Singuläre Existenzaussagen Tobias Rosefeldt Unter

Philosophie und/als Wissenschaft
Proceedings der GAP.5, Bielefeld 22.–26.09.2003
Singuläre Existenzaussagen
Tobias Rosefeldt
Unter singulären Existenzaussagen verstehe ich im folgenden Aussagen, die man im
Deutschen durch singuläre Existenzsätze ausdrückt, also Sätze der Form „α existiert
(nicht)“, in denen an der Stelle von „α“ ein singulärer Term steht, wobei ich mich zumeist auf solche Fälle beschränke, in denen dieser singuläre Term ein Eigenname ist.
Singuläre Existenzaussagen sind zu einigem philosophischen Ruhm gelangt, weil sie,
anders als andere singuläre Aussagen, die unangenehme Eigenschaft haben, daß es ausgeschlossen zu sein scheint, daß sie in negierter Form wahr sind. Wer einen Satz äußert
wie
(1)
Frank Castorf insistiert nicht.
der sagt genau dann etwas Wahres, wenn die durch den Namen „Frank Castorf“ bezeichnete Person – der berühmte Stückezertrümmerer und Chef der Berliner Volksbühne – nicht insistiert. Mit einem Satz wie
(2)
Hans Castorp existiert nicht.
sagt man aber nicht dann etwas Wahres, wenn die durch den Namen „Hans Castorp“
bezeichnete Person nicht existiert. Wenn Hans Castorp nicht existiert – und das ist es,
was man durch die Äußerung des Satzes behaupten will –, dann gibt es keine Person,
die durch den Namen „Hans Castorp“ bezeichnet wird und also auch niemanden, von
dem man durch die Äußerung dieses Satzes wahrheitsgemäß sagen könnte, daß er nicht
existiert. Und wenn es so jemanden doch geben sollte, dann ist das mit dem Satz Gesagte falsch. Zweifellos ein unangenehmes Dilemma.
Eine klassische Lösung des Dilemmas – nennen wir sie die Frege-Russell-QuineLösung – besteht darin zu behaupten, daß die Oberflächenform singulärer Existenzsätze
trügerisch ist, und daß die Propositionen, die man durch solche Sätze zum Ausdruck
bringt, gar keine singulären Propositionen sind. Der Unterschied zwischen den tatsächlichen logischen Formen von Sätzen wie (1) und (2) käme bei einer Übersetzung dieser
Sätze in eine formale Sprache dadurch heraus, daß Existenzsätze als quantifizierte Sätze
wiedergegeben würden:
(1*)
(2*)
~Fa
~∃xFx
Die Frege-Russell-Quine-Lösung des Dilemmas negierter singulärer Existenzaussagen
hat heute nicht mehr viele Anhänger. Analysen wie (2*) scheinen vielen Philosophen
mit keiner der heute vorherrschenden Auffassung über die Bedeutung von Eigennamen
verträglich zu sein. Vertreter der Theorie der direkten Bezugnahme behaupten, daß singuläre Terme zu der Proposition, die der Satz, in dem sie vorkommen, ausdrückt, nichts
als den bezeichneten Gegenstand selbst beisteuern. Und zeitgenössische Fregeaner
nehmen zwar an, daß mit singulären Termen Fregesche Sinne verbunden sind, bestreiten für die allermeisten Fälle aber, daß sich dieser Sinn mit Hilfe einer Beschreibung
explizit machen läßt, so daß es unmöglich zu sein scheint, plausible umgangssprachliche Entsprechungen für das Prädikat „F“ in (2*) zu finden. Ebenfalls unvereinbar mit
der klassischen Lösung scheint zu sein, daß zumindest in manchen Fällen Quantifikation in die Position von Namen in singulären Existenzsätzen möglich ist. So scheint z.B.
Satz (4) aus Satz (3) zu folgen, und Satz (3) aus Satz (5) zusammen mit der Annahme,
daß Frank Castorf ein Mensch ist:
(3)
(4)
(5)
Frank Castorf hätte auch nicht existieren können.
Es gibt jemanden, der auch nicht hätte existieren können.
Jeder Mensch hätte auch nicht existieren können.
Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von Alternativen zur klassischen Lösung des Dilemmas singulärer Existenzaussagen, die versuchen, auf die Annahme zu verzichten, daß
die logische Form eines Satzes wie (2) nicht die von Sätzen wie (1) oder (1*) ist.1 Hätte
ich hier mehr als 5000 Wörter zur Verfügung, würde ich etwas dazu sagen, weswegen
ich keine dieser Alternativen plausibel finde. Ich werde mich statt dessen darauf beschränken, eine Lanze für die Frege-Russell-Quine-Lösung zu brechen, und zu zeigen
versuchen, daß sie keineswegs eine abwegige Theorie der Bedeutung von Namen oder
anderen singulären Terme voraussetzt. Alle Sätze der Form „α existiert (nicht)“ lassen
sich meiner Ansicht nach auf plausible Weise logisch als Aussagen der Form „(~)∃xFx“
analysieren, solange man beachtet, daß das Schema, nach dem man Einsetzungen für
„F“ gewinnt, nicht für alle Einsetzungen für „α“ dasselbe ist. Meiner Meinung nach
sollte man die folgenden vier Fälle unterscheiden: (i) „α“ ist ein nicht-leerer singulärer
Term für ganz normale Dinge; (ii) „α“ ist eigentlich ein singulärer Term für ganz normale Dinge, erfüllt diese Funktion jedoch nicht; (iii) „α“ ist ein deskriptiver Name; (iv)
„α“ ist ein Name, der in fiktionalen Kontexten verwendet wird.
„α“ ist ein nicht-leerer Name für ganz normale Dinge
(i)
Nehmen wir an, die Funktion eines Namens wie „Frank Castorf“ ist keine andere als
die, einen Gegenstand zu bezeichnen, und der Name ist weder eine Abkürzung für eine
Kennzeichnung noch hat er denselben Fregeschen Sinn wie eine Kennzeichnung. Wenn
wir Satz (6) als (6*) analysieren wollen
(6)
(6*)
1
Frank Castorf existiert nicht.
~∃xFx
Vgl. in letzter Zeit z.B. Chakrabarti 1997, Salmon 1998, McGinn 2000.
343
dann sollten wir für „F“ eine Einsetzung finden, die garantiert, daß das mit (6*) Gesagte
notwendigerweise genau dann wahr ist, wenn Castorf höchstpersönlich nicht existiert –
und nicht etwa, wenn es niemanden gibt, der „Frank Castorf“ heißt, der ein berühmter
ostdeutscher Klassikerzertrümmerer und Chef der Berliner Volksbühne im Jahre 2003
ist, oder Ähnliches. Eine auf den ersten Blick naheliegende Einsetzung für „F“ wäre ein
Prädikat, das die Eigenschaft ausdrückt, mit Castorf identisch zu sein, denn Castorf existiert genau dann nicht, wenn nichts die Eigenschaft hat, mit ihm identisch zu sein.
Wenn wir „a“ als Übersetzung von „Castorf“ verwenden, lautete die Übersetzung von
(6) also:
(6.a)
~∃x(x = a)
Ein Problem mit (6.a) ist, daß es sich in modalen Einbettungen wie in (3.a) nicht auf die
gewünschte Weise verhält:
(3)
(3.a)
Castorf hätte auch nicht existieren können.2
◊~∃x(x = a)
Aus (3.a) folgt, anders als aus (3), nicht nur, daß es jemanden gibt, der möglicherweise
nicht existiert (vgl. Satz (4)), sondern daß es möglicherweise jemanden gibt, der nicht
existiert:
(7.a)
◊∃y~∃x(x = y)
(7.a) ist logisch falsch.
Das Problem an den Formulierungen (6.a) und (3.a) ist, daß sie einen nicht zwischen
den beiden folgenden Aussagen unterscheiden lassen:
(8)
(9)
Es gibt (möglicherweise) nichts, das die Eigenschaft hat, mit Castorf identisch zu
sein.
Castorf hat (möglicherweise) die Eigenschaft, mit nichts identisch zu sein.
Ich denke, es ist intuitiv plausibel, daß nicht jede Situation, in der nichts die Eigenschaft
hat, mit Castorf identisch zu sein, eine Situation ist, in der Castorf die Eigenschaft hat,
mit nichts identisch zu sein. Um letztere Eigenschaft zu haben, müßte Castorf existieren, damit ersteres der Fall ist, müßte er das nicht tun. Zur Erläuterung ein kleines Gedankenexperiment zum Thema Abwesenheit: Ich suche mein Exemplar von Sartres Das
Sein und das Nichts in meiner Bibliothek. Ich finde es nicht, untersuche schließlich verzweifelt jedes Buch. Keines davon ist mein Das Sein und das Nichts-Exemplar. Eine
2
Obwohl bei einer Äußerung von Sätzen der Form „so-und-so hätte auch nicht existieren können“
zumindest implikiert ist, daß so-und-so tatsächlich existiert, werde ich dies in der logischen Reformulierung der Einfachhheit halber vernachlässigen.
