarf bestand und das duale System ordnungspolitisch
abgesichert werden muss. Bei allen Meinungsunterschieden in vielen Fragen war
Konsens, dass das System gefestigt und in seinen Entwicklungsmöglichkeiten
austariert werden muss. Heute ist im Blick auf Radio ein weitgehendes Fehlen eines
entsprechenden Problembewusstseins der Ordnungspolitik zu beobachten.
Dabei wäre eine ordnungspolitische Klärung über die Umstiegskonzeption und die
langfristig angestrebten Strukturen dringend erforderlich:
Wieviel und welche Programme soll das öffentlich- rechtliche Radio anbieten? Die
alte Limitierung durch das endliche UKW – Spektrum greift nicht mehr.
Welche Aufgaben haben die Öffentlich- rechtlichen im Digitalen neben dem reinen
Programmangebot. Insbesondere was ist ihre Rolle im Internet und bei den sozialen
Netzwerken?
Welche öffentlich-rechtlichen Radios sollen bundesweit empfangbar sein? Alle?
Wie soll es mit DAB+ weitergehen?
Wie ist die Zukunft des lokalen Hörfunks im Digitalen?
Welche Formen des Zusammenwirkens crossmedial sind zulässig und erwünscht?
Wie ist die Förderkonzeption für den Umstiegsprozess?
Wieviel und welche privaten Sender soll es im Digitalen geben? Wie sollen die
Strukturen der Privaten insbesondere national aussehen?
Wie soll die Vermarktung und insgesamt das Geschäftsmodell aussehen?
Wenn wir diese Fragen alle nicht beantworten und das ganze nur treiben lassen
droht möglicherweise wirklich ein Kollaps des dualen Systems.
Um auf den Anfang zurück zu kommen: Heute müsste man schon fast die Privaten
trösten und den anfangs gezeigten Slogan umschreiben. „Lieber Privater, du musst
jetzt ganz tapfer sein. Ab jetzt gibt es mehr ARD“.
Ich würde mir wünschen, dass die heutige Diskussionsrunde ein Stück zur Klärung
der anstehenden Fragen beitragen kann.