Europas KatastrophE 1914–1918

E u r o pa s K ata s t r o p h e 191 4 –191 8
Menschen
im krieg
He r a u s g e g e b e n v o n J o a c h i m K ä p p n e r u n d J a k o b W e t z e l
m i t B i l d e r n a u s d e m SZ - F o t o a r c h i v
E u r o pa s K ata s t r o p h e 191 4 –191 8
Menschen
im krieg
Impressum
Süddeutsche Zeitung GmbH, München
für die Süddeutsche Zeitung Edition 2014
©
Projektleitung: Sabine Sternagel
Art Director: Stefan Dimitrov
Lektorat: Daniela Wilhelm-Bernstein
Gestaltung: Sibylle Schug
Herstellung: Thekla Licht, Herbert Schiffers, Hermann Weixler
Druck und Bindearbeiten: Westermann Druck Zwickau GmbH
Printed in Germany
ISBN: 978-3-86497-190-7
Titelbild: Süddeutsche Zeitung Photo, Scherl-Archiv
Menschen im Krieg
Menschen im Krieg
Inhalt
Inhalt
Sarajevo
Grabenkrieg
Ein Museum voller Tod:
Fragen der Schuld
„Ich glaube , ich muss sterben“:
Das große Morden
Von K u rt K i st e r ........................................... 40
Von H u be rt W e t z e l...................................... 83
„Beim Blut meiner Väter“:
Die schwarze Hand
Ein apokalyptischer Irrtum:
Väter der Massenvernichtungswaffen
Von Joach i m K ä ppn e r.................................. 48
Von M a r k us C . Sch u lt e von Dr ach .. ......... 96
Hurra, endlich! Es ist Krieg:
Auszug der Soldaten
Großvater und der Krieg:
Lebenserinnerungen an ein mörderisches
Jahrhundert
Von Ru d ol f N e u m a i e r.. ................................ 51
Von H u be rt W e t z e l...................................... 101
Sieger von Tannenberg, Verlierer des Krieges:
Hindenburg und Ludendorff
Von F r a n z i sk a Aug st e i n............................. 58
Ein neuer Krieg mit neuen Schrecken:
Ein englischer Offizier schützt sich 1915 mit
einer neu entwickelten Maske vor Giftgas.
Editorial
Von M at t h i a s Dr obi nsk i.. ........................... 106
„Die wilde Klage ihrer zerbrochenen Münder“:
Dichter ziehen in den Krieg
Von H i l m a r K lu t e. . ....................................... 60
Heimatfront
Schutzhaft für ein Wandgemälde:
Ein Künstler erregt den Zorn der Patrioten
Vom Fliegen und Fallen:
Der Fortschrittsglaube mündet
in die Katastrophe
Von M a rt i n Be r nst e i n................................ 7 2
Von Joach i m K ä ppn e r , Ja kob W e t z e l ..... 8
Vorahnungen
Stille Nacht, Holy Night:
Der Weihnachtsfrieden von 1914
Kampf der Kolonialmächte: ein senegalesischer Soldate der französischen Armee
1916 bei Fréjus an der Côte d’Azur.