344
Woche später finde ich es in einer Kiste im Keller. Welcher Sachverhalt konstituiert das
Fehlen des Sartre-Buches in meiner Bibliothek? Der Sachverhalt, daß kein Buch in
meiner Bibliothek mein Das Sein und das Nichts-Exemplar (d.h. mit diesem identisch)
ist? Oder der Sachverhalt, daß sich mein Das Sein und das Nichts-Exemplar in einer
Kiste im Keller befindet und also nicht in meiner Bibliothek? Mir scheinen in diesem
Fall beide Antworten gleichermaßen plausibel. Jetzt stelle man sich eine Situation vor,
in der Das Sein und das Nichts nie geschrieben wurde und ich deswegen auch kein Exemplar davon besitze. Meine Bibliothek ist haargenau so beschaffen wie in dem Fall, in
dem das Sartrebuch im Keller liegt. Es scheint unbestreitbar, daß in einem bestimmten
Sinne auch in diesem Fall das Buch in meiner Bibliothek fehlt, denn auch in diesem Fall
hat keines der Bücher in meiner Bibliothek die Eigenschaft, mit dem besagten Das Sein
und das Nichts-Exemplar identisch zu sein. Aber in diesem Fall liegt das nicht daran,
daß sich das Buch irgendwo anders befindet. Es ist auf sehr viel fundamentalere Weise
abwesend als im ersten Fall. Man könnte sagen: Sein Fehlen wird allein durch die Bücher in meiner Bibliothek konstituiert, d.h. dadurch, daß ihnen allen eine bestimmte
Eigenschaft fehlt, nicht aber dadurch, daß das Buch eine bestimmte Eigenschaft hat,
z.B. die, mit keinem Buch in meinem Regal identisch zu sein. Um diese Eigenschaft zu
haben, müßte es existieren.
Ich habe dieses Beispiel angeführt, weil manche Leute Intuitionen dahingehend haben, daß die Eigenschaft, mit Castorf identisch zu sein, nicht existieren könnte, wenn
Castorf nicht existierte. Mir geht diese Intuition ab. Eigenschaften sind abstrakte
Gegenstände und sie können prinzipiell existieren, ohne exemplifiziert zu sein. Zwar ist
es für die Eigenschaft, ein Hund zu sein, wesentlich, nur von Hunden exemplifiziert
werden zu können, aber das schließt nicht aus, daß es zwar keine Hunde gibt, wohl aber
die nicht-exemplifizierte Eigenschaft, ein Hund zu sein. Wenn es Castorf nicht gäbe,
gäbe es dennoch die Eigenschaft, mit ihm identisch zu sein, nur wäre sie eben nicht exemplifiziert. Es wird an dieser Stelle in der Regel darauf hingewiesen, daß auch Mengen
Abstrakta sind, aber trotzdem ontologisch abhängig von ihren Elementen. In einer Welt,
in der Castorf nicht existiert, existiert auch seine Einermenge nicht. Das ist richtig, nur
gibt es im Falle von Eigenschaften nichts, was der essenziellen Beziehung zwischen
einer Menge und ihren Elementen entspricht. Es gehört z.B. nicht zum Begriff einer
Eigenschaft – auch nicht einer relationalen –, daß Eigenschaften Gegenstände als Teile
oder Elemente haben. Wer dennoch davon sprechen will, daß etwa die Eigenschaft,
Castorfs Freund zu sein, Castorf als Teil enthält, verwendet den Ausdruck „Eigenschaft“ anders, als ich es hier tue.
Nehmen wir also an, die Eigenschaft, mit Castorf identisch zu sein, kann existieren,
ohne daß Castorf existiert. Was wissen wir sonst von dieser Eigenschaft? Sie wird durch
die komplexen Prädikate „ist identisch mit Castorf“ bzw. „= a“ ausgedrückt, denen als
Extension in allen möglichen Welten, in denen Castorf existiert, Castorfs Einermenge
zugeordnet wird, und in allen Welten, in denen er nicht existiert, die leere Menge. In den
ersteren exemplifiziert etwas die genannte Eigenschaft, in letzteren nicht. Ich werde die
hier verwendete logische Sprache um eckige Klammern als intensionale Abstraktions-
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ausdrücke erweitern, so daß ein Ausdruck der Form „[φ]“ starr die tatsächliche Intension
von „φ“ bezeichnet. Der Ausdruck „[= a]“ bezeichnet also in allen möglichen Welten
die Eigenschaft, die tatsächlich durch „= a“ ausgedrückt wird, d.h. die Eigenschaft, mit
Castorf identisch zu sein. Ferner verwende ich „∆“ als Konstante für das Exemplifikationsverhältnis, so daß „∆a[= a]“ als „a exemplifiziert die Eigenschaft, mit a identisch
zu sein“ zu lesen ist. Eine erste verbesserte Reformulierung von Satz (3.a) wäre dann:
(3.b)
◊~∃x∆x[= a]
Da die Individuenkonstante „a“ hier als Teil eines Ausdrucks in eckigen Klammern
vorkommt, kann sie nicht durch eine objektual quantifizierbare Variable ersetzt werden,
so daß (3.b) keine unangenehme Implikation wie (7.a) hat.3 (3.b) hat allerdings den
Nachteil, daß wir nun auch nicht mehr erklären können, wie daraus, daß Castorf auch
nicht hätte existieren können, folgt, daß es jemanden gibt, der auch nicht hätte existieren
können. Die Sätze (4) und (5) wären nicht analysierbar. Ich schlage deswegen das folgende Manöver vor: Für jeden Gegenstand gibt es die Eigenschaft, mit ihm identisch zu
sein. Alle diese Eigenschaften sollen im folgenden „Identitätseigenschaften“ genannt
werden. Identitätseigenschaften werden in allen Welten, in denen sie überhaupt exemplifiziert werden, von ein und demselben Gegenstand exemplifiziert, und zwar werden
sie in allen Welten exemplifiziert, in denen dieser Gegenstand existiert. Es sei nun „e“
eine Variable, die auf Identitätseigenschaften beschränkt ist. Dann kann Satz (3) auf die
folgende Weise übersetzt werden:
(3)
(3.c)
Castorf hätte auch nicht existieren können.
