Jesus der Eckstein

Ansprache von Marienschwester Joela Krüger am Israelsonntag auf Kanaan,
9. August 2015, in der Jesu-Ruf-Kapelle
DER STEIN, DEN DIE BAULEUTE VERWORFEN HABEN,
IST ZUM ECKSTEIN GEWORDEN. DAS IST VOM HERRN GESCHEHEN UND IST EIN
WUNDER VOR UNSEREN AUGEN.
Psalm 118, 22-23
Jesus konnte davon ausgehen, dass jeder Jude diesen Psalmvers kannte. Während einer Auseinandersetzung mit Seinen Gegnern weist Jesus ausdrücklich auf diese Stelle hin. Vers 22 ist ein
prophetischer Schlüssel-Vers. Darin wird der Leidensweg Jesu, Seine Auferstehung und Gottes
Absicht zum Ausdruck gebracht, einen neuen Tempel aufzubauen.
Diese Psalmstelle führt uns zu einer anderen prophetischen Aussage Jesu, die ebenso gleichnishaft
darauf hinweist. In Johannes 2,19-21 lesen wir über eine Auseinandersetzung mit seinen Gegnern
bei der ersten Tempelreinigung:
Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn
aufrichten. Da sprachen die Juden: Dieser Tempel ist in sechsundvierzig Jahren erbaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten? Er aber redete von dem Tempel seines Leibes.
Jesus sprach vom Tempel Seines Leibes, und das geschah gleich am Anfang Seines Wirkens. Dieselbe Aussage taucht am Ende Seines Weges noch einmal auf, und sie wird beim Prozess gegen
Jesus als entscheidende Waffe gegen Ihn eingesetzt. Wir lesen in Matth.26,60-64:
Obwohl viele falsche Zeugen herzutraten, fanden sie doch nichts. Zuletzt traten zwei herzu
und sprachen: Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in drei Tagen aufbauen. Und der Hohepriester stand auf und sprach zu ihm: Antwortest du nichts auf das, was
diese gegen dich bezeugen? Aber Jesus schwieg still. Und der Hohepriester sprach zu ihm: Ich
beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, dass du uns sagst, ob du der Christus bist, der Sohn
Gottes.
Jesus sprach zu ihm: Du sagst es.
Doch sage ich euch: Von nun an werdet ihr sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der
Kraft und kommen auf den Wolken des Himmels.
Nichts konnte man gegen Jesus anführen, aber diese Aussage führte zu Seiner Verurteilung zum
Tod. Vor Seinen Gegnern wurde darin der wunderbare Plan Gottes angedeutet, dass durch das
Opfer Seines Sohnes ein neuer Tempel aufgebaut werden sollte.
Wegen dieser Anmaßung sollte Jesus als Gotteslästerer gesteinigt werden. Aber weil die Juden zu
diesem Zeitpunkt Todesstrafen nicht ausführen durften, mussten sie eine Anklage finden, die bei
den Römern Gehör fand.
Jüdische Religionsfragen interessierten einen römischen Statthalter nicht, wohl aber politische
Machtfragen. Darum wurde die Anklage von der religiösen auf die politische Ebene verschoben.
Durch diesen Umstand wurden wir Heiden aus den Nationen in den wichtigsten Prozess der
Menschheitsgeschichte einbezogen.
Matthäus berichtet über das Verhör vor Pilatus nur einen Satz (Matth. 27,11):
Jesus aber stand vor dem Statthalter; und der Statthalter fragte ihn und sprach: Bist du der
König der Juden? Jesus aber sprach: Du sagst es.
Genauso klar wie Jesus vor Seinen jüdischen Anklägern bezeugt hatte, dass Er Gottes Sohn ist,
genauso klar bejaht Er nun vor der weltlichen Obrigkeit, dass Er der König der Juden ist.
Das Ja zum Gottessohn kennen wir und haben es vermutlich alle gesprochen. Wir haben das
Sühnopfer Jesu, unsere Errettung und Erlösung in Anspruch genommen und leben in großer
Dankbarkeit davon.
Doch das Ja zum König der Juden haben wir zumeist noch nicht zu unserem eigenen Bekenntnis
gemacht. Dieses zweite Ja muss ebenfalls von Bedeutung sein, sonst hätte diese Selbstaussage Jesu
nicht zu Seiner Kreuzigung geführt. Darum lohnt es sich, darüber nachzudenken.