Von L au r a H e rt r e i t e r................................ 108
Unser barmherziger Gott hat uns den
Krieg geschickt:
Die Kirche gibt ihren Segen
Die Herrschaft des Hungers:
Kriegskost im Steckrübenwinter
Von M at t h i a s Dr obi nsk i.. ........................... 75
Von A n na Gü n t h e r. . ...................................... 1 20
In der Echokammer der Vergangenheit:
100 Jahre Erster Weltkrieg
Rezepte aus der Kriegsküche:
Kriegsbrot, weiße Rüben und geröstetes
Schweinsblut
Von St e fa n Kor n e l i us ................................ 1 1
Globaler Krieg
„Peitscht sie, dass die Lappen fliegen“:
Eroberungskrieg im Osten
Von Cor d A sch en br en n e r.......................... 1 57
Militärkult und Maskenball:
Wilhelm II. und sein Uniformentick
Von A n na Gü n t h e r. . ...................................... 1 26
Umsturz in Russland:
Ein Reich zerbricht
Von Ja kob W e t z e l ........................................ 20
„In Rixdorf ist Musike,
da gibt’s ’ne Pferdebahn“:
Zeitzeugin Gertrud Dyck blickt zurück
Von F r a n k N i e n h u y se n............................... 17 2
Europas strahlende Lichter:
Der letzte Tag vor dem Attentat
Von A n na Gü n t h e r. . ...................................... 1 29
Von Joach i m K ä ppn e r , r on e n St e i n k e ... 22
Von Ol i v e r Da s Gu p ta.................................. 174
Der Undank des Vaterlandes:
Juden im Krieg
Cousins und Cousinen:
Europas Monarchen sind eine Familie
Von R on en St e i n k e....................................... 135
Gr a f i k ............................................................. 32
Von A n na Gü n t h e r ....................................... 35
Von M a rt i n Be r nst e i n . . .............................. 38
4
Blut, Eis und Tränen:
Die Schlacht im Gebirge
Von St e fa n U l r ich ....................................... 187
„Der Kaiser war wie der liebe Gott“:
Zeitzeuge Fritz Koch erinnert sich
Der Marsch zum Bankett:
Absurdes Theater in Kelheim
„Mein letztes Wort wird Heimat sein“:
Zwei Brüder werden Feinde
Der Tod ist Handarbeit: Eine
deutsche Arbeiterin füllt Schrapnellkugeln
in eine Artilleriegranate.
Unter den Waffen schweigen
die Gesetze:
Das Leid der Gefangenen
Pazifist, Sozialist, Faschist:
Benito Mussolini
Von R on en St e i n k e....................................... 143
Von St e fa n U l r ich........................................ 198
„Eden Theatre“ in Puchheim:
Gefangenenlager im Moor:
Mangel und Elend:
Die Industrie entscheidet den Krieg
Von Pe t e r Bi e r l............................................. 1 5 4
Von K atja R i e de l. . ......................................... 201
5
Menschen im Krieg
Menschen im Krieg
Inhalt
Inhalt
Folgen
Das Schloss der roten Matrosen:
Die SPD verschenkt
die Revolution
Von Joach i m K ä ppn e r.................................. 28 4
Die Rote Armee von Dachau:
Revolution als Ruhestörung
Von Ge r h a r d W i l h e l m................................ 294
Vor Angst verrückt geworden:
Traumatisierte Soldaten
Von A n n e t t e R a m e l sbe r ge r.. .................... 296
Trauer und Gespenster:
In der Kunst wird das
Leid fassbar
Von Ch r i st i a n M ay e r. . ................................. 308
„Hang the Kaiser“:
Die Idee eines Weltstrafrechts
entwickelt sich
Von H e r i be rt Pr a n t l................................... 31 1
Frontstadt: Das westflämische Ypern – zu sehen sind Kathedrale
und Tuchhalle 1915 – blieb bis 1918 umkämpft und dem deutschen Artilleriefeuer
ausgesetzt. Die Stadt wurde nach dem Krieg neu errichtet.
Die Pickelhaube:
Stolz der Nation
Zu Wasser und in der Luft
Von K u rt K i st e r............................................ 216
„Lieb Vaterland magst ruhig sein,
die Flotte schläft im Hafen ein“:
Das Prestigeprojekt wird zum Fiasko
Der Krieg der weißen Männer:
Asien und Afrika
Von Joach i m K ä ppn e r.................................. 252
Von Ja kob W e t z e l......................................... 218
Safari mit Leichentuch:
Massensterben in Deutsch-Ostafrika
Vorboten der Revolution:
Meuterei auf der Thüringen
Von Melanie Staudinger................................ 318
Der Weg in die Hölle hat
erst begonnen:
Eine Bilanz
Von R obe rt Pr ob st....................................... 321
Am Beispiel München
Tod einer Kulturstadt:
Vom Zentrum der Boheme
zur „Hauptstadt der Bewegung“
Von Wolfgang Görl........................................ 330
Literaturverzeichnis
Als Feuer vom Himmel fiel:
Flugzeuge revolutionieren den Krieg
Autorenverzeichnis
Von K u rt K i st e r............................................ 27 1
Bildnachweis
Von Kurt Kister.............................................. 2 41
Gentleman und Guerillero:
Lawrence von Arabien
Wer Wind sät, wird den
Sturmwind ernten:
Die ersten Opfer des Bombenkrieges
Von Kurt Kister.............................................. 250
Von Joach i m K ä ppn e r.................................. 282
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Nachkriegsmisere: Die Mark verfällt, Kaufleute flüchten in Gold und Silber (unten) – und die
Reichsbank gibt Rentenmark-Scheine aus.