∃e(∆ae & ◊~∃x∆xe)
(3.c) macht sich den Umstand zu Nutze, daß eine Identitätseigenschaft, die von Castorf
exemplifiziert wird, keine andere als [= a] sein kann. (3.c) ist also wahr, weil „(∆a[= a]
& ◊~∃x∆x[= a])“ wahr ist.4 Ferner ist nun klar, weshalb (4), nicht aber (10) aus (3)
folgt, und weshalb (3) aus (5) und der Annahme, daß Castorf ein Mensch ist, folgt:
3
4
Nicht für jede Bewertung von „F“ drückt der Satz „'(∆a[Fx] ↔ Fa)“ also etwas Wahres aus, was man
akzeptieren sollte, wenn man den oben erwähnten Unterschied zwischen Satz (8) und (9) akzeptiert. In
einer Welt, in der Schlingensief existiert nicht aber Castorf, hat Schlingensief die Eigenschaft, nicht mit
Castorf identisch zu sein, nicht aber Castorf die Eigenschaft nicht mit Schlingensief identisch zu sein.
Die Grundidee meines Analysevorschlages für Satz (3) ähnelt der von Wiggins (vgl. Wiggins 1994),
ohne einen entscheidenden Nachteil von diesem zu übernehmen. Wiggins würde (3) mit Hilfe höherstufiger Quantifikation folgendermaßen analysieren: ∃X(∀x(Xx ↔ x = a) & ◊~∃xXx) (vgl. ibid. 103).
Die Bedingung, die durch „∀x(Xx ↔ x = a)“ an die Eigenschaft gestellt wird, von der gesagt wird,
daß möglicherweise nichts sie hat, ist allerdings zu schwach. Die Eigenschaft, Intendant der Berliner
Volksbühne im Jahr 2003 zu sein, z.B. haben de facto alle Gegenstände genau dann, wenn sie identisch mit Frank Castorf sind. Wiggins Reformulierung von Satz (3) könnte deswegen selbst dann wahr
sein, wenn Castorf notwendigerweise existiert, solange es nur Welten gibt, in denen dort niemand Intendant der Volksbühne im Jahr 2003 ist. Die modale Aufrüstung von Wiggins Vorschlag –
346
(4)
(4.c)
Es gibt jemanden, der auch nicht hätte existieren können.
∃y∃e(∆ye & ◊~∃x∆xe)
(10)
(10.c)
Möglicherweise gibt es jemanden, der nicht existiert.
◊∃y∃e(∆ye & ~∃x∆xe)
(5)
(5.c)
Jeder Mensch hätte auch nicht existieren können.
∀y(My → ∃e(∆ye & ◊~∃x∆xe))
Obwohl ich mich hier zu anderen Lösungen des Dilemmas singulärer Existenzaussagen
weitgehend ausschweige, möchte ich doch eine kurze Bemerkung dazu machen, weshalb ich meine Analyse von Satz (3) der gängigsten Alternative dazu vorziehe. Dieser
Alternative zufolge ist Existenz – genauso wie z.B. die Eigenschaft, mit sich selbst
identisch zu sein – eine essenzielle Eigenschaft jedes Gegenstandes, also eine Eigenschaft, die ein Gegenstand in jeder möglichen Welt hat, in der er existiert. Satz (3) wird
folgendermaßen analysiert:
(3)
(3.d)
Castorf hätte auch nicht existieren können.