Dass wir an dieser Stelle auf Nachhilfe angewiesen sind, hat seinen Grund. Obwohl Jesus Pilatus
deutlich gesagt hatte, dass Sein Reich nicht von dieser Welt ist, enthielt dieses Ja zum König der
Juden dennoch von Anfang an eine unangenehme politische Komponente. Wir haben jahrhundertelang versucht ihr auszuweichen. Allgemein bekannte Schlagworte wie "Antisemitismus",
"Antijudaismus", "Antizionismus" lassen etwas davon ahnen, dass wir unbewusst dagegen kämpfen.
Auch wenn unsere persönliche Errettung nicht vom Bekenntnis zum König der Juden abhängt, so
hängt doch etwas anderes davon ab: Die Vollendung des Tempelbaus - die Vollmacht und Vollendung der Gemeinde Jesu!
Genauso untrennbar wie der Gottes- und Menschensohn, wie Gottes- und Mariensohn, zusammengehören, so sind der Gottessohn und der König der Juden untrennbar.
Damit wir unseren König besser kennenlernen, folgen wir dem Prozess gegen Jesus in seine
entscheidende Phase. In Pilatus und seiner römischen Besatzungstruppe, die Repräsentanten der
Heidenvölker sind, können wir uns als Mitbeteiligte wiederfinden.
Dabei werden wir feststellen:
Durch Römer wurde Jesus zum Tode verurteilt durch Römer wurde der Tempel Seines Leibes zerstört durch Römer wurde Jesus mit Dornen gekrönt und als König der Juden verhöhnt.
Wir hören aus Matthäus 27 einige Verse über die Verhöhnung Jesu bei der Dornenkrönung und
daran anschließend Seine Verhöhnung unter dem Kreuz. Diese letzte Verhöhnung zielt gleichermaßen auf Jesus den Gottessohn und auf Jesus den König der Juden.
Wir lesen Matth.27,28-30 und die Verse 37,39-42
Sie zogen ihn aus und legten ihm einen Purpurmantel an und flochten eine Dornenkrone und
setzten sie ihm aufs Haupt und gaben ihm ein Rohr in seine rechte Hand und beugten die
Knie vor ihm und verspotteten ihn und sprachen: Gegrüßet seist du, der Juden König!, und
spien ihn an und nahmen das Rohr und schlugen damit sein Haupt.
Oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus,
der Juden König. Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du
Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester
mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andern hat er geholfen und kann sich
selber nicht helfen. Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen
wir an ihn glauben.
Den Abschluss des Prozesses bildete der Streit um die Kreuzesinschrift. Sie wurde von Pilatus
amtlich festgelegt und dreisprachig veröffentlicht. Die Hohenpriester erhoben deswegen Einspruch bei Pilatus und drängten ihn zur Korrektur mit folgendem Argument: Schreibe nicht: "Der
König der Juden", sondern dass er gesagt hat: "Ich bin der König der Juden". (Joh.19,21-22)
Pilatus aber blieb dabei: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben!
So ist es bis heute geblieben, und so steht es an den meisten Kruzifixen: "Jesus von Nazareth,
König der Juden" - (Jesus Nazarenus, Rex Judaeorum). In der Tradition der Kirchengeschichte ist
dieser Titel zur Abkürzung INRI geworden. Er enthält eine schwerwiegende Aussage, die wir uns
nicht klar machen .
In dieser Stunde der Besinnung wollen wir bewusst an unserem Kruzifix ein INRI anbringen klein darüber und darunter steht der hebräische und der griechische Text.
(Anbringen und Ausrufen der Kreuzesinschrift in den drei Sprachen)
***
Auf dem von Menschen verworfenen Stein wurde der Tempel der Gemeinde Jesu erbaut - das ist
vom Herrn geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen!
Nun wartet der Herr auf unser JA zum König der Juden, damit der Tempelbau vollendet werden
kann. Diese Vollendung ist ebenso menschlich unmöglich. Sie kann auch nur vom Herrn geschehen und wird ein Wunder vor unseren Augen sein.