Von Joach i m K ä ppn e r.................................. 266
Von Jakob Wetzel.. .......................................... 238
Dardanellen:
Das Debakel der Alliierten
Von wegen Frieden:
Vertreibung und Mord statt
neuer Weltordnung
7
Menschen im Krieg
Editorial
Gesichter des Krieges
E
ine Kolonne von Soldaten marschiert
durch eine Art Mondlandschaft: Mehr ist
nicht zu erkennen auf dieser Fotografie
vom März 1918. Das Bild ist nicht scharf, eine
Augenblicksaufnahme, schlecht komponiert.
Und doch erzählt es eine Geschichte, fängt
dieser Moment kommendes Leid und nahen
Tod, die ganze Sinnlosigkeit des Krieges ein.
Millionen sind gefallen, aber es gibt immer
noch Reserven an Menschen. Die Front im
Westen hat sich seit Ende 1914 nur wenig
bewegt, jeder Kilometer Vormarsch ist mit
Abertausenden Leichen bezahlt worden. Noch
immer glaubt die deutsche Oberste Heeresleitung, der Durchbruch und damit der Sieg
werde irgendwann gelingen. Es ist eine tödliche Illusion, und wahrscheinlich bezahlen
viele Männer auf dem Bild sehr teuer dafür.
Das Foto stammt aus dem Scherl-Archiv, und
dieses wiederum gehört zum Fotoarchiv der
Süddeutschen Zeitung. Die Bildsammlung des
Scherl-Verlags wurde 1883 gegründet, als das
Medium der Fotografie noch relativ neu war.
Der große Krieg ab 1914 war der erste, der in
Ansätzen schon Züge eines heutigen Medienkrieges ahnen ließ. Zwar hatte es bereits
während des Amerikanischen Bürgerkrieges
von 1861 bis 1865 Fotografien gegeben. Doch
die verbesserte Technik erlaubte es ein halbes
Jahrhundert später, den Krieg umfänglich im
Bild zu dokumentieren. Allein das Scherl-Bildarchiv umfasst weit mehr als 6000 erhaltene
Fotos aus dem Ersten Weltkrieg.
Einige dieser Bilder fanden sich seither in
Zeitungen oder auf Buchcovern wieder. In
diesem Buch wird erstmals eine Auswahl der
interessantesten und nachdrücklichsten
Motive vorgestellt. Sie zeigen den Krieg aus
vielen Perspektiven: aus den Augen von Soldaten an der Front, von Arbeiterinnen in der
Heimat oder auch von Kolonialsoldaten, die
8
in den Kampf gezwungen wurden. Sie erzählen
von kriegstreibenden Geistlichen, von Piloten
und Matrosen, von Bombenopfern und Revolutionären. Nicht alle Bilder, aber die meisten
stammen aus dem Scherl-Archiv. Dazu zeichnen SZ-Autoren in Essays nach, wie der Krieg
Europa und die Welt erfasste, sie öffnen den
Blick für Zusammenhänge, ermessen die große
Katastrophe aus vielen verschiedenen Blickwinkeln und erzählen vom Leben und Sterben
der Menschen und den Erinnerungen der
letzten Zeitzeugen. So machen sie die vielen
Gesichter des Krieges wieder erkennbar. Und
sie helfen dabei, die Bilder des Scherl-Archivs
einzuordnen und zu verstehen.
Hierzu muss der Betrachter auch die Sehgewohnheiten ein wenig ändern. Manche Fotos
wirken seltsam steif, andere gestellt – oft liegt
das an den langen Belichtungszeiten. Nur
wenige Bilder zeigen die Grausamkeit des
Krieges so, wie das spätere Fotografien aus
Russland 1941, aus Vietnam oder Afghanistan
tun. Aber die meisten Abbildungen lassen
dennoch das Grauen erkennen, das der Krieg
von 1914 bis 1918 bedeutete. Manche sind noch
heute nicht leicht zu ertragen.