◊~Ea
Im Rahmen der sgn. negativen freien Logik wird die Wahrheit von (3) dann dadurch
erklärt, daß atomare Sätze als falsch bewertet werden, wenn sie leere Individuenkonstanten enthalten. In einer Welt, in der Castorf nicht existiert, ist „a“ leer, „Ea“ deswegen falsch und „~Ea“ wahr.5 Mein Hauptbedenken gegen diese Erklärung ist, daß
unter der Voraussetzung der genannten Wahrheitsbedingungen für atomare Sätze auch
der Satz (11.d) und also auch sein natürlichsprachliches Äquivalent (11) wahr wären:
(11)
(11.d)
Castorf hätte auch nicht mit sich selbst identisch sein können.
◊~(a = a)
Satz (11) scheint mir aber eindeutig falsch zu sein. Und selbst wenn es eine Lesart von
(11) und dem Ausdruck „so-und-so hätte auch nicht dies-und-dies sein können“ gibt, in
der (11) wahr ist, so gibt es doch sicherlich einen Sinn von „möglich“, in dem es für
Castorf unmöglich ist, nicht mit sich selbst identisch zu sein, aber möglich, nicht zu
existieren.
Ich möchte betonen, daß auch in meiner Analyse durch die Äußerung eines Satzes
wie:
5
∃X('∀x(Xx ↔ x = a) & ◊~∃xXx) –, mit der ich es in der Vortragsfassung dieses Textes versucht
hatte, verliert ihren Fregeanischen Charme und macht zudem die Verwendung höherstufiger Quantifikation überflüssig, denn sie impliziert die Wahrheit von „◊~∃x(x = a)“, was nur mit freier Logik zu
haben ist (besten Dank an Benjamin Schnieder fürs Insistieren hierauf!).
Vgl. z.B. Burge 1974 und Bostock 1997, Kapitel 8.
347
(12)
(12.c)
Castorf existiert.
∃e(∆ae & ∃x∆xe)
auf einen Gegenstand – Frank Castorf – Bezug genommen und diesem eine Eigenschaft
zugeschrieben wird. Diese Eigenschaft ist allerdings nicht die der Existenz, denn Existenz ist meinem Vorschlag zufolge keine Eigenschaft von Gegenständen. Es ist die
Eigenschaft, eine Identitätseigenschaft zu exemplifizieren, die exemplifiziert ist
(λy(∃e(∆ye & ∃x∆xe)). Wenn man sagt, daß der Gegenstand auch nicht existieren
könnte, sagt man nicht, daß er diese Eigenschaft auch nicht haben könnte, sondern
schreibt ihm die Eigenschaft zu, eine Identitätseigenschaft zu exemplifizieren, die auch
unexemplifiziert sein könnte. Dennoch implizieren die zu Beginn dieses Abschnitts gemachten Annahmen über den Namen „Castorf“, daß die Sätze (3) und (12) – und auch
die Negation von (12) – keinen Wahrheitswert hätten und nicht einmal eine Proposition
ausdrücken würden, wenn der Name „Castorf“ (in der wirklichen Welt) nichts bezeichnen würde. Wie ich im nächsten Abschnitt (ii) zeigen möchte, ist diese Konsequenz für
viele leere singuläre Terme durchaus plausibel, gilt aber – das ist das Thema der beiden
darauf folgenden Abschnitte (iii) und (iv) – für bestimmte Arten von leeren singulären
Termen nicht ausnahmslos.
(ii)
„α“ ist eigentlich ein Name für ganz normale Dinge, erfüllt diese Funktion jedoch
nicht
In der Literatur zu negierten singulären Existenzaussagen werden Sätze der Form „α
existiert nicht“ meist anhand von Fällen diskutiert, in denen „α“ ein Name ist, der aus
einem fiktionalen oder mythologischen Kontext stammt, also Namen wie „Hans
Castorp“ oder „Pegasus“. Dann wird behauptet, daß dieser Namen einerseits leer sind,
die Sätze, in denen sie vorkommen, aber einen gewissen Anspruch darauf haben, wahr
zu sein. Ich halte die Auswahl der Beispiele für unglücklich, wenn man die Frage beantworten will, ob Sätze der Form „α existiert nicht“, bei denen „α“ leer ist, wahr sind,
und wenn ja, wie man das erklärt. Erstens ist es im Falle von Namen wie „Pegasus“
nicht unumstritten, ob solche Namen wirklich nichts bezeichnen, zweitens bezeichnen
sie zumindest laut der Geschichte, in der sie vorkommen, etwas, und drittens sind sie
durch diese Geschichten mit viel deskriptivem Gehalt verbunden, was die Situation unnötig unübersichtlich macht. Ich schlage deswegen vor, den Fall leerer Namen erst einmal am Beispiel eines Namens zu diskutieren, der unbestreitbar leer ist und auch noch
nie, auch nicht beim Erzählen unwahrer Geschichten, verwendet wurde. Hier ist er:
„Pierre-César Borkenhorst“
Das ist zweifellos ein Name, einer der bereitsteht dafür, im Ernst oder beim Geschichtenerzählen verwendet zu werden.6 Aber er wird nicht und wurde nie verwendet. Keine
6
Vgl. Lycan 1994, 161ff.