Der Tempelbau der Gemeinde Jesu ist tatkräftig in Angriff genommen worden und hat in den
Jahrhunderten eine erstaunliche Größe erreicht. Doch irgendwo scheint er steckengeblieben zu
sein. Jesus warnt vor der Gefahr, einen Bau zu beginnen und ihn unvollendet liegenzulassen, weil
man vorher die Kosten nicht überschlagen hat. Dann wird das Bauwerk in seinem unvollendeten
Zustand zum Spott für die Welt. Das darf um keinen Preis geschehen!
Im ökumenischen Bauplan der Kirche sollten katholische und evangelische Gläubige, Anglikaner,
Pfingstler, Orthodoxe, Kopten - alle, die Jesus Christus als ihren Herrn bekennen und von Seinem
Sühnopfer leben, einen Platz haben. Aber selbst wenn wir von diesen optimalen Bedingungen
ausgehen, entsprechen sie nicht dem Plan unseres himmlischen Architekten und Bauherrn. Denn
in Seinem Bauplan geht es nicht um mehr oder weniger versöhnte Verschiedenheiten. Es geht
Ihm um eine vollkommene Einheit zwischen zwei verschiedenen Gruppen: Gläubige aus Juden
und Gläubige aus den Nationen. Beide Teile sollen sich unter der Herrschaft des Königs der Juden
zusammenfinden zu einer Herde unter einem Hirten.
Wir haben uns alle vom biblischen Gemeinde-Aufbauprogramm weit entfernt, weil unser ökumenisches Denken den jüdischen Teil wie ausgeblendet hat. In Eph.2,19-22 wird dieses vergessene
Gemeindeprogramm deutlich beschrieben. Es richtet sich speziell an uns Gläubige aus den Nationen:
So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der
Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinander gefügt wächst zu einem heiligen Tempel in
dem Herrn. Durch ihn werdet auch ihr mit erbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.
Hier wird ein ganz anderer Blickwinkel vorausgesetzt. Nicht: Wir beziehen die Juden mit ein,
sondern umgekehrt - sie beziehen uns mit ein! Und wir müssten von großer Dankbarkeit erfüllt,
antworten: Welch eine Gnade, dass Gott Seinen Bund auf uns ausgeweitet hat und uns überhaupt
in Seinen Tempelbau hineinnimmt!
Es ist nicht wegzuleugnen, dass unser Fundament aus jüdischen Aposteln, jüdischen Propheten
und aus dem jüdischen Eckstein besteht. Doch der weiterführende Kirchenbau wurde weitgehend
ohne jüdische Steine betrieben, sogar oftmals auf Kosten jüdischer Steine!
Weil die Fachleute des Kirchenbaus die jüdischen Steine für ungeeignet und unbrauchbar erklärt
haben, hat sich die Vollendung des Tempelbaus hinausgeschoben. Er wurde blockiert und aufgehalten durch jahrhundertelange Pogrome und viel irreführende Theologie.
In Nazi-Deutschland wurden sogar mithilfe des Arierparagraphen unerkannt gebliebene jüdische
Christen gesucht, gefunden und aus dem Kirchenbau selektiert - allein über hundert jüdische
Pfarrer wurden aus ihrem Amt entlassen.
Wir wollten eine "judenreine" Kirche, weil wir den König der Juden nicht anerkannt haben. Wir
haben die Verwerfung des jüdischen Ecksteins fortgesetzt, indem wir Sein Volk verworfen haben.
Wir taten das Umgekehrte von dem, wozu uns Gott berufen hat.
Und die Geschichte ist damit noch nicht am Ende. Unseren jüdischen Geschwistern, die wie in
der Urgemeinde selbstverständlich ihr Jüdisch-sein nicht verleugnen und an Jesus glauben, wurden auch in diesem Jahr nicht vorbehaltlos die Türen beim Kirchentag geöffnet - theologische und
kirchenpolitische Bedenken standen dem im Wege.
Wenn die Kirche Jesu Christi fortbestehen und vollendet werden soll, muss eine Hinwendung zum
König der Juden geschehen, der der König Israels ist. Juden und Israel gehören zusammen. Das ist
seit 1948 wieder zu einer geschichtlichen Tatsache geworden.