Die Herausgeber sind den sehr hilfsbereiten
Kollegen von Süddeutsche Zeitung Photo zu
Dank verpflichtet. Chefredakteur Kurt Kister
hatte die Idee zu diesem Band und trug zu
dessen Gelingen Texte und etliche Werke aus
seiner unerschöpflich erscheinenden Bibliothek bei. Ihm und Robert Probst danken wir
für Expertise und ihre Unterstützung, Oliver
Das Gupta für seine Ideen. Daniela WilhelmBernstein, Stefan Dimitrov, Sibylle Schug,
Laura Hertreiter und Anna Günther ist für
vielfältige Hilfe bei der Herstellung zu danken.
Joach i m K ä ppn e r
Ja kob W e t z e l
Das letzte Aufgebot:
Während der Frühjahrsoffensive 1918
marschieren deutsche Reservisten nach
Westen an die Front, vorbei am gewaltigen
Sprengtrichter einer Mine.
9
Menschen im Krieg
Vorahnungen
In der Echokammer der
Vergangenheit
Hundert Jahre sind seit 1914 vergangen, doch die Kräfte, die Europa damals ins Verderben
reißen, wirken noch heute. Wer behauptet, die Europäische Union lasse sich nicht mehr
mit dem Wunsch nach Frieden begründen, der hat die Geschichte nicht verstanden.
M
Olorehenis et idellat
em rem ex es ut fuga. Uagnihicid
quatem sumquat acidsfdsendfdemquiErc will geliebt werden,
on cus. s dia quianund er genießt den Jubel: Bei den Posener
Kaisertagen 1913 wird Kaiser Wilhelm II.
stürmisch begrüßt.
an kann sagen, dass die Jahrhunderterinnerung an den Ersten Weltkrieg gerade zur rechten Zeit kommt. Nicht zu
früh, nicht zu spät, sondern punktgenau eben
jene einhundert Jahre später, die wohl vergehen
müssen, um Geschichte auf sicherem Abstand
zu halten – und dennoch ihren heißen Atem zu
spüren.
Diese Geschichte steckt den Europäern in
den Knochen, ganz besonders den Deutschen.
Wenn sie sich nun erinnern, wenn sie über
wachsenden Nationalismus lesen, über zerfallende Imperien, über Bündnisse und Machtphantasien, über den Sog des Verderbens – dann
stellt sich jener Schauder ein, den die Geschichte
für alle Nachgeborenen bereithält: Ist da wirklich schon alles abgelegt in den Büchern? Alles
verwahrt in sicherer Distanz zu den aufgeklärten Geistern von heute? Die ernüchternde Antwort ist: Nein. Das Jahrhundertgedenken entfaltet deshalb seine verstörende Wirkung, weil
auch heute noch dieselben Kräfte zu spüren
sind wie 1914.
Geschichte lebt vom Vergleich, von der Analogie, den Botschaften, die sie – bis auf die Knochen – zu transportieren vermag. Menschen
spiegeln sich in ihrer Geschichte, sie studieren
Fortschritt und Rückfall, wägen Vorteile ab und
glauben alte Fehler vermeiden zu können. Aber
das ist nur die Theorie. Tatsächlich steckt das
Leben voller Irrtümer und Fehldeutungen der
Geschichte, falscher Entscheidungen und irrer
Wahrnehmungen. Politik entsteht nicht im Gelehrtenkämmerchen. Sie folgt Stimmungen,
der Masse, manchmal dem Wahn.
Die Geschichte des Ersten Weltkriegs ist ein
ganz besonderes Lehrstück, weil sie auch einhundert Jahre später nachhallt. Europa befindet sich noch immer in derselben Echokammer,
in der David Lloyd George saß, als er 1936, keine
20 Jahre nach dem großen Krieg, seine Erinne-
Trügerische Harmonie 1907 in London (oben):
Hinten links der Kaiser, vor ihm sein Onkel, der
britische König Eduard VII., hinten als fünfter von
links Kronprinz Georg. Die Zeit vertrieb sich
Wilhelm bevorzugt auf der Jagd.