348
Konvention innerhalb einer Sprechergemeinschaft und auch keine Intention eines einzelnen Sprechers haben bewirkt, daß er eine bestimmte Person bezeichnet. Angenommen, ich äußere den folgenden Satz:
(13) Pierre-César Borkenhorst fährt einen roten Ferrari.
Es ist kaum zu bestreiten, daß ich durch die Äußerung dieses Satzes nichts zum Ausdruck gebracht habe, das wahr oder falsch ist oder das ich für wahr oder falsch halten
könnte. Die Situation ist nicht anders als in dem Fall, in dem ich aus heiterem Himmel
und ohne auf etwas zu zeigen oder jemanden Bestimmten zu meinen sage:
(14) Der da fährt einen roten Ferrari.
Das ist zwar ein wohlgeformter deutscher Satz, aber in dem Kontext, in dem er geäußert
wird, drückt er nichts aus, was ich glauben oder nicht glauben könnte. Dasselbe gilt –
mit Abstrichen, zu denen ich gleich komme – für die folgenden beiden Satzpaare:
(15)
(15*)
Pierre-César Borkenhorst existiert nicht.
Pierre-César Borkenhorst könnte existieren.
(16)
(16*)
Der da existiert nicht.
Der da könnte existieren.
Da bislang nichts passiert ist, das dem Namen „Pierre-César Borkenhorst“ eine Bedeutung verleihen würde, und auch nichts, das den Bezug von „der da“ festlegen würde, ist
mit keinem der vier Sätze etwas gesagt worden, das man glauben könnte oder das einen
Wahrheitswert hat. Auch hierin scheint mir ein wesentlicher Unterschied zwischen
Sätzen der natürlichen Sprache und solchen einer formalen Sprache mit negativer freier
Logik zu bestehen. Die Übersetzungen der vier Sätze in eine solche Sprache würden
wahr sein. Daß dieses Ergebnis für Sätze wie „Pegasus existiert nicht“ – wenigstens
manchen Philosophen – willkommen ist, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, wie unplausibel es für Sätze wie (15) und (16) ist. Bei meiner Analyse dieser Sätze haben die
formalen Sätze die gewünschten Eigenschaften. Die Äußerung der Sätze (15) bis (16*)
unter den beschriebenen Umständen wäre auf dieselbe Weise fehlerhaft wie die Verwendung der Sätze (15.c) und (15*.c), solange der Individuenkonstante „a“ kein Gegenstand aus dem Quantifikationsbereich zugeordnet ist:
(15.c) ∃e(∆ae & ~∃x∆xe)
(15*.c) ∃e(∆ae & ◊∃x∆xe)
Ich möchte nicht ausschließen, daß sich besondere Umstände denken ließen, in denen jemand mit einem Satz wie (15) eine Proposition zum Ausdruck bringt. Angenom-
349
men, ein Schüler hat, um sich einen Spaß mit einem neuen Lehrer zu erlauben, den Namen „Pierre-César Borkenhorst“ auf die Klassenliste geschrieben. Der Lehrer liest
nacheinander die Namen vor mit der Bitte an die Schüler, sich bei ihrem Namen zu
melden. Als sich bei „Pierre-César Borkenhorst?“ wiederholt niemand meldet, sagt ein
Schüler: „Pierre-César Borkenhorst existiert nicht“ oder (wahrscheinlicher) „Einen
Pierre-César Borkenhorst gibt es bei uns nicht“. Was der Schüler mit dieser Antwort
sagen will, ist nichts weiter, als daß es in der Klasse niemanden gibt, der Pierre-César
Borkenhorst heißt. Namen werden manchmal prädikativ verwendet, und zwar nicht nur
in Ideolekten wie dem Beckenbauerischen („Einen Zidane kannst Du nie zu hundert
Prozent ausschalten“). Ein Fall, in dem ein Satz wie (16) verwendet werden könnte, um
etwas Wahres mitzuteilen, wäre der folgende: Ein Schüler halluziniert, berauscht von
Drogen, seinen Klassenlehrer und sagt ins Nichts deutend zu einem Freund: „Der Typ
da ist ein Ekel.“ Er meint, etwas Wahrheitsfähiges gesagt zu haben, irrt sich darin aber.
Der weniger berauschte Freund durchschaut die Täuschung und entgegnet, um seinen
Freund auf den Fehler hinzuweisen: „Der Typ da existiert gar nicht“ (wahrscheinlich
gesprochen mit einem akustischen Äquivalent zu distanzierenden Anführungszeichen
um „der Typ da“). Auch hier sollte man nicht annehmen, daß der Sprecher eine wahre
singuläre Proposition zum Ausdruck gebracht hat, sondern den Fall lieber als Implikatur
beschreiben. Die Überlegung, die im Hörer ablaufen würde, wenn er nicht so viele Pillen geschluckt hätte und wenn solche Überlegungen denn jemals in Hörern bewußt ablaufen würden, lautet: „Mit der Äußerung eines Satzes, in dem der Ausdruck ‚der Typ
da‘ vorkommt, sagt der Sprecher nur dann etwas Wahrheitswertfähiges, wenn er sich
mit ‚der Typ da‘ auf jemanden bezieht. Wenn das so wäre, dann würde der Sprecher mit
seiner Äußerung etwas auch für ihn offensichtlich Falsches sagen, was der Konversationsmaxime der Qualität widerspräche. Also will mir der Sprecher mit seiner Äußerung
nicht von jemandem mitteilen, daß er nicht existiert, sondern mich darauf aufmerksam
machen, daß es niemanden gibt, auf den ich mich mit meiner Äußerung von ‚Der Typ
da ist ein Ekel‘ bezogen habe.“
(iii) „α“ ist ein deskriptiver Name
Der einzige eindeutige Fall eines Satzes der Form „α existiert nicht“, mit dem man wortwörtlich etwas Wahres sagen kann, liegt meines Erachtens dann vor, wenn „α“ ein leerer
deskriptiver Name ist. Unter einem deskriptiven Namen verstehe ich in Anlehnung an
Gareth Evans einen Namen, dessen Bedeutung dadurch festgelegt wird, daß von einer
Reihe von Eigenschaften angenommen wird, daß sie alle ein und demselben Gegenstand zukommen, und dieser Gegenstand – welcher auch immer es sein möge – dem
Namen als sein Designatum zugeordnet wird.7 Beispiele für solche Namen sind Evans
„Julius“, ein Name für die Person – wer auch immer sie sei –, die den Reißverschluß erfunden hat, „Jack the Ripper“ oder – der Name auf den ich mich hier konzentrieren werde – „Vulkan“. Dieser Name wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts von dem franzö7
Vgl. Evans 1982, 30ff. and Evans 1985, 180ff.
350
sischen Astronom Le Verrier eingeführt, als dieser die Hypothese aufstellte, daß
bestimmte Unregelmäßigkeiten des Perihelions des Merkurs daher resultierten, daß es
einen weiteren Planeten innerhalb der Umlaufbahn des Merkurs gäbe. Die Hypothese
bewahrheitete sich nicht. Es gibt keinen solchen Planeten und also ist der Name „Vulkan“
leer.
Deskriptive Namen ähneln laut Evans Kennzeichnungen darin, daß man mit ihnen
auch dann, wenn sie leer sind, eine Proposition zum Ausdruck bringen kann. Anders als
im Falle von Satz (13) und (14) kann jemand das mit Satz (17) Gesagte glauben:
(17) Vulkan hat eine andere Temperatur als die Erde.
Laut Evans wird durch (17) dasselbe gesagt wie durch Satz (18), in dem an der Stelle
des Namens „Vulkan“ eine Kennzeichnung steht, in der die Merkmale, vermittels deren
der Name eingeführt wurde, explizit genannt werden:
(18) Der Planet innerhalb der Umlaufbahn des Merkur, der dessen Perihelion stört,
usw., hat eine andere Temperatur als die Erde.
Dennoch sind deskriptive Namen laut Evans nicht Abkürzungen von Kennzeichnungen
(zumindest nicht von nicht-rigidifizierten), denn sie verhalten sich anders als diese bei
der Einbettung in modale Kontexte. So ist es z.B. nicht möglich, daß die Erde Vulkan
ist, während es möglich ist, daß die Erde der einzige Planet innerhalb der Umlaufbahn
des Merkurs ist, der dessen Perihelion stört, usw.
Deskriptive Namen sind normalen Namen auch darin ähnlich, daß man bei der Äußerung eines Satzes wie (17) präsupponiert, nicht aber behauptet, daß sich der Ausdruck
„Vulkan“ auf etwas bezieht, d.h. daß es einen Planeten innerhalb der Umlaufbahn des
Merkurs gibt, der dessen Perihelion stört, usw. Wenn jemand bemerkt hat, daß dies
nicht der Fall ist, kann er das nicht durch die Äußerung von Satz (19) mitteilen:
(19) Ich glaube nicht, daß Vulkan eine andere Temperatur als die Erde hat.