In dieser Tatsache taucht erneut eine unangenehme politische Komponente auf, der wir lieber aus
dem Weg gehen. Auch Jerusalem ist keine neutrale Stadt. Diesen Ort hat Gott für den Bau des ersten Tempels erwählt. Jesus spricht von Jerusalem als von der "Stadt des großen Königs" (Matth.5,35)
Es ist die einzige Stadt, von der wir wissen, dass sie eine gewaltige Zukunft hat. Wohl hat Jesus
prophetisch über Jerusalem ausgesagt, dass die Stadt von den Nationen zertreten wird, aber nur
solange bis die Zeiten der Nationen erfüllt sind (Luk.21,24). Vielleicht würde uns Jesus heute sagen:
"Wenn ihr schweigt aus Menschenfurcht und Feigheit, werden die Steine schreien!"
Jesus ist Eckstein und Schlussstein des geistlichen Tempelbaus. Er ist A und O, der Erste und der
Letzte, der Anfang und das Ende - Er, der da ist, der da war und der da kommt!
Mit der Frage: "Wo ist der neu geborene König der Juden?" begann unsere Geschichte mit Jesus,
mit dem Bekenntnis zum König der Juden wird sie beendet werden.
Jesus betont Seine jüdische Identität in Seinem letzten "ICH BIN"- Wort, im letzten Kapitel der
Bibel, mit den Worten in Off.22,16:
Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern.
Der erste Gemeindeleiter in Jerusalem, den Jesus selbst für den Bau Seiner Gemeinde eingesetzt
hat, ruft uns an diesem Israelsonntag zu (1.Petr.2,4-5):
Kommt zu ihm als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei
Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen
Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind
durch Jesus Christus.
Wir fragen daraufhin: Wie sollen diese lebendigen Steine beschaffen sein, und wie sehen die geistlichen Opfer aus, die in diesen Tempel eingebaut werden?
Brauchbare Steine halten sich frei von Rivalitätsdenken, Neiden, Streiten und Rechthabereien.
Denn der König der Juden ist sanftmütig und von Herzen demütig. Es geht zwar um ein klares
mutiges Bekenntnis zu Ihm, aber entscheidend ist der Geist, in dem es geschieht. Daran entscheidet sich, ob wir aufbauend oder zerstörend wirken.
Brauchbare Steine sind bereit, sich von Bauleuten verwerfen zu lassen. Denn sie stehen in der
Nachfolge dessen, der sich von den Bauleuten verwerfen ließ. Das ist schmerzhaft.
Aber wir werden es durchhalten können, wenn wir als Teil unserer Kirchen und Gemeinden im
Herzen behalten, dass wir an der Verwerfung Seines Bundesvolks beteiligt waren.
Für diesen nicht leichten Weg hat der Herr einen großen Trost für uns bereit: Gott hält Ausschau
nach zerbrochenen Steinen! Mit zerbrochenen Steinen will Er Seinen Tempel bauen und vollenden - unsere Schwachheit macht uns tauglich!
Als damals unsere Schwestern in den Trümmerhalden Darmstadts nach Bausteinen suchten, um
die Mutterhauskapelle aufzubauen, waren sie immer darauf angewiesen, ganze Steine zu finden.
Manchmal war das eine lange Suche.
Gott sucht nach zerbrochenen Steinen, nach denen Er oft auch lange suchen muss. Aber in den
bevorstehenden gewaltigen Turbulenzen der beginnenden Endzeit wird sich dieser Prozess beschleunigen - Dank sei Gott!
Für die letzte Bauphase vor der Wiederkunft Jesu ermutigt uns der Herr durch den Propheten
Sacharja in Kapitel 4. Auch damals ging es um den Bau des Tempels. Alle am Bau Beteiligten sollten die Tage der geringen Anfänge nicht verachten, sondern erwarten, dass sie mit Freuden den
Schlussstein sehen werden. Das schien damals unmöglich zu sein, und erst recht scheint es heute
unmöglich zu sein - aber die Garantie für dieses große Werk übernimmt Gott selbst:
So spricht der Herr Zebaoth: Es soll geschehen nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch
meinen Geist! Sacharja 4,6
Wir wollen heute gemeinsam vor unseren Herrn treten in dem Dank, dass Er auf unseren geringen Anfang wartet.
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