11
Menschen im Krieg
Menschen im Krieg
Vorahnungen
Vorahnungen
Der „Neue Kurs“ in Karikaturen: Kanzler Otto von Bismarck tritt ab („Dropping the
pilot“, 1890), Wilhelm II. schärft den Säbel: („Ich bin bereit“, 1905). Unter dem „persönlichen
Regiment“ des Kaisers stieg das Reich spät in den Wettstreit um Kolonien ein.
rungen formulierte. Lloyd George war ein großer Staatsmann, Schatzkanzler der Briten bei
Kriegsbeginn und ihr Premierminister an dessen Ende. In der Ahnung der heraufziehenden,
noch größeren Katastrophe reduzierte er sein
zweitausendseitiges Kompendium über den
Ersten Weltkrieg auf eine schlichte Formel:
„Krieg ist eine viel zu kostspielige und barbarische Angelegenheit, um damit die Streitigkeiten unter den Nationen der Erde zu lösen.“
Hat Europa diese Lebenserfahrung von Lloyd
George heute verinnerlicht? Ist der Krieg tatsächlich undenkbar geworden? Krieg ist die
traumatische Bindungserfahrung Europas,
Krieg ist die Konstante im vielhundertjährigen
Gewissen des Kontinents. Lloyd George ent12
stammte einer Politiker-Generation, die den
Krieg als Möglichkeit immer denken musste.
Sebastian Haffner, der den Deutschen ihre Geschichte quasi am lebendigen Leib sezierte, erinnerte in einem seiner Bücher an die Selbstverständlichkeit, mit der in den Jahren vor 1914 die
Kaste der Militärs und auch der Politiker Krieg
als Werkzeug ihrer Arbeit ansahen.
Noch ein Jahrhundert später klingt der Lärm
der Echokammer von 1914 nach. Die Motive
kehren wieder: der Zerfall staatlicher Autorität,
der aufkeimende Nationalismus, der ewige
Kampf um die Machtbalance. Wie zu Beginn des
20. Jahrhunderts ringen Europas Gesellschaften auch heute mit einer neuen Welle der Industrialisierung (diesmal der digitalen), mit wuch-
Um die Wende zum 20. Jahrhundert beherrschen noch Pferdewägen
den Alexanderplatz. Doch der Berliner Verkehrsknotenpunkt entwickelt sich rasch
zum Symbol für die neue, industrialisierte Zeit: mit Haltestellen von Straßen-,
Fern- und U-Bahn und für Omnibusse.
13
Technisches Wunderwerk:
Von den Dächern ihrer Häuser aus beobachten Münchner
Bürger 1909 den Flug des Zeppelins LZ 3 über die
Residenz (rechts) und den Englischen Garten.
In den ersten Kriegsjahren werden Luftschiffe wie
dieses Angst und Schrecken in Paris
und London verbreiten.
Menschen im Krieg
Menschen im Krieg
Vorahnungen
Vorahnungen
tigen, internationalen Finanzströmen, dem
unbändigen Wunsch nach Frische und Aufbruch. Rastlosigkeit treibt die Politik, Sicherheiten gehen verloren. Wie vor einhundert Jahren sind die politischen Führungsfiguren der
Verlockung des Nationalismus ausgesetzt, suchen nach Identität in selbst gezogenen Grenzen, ob auf der Krim, in Schottland oder Katalonien. Sie hoffen auf Klarheit und Überschaubarkeit in einem scheinbar überregulierten
Kontinent. Wie vor hundert Jahren klopft der
Krieg an die Pforten Europas. Von Nordafrika
bis zur Ukraine ist Europa umgeben von einem
Ring instabiler bis kriegerischer Regionen.
Die alten Geister gehen um
Träume von deutscher Großmacht: Kaiser Wilhelm II. (vorne rechts) verfolgt 1911
ein Manöver der Hochseeflotte. 15 Jahre zuvor hatte er mit den Worten: „Der Dreizack gehört in
die deutsche Faust!“ eine neue, aggressive Flottenpolitik verkündet.
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Der Erste Weltkrieg schuf den Boden für die Totalitarismen, die Europa über die längste Phase
des 20. Jahrhunderts fesseln sollten: den Faschismus und den Kommunismus. Er bildete
die Ouvertüre zu der noch größeren Katastrophe, die sich schon nach Kriegsende 1918 abzeichnete. Aus den Trümmern zerstörter Herrscherhäuser und zerfallender Imperien, aus
überkommenen Machtstrukturen und unfertigen neuen Systemen erwuchs die nationalsozialistische Gewalt, die Europa vollständig in
Schutt und Asche legen sollte.
Selbst als die Totalitarismen verklungen waren, endgültig verzehrt mit der Niederlage des
Kommunismus im Kalten Krieg, mussten die
Europäer entsetzt feststellen, dass die Geister
von vor hundert Jahren nicht gebannt waren.
Auf dem Balkan zogen die Menschen in den
1990er Jahren mit Blut neue Grenzen, die schon
hundert Jahre zuvor keinen Frieden garantieren
konnten. In Nordafrika und Nahost schliffen
wachsender Wohlstand, steigende Religiosität
und Terrorismus die Strukturen, die der Kolonialismus quasi als letzten Gruß hinterlassen hatte. Und wie eine zynische Mahnung an die Erinnerungsindustrie entzündete sich pünktlich
zum Jahrhundertgedenken die Ukraine-Krise –
in ihrem Kern ein klassischer Konflikt um Einflusszonen und Selbstbestimmung; ganz tief
aber auch ein europäischer Urkonflikt an einer
Bruchlinie, die über Jahrhunderte hinweg von
Religion, Sprache und Kultur gezogen worden
ist. West gegen Ost – ein Leitmotiv für den Unfrieden in Europa.
Der politische Kalender hielt 2014 aber auch
eine positive Botschaft parat: Ausgerechnet in
Die erste moderne Seeschlacht
entschied 1905 Japan bei Tsushima für
sich. Auf dieser Postkarte bejubeln Matrosen
des Tenno den Untergang eines
russischen Schiffes.
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Menschen im Krieg
Vorahnungen
Vorboten: Dem großen Krieg gingen allein
zwei Krisen auf dem Balkan voraus. Oben türkische
Infanteristen, unten türkische Flüchtlinge 1912.
Rivalität mit Frankreich:
Im Kampf um Einfluss in Afrika besucht
Wilhelm II. (mit Pickelhaube) 1905 die
marokkanische Hafenstadt Tanger.
diesem Jahr 2014 waren die meisten Europäer
aufgerufen, ihre Stimme für das wohl wichtigste Friedensprojekt abzugeben, das sie sich je
geschaffen haben – die Europäische Union. Die
Wahl zum Europaparlament erinnerte sie daran, wie mühsam es ist, in ihren Grenzen für
Frieden zu sorgen. Die Gemeinschaft der Staaten, hervorgegangen aus der deutsch-französischen Montanunion und noch längst nicht
vollendet mit der letzten Erweiterungsrunde
2013, hat verstanden, dass ihr Frieden nur dann
sicher ist, wenn sie die Lehren von 1914 beherzigt. Und die heißen nun mal: Der Nationalismus und die ungleiche Verteilung von Macht
und Wohlstand führen Europa ins Verderben.
Deswegen musste die Europäische Union in ihrem Wesen eine Gemeinschaft zur Nivellierung
von Macht und zur Gleichverteilung von Chancen sein.
Der Erste Weltkrieg war deshalb auch die Geburtsstunde der europäischen Gemeinschaftsbewegung, die es sich zum Ziel setzte, die immer
selben Kriegsauslöser zu bannen. Das sind Geografie und Ideologie. Geografie: Das stets zu
starke und ruhelose Deutschland in der Mitte
des Kontinents, dieser viel-analysierte SemiHegemon – zu klein, den Kontinent zu dominieren, zu groß, sich in das Gefüge der Nationen
einzureihen. Und Ideologie: dieser Wettbewerb
um die gerechte Staatsform, bei dem sich zunächst in Westeuropa, dann im Süden, später in
der Mitte die Westminister-Demokratie durchsetzte – allerdings nur mit Hilfe der USA und
den Kräften der freien und sozialen Marktwirtschaft.
Gebannt sind die bösen Geister damit nicht,
wie die Debatte um die Verfasstheit Europas, die
Rolle seines Parlaments oder etwa die Währungskrise zeigen. Diese Krise zum Beispiel hat
erneut den Hegemon in der Mitte des Kontinents
auferstehen lassen.
Unvermittelt ist er also wieder zu spüren, dieser heiße Atem der Geschichte; da erklingen sie
wieder, die unheilvollen Motive der europäischen Vergangenheit. Wer heute behauptet, die
Europäische Union lasse sich nicht mehr mit
dem Wunsch nach Kriegsvermeidung begründen, der hat die Geschichte nicht verstanden.
Die nämlich lässt sich nicht ablegen wie ein zerschlissener Mantel. Auch hundert Jahre später
nicht.
St e fa n Kor n e l i us
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