Bei der Äußerung dieses Satzes würde, genauso wie bei der von (17), präsupponiert,
daß man sich mit dem Namen „Vulkan“ auf etwas bezieht.
Es ist nun plausibel anzunehmen, daß diese Präsupposition nicht gilt, wenn ein
deskriptiver Name in Existenzsätzen verwendet wird. Angenommen, Le Verrier befallen kurz nach der Entwicklung seiner Theorie Zweifel und er stellt sich die Frage, ob
Vulkan existiert oder nicht. Es wäre absurd, wenn Le Verrier beim Stellen dieser Frage
präsupponieren würde, daß der Name etwas bezeichnet.8 Genau ob dies der Fall ist, ist
8
Auch hier widerspreche ich Wiggins’ Vorschlag (in Wiggins 1994), der meint, bei der Äußerung von
Sätzen wie (20) werde ein besonderer Sprechakt vollzogen, bei dem man während des ersten Teils der
Äußerung so tut, als nähme man auf Vulkan bezug, und also präsupponiert, daß Vulkan existiert, um
diese Präsupposition im zweiten Teil dann zu tilgen. Ich finde diese Art von Sprechakt nicht nur
351
ja der Gegenstand seiner Frage. Die Frage ist zweifellos sinnvoll, und damit sie das sein
kann, darf sie nicht voraussetzen, daß sie nur dann sinnvoll ist, wenn die Antwort auf
sie „ja“ ist. Was mit einer verneinenden Antwort wie (20) behauptet wird, ist genau das,
was man mit Satz (20*) sagen würde:
(20)
(20*)
Vulkan existiert nicht.
Es gibt keinen Planeten innerhalb der Umlaufbahn des Merkurs, der dessen
Perihelion stört, usw.
Wenn man „F“ als Abkürzung für ein komplexes und implizit durch Le Verriers Vulkantheorie definiertes Prädikat einführt, sollte man beide Sätze folgendermaßen analysieren:
(20.a)
~∃xFx
Obwohl ich (20.a) für die in dem geschilderten Fall angemessene Analyse von (20)
halte, möchte ich nicht bestreiten, daß es andere Kontexte einer Äußerung dieses Satzes
geben könnte, in denen der Satz anders in eine logische Sprache zu übersetzen wäre.
Stellen wir uns vor, Le Verrier nimmt vor der Falsifikation seiner Theorie an einer philosophischen Diskussion über kontingente Existenz teil und äußert den folgenden Satz:
(21) Vulkan existiert, aber er hätte auch nicht existieren können.
In diesem Fall ist es unwahrscheinlich, daß Le Verrier behaupten will, daß es einen Planeten innerhalb der Umlaufbahn des Merkurs, der dessen Perihelion stört, usw. gibt,
aber es auch keinen solchen Planeten geben könnte. Mit dem zweiten Satzteil will er
vielmehr auf die Möglichkeit hinweisen, daß der vermeintlich mit „Vulkan“ bezeichnete
Planet höchstselbst nicht existieren könnte, was auch dann der Fall sein könnte, wenn es
einen Planeten gäbe, der die Vulkantheorie erfüllt (nur eben nicht den, der dies in der
wirklichen Welt tut). Die angemessene Analyse von (21) wäre in diesem Fall die unter
(i) entwickelte (mit „a“ für „Vulkan“):
(21.c)
∃e(∆ae & ∃x∆xe & ◊~∃x∆xe)
Da die Präsupposition, daß „Vulkan“ etwas bezeichnet, nicht erfüllt ist, und der Individuenkonstante „a“ kein Gegenstand zugeordnet wird, würde – wie im Falle der Sätze
(13) bis (17) – durch die Äußerung von Satz (21) bzw. (21.c) nichts gesagt, was wahr
oder falsch ist. Da der Name ein deskriptiver Name ist, würde allerdings – wie im Falle
von (17) und anders als im Falle von (13) bis (16) – etwas gesagt, das man für wahr
halten kann.
höchst artifiziell, sie kann auch schlecht erklären, was man tut, wenn man sich fragt, ob das mit (20)
Gesagte wahr ist.
352
(iv) α ist ein Name, der in fiktionalen Kontexten verwendet wird 9
Kommen wir zu unserem Anfangsbeispiel zurück, d.h. zu der Frage, was jemand sagt,
der den Satz äußert:
(2)
Hans Castorp existiert nicht.
Man könnte versucht sein, diesen Satz in Analogie zu negierten singulären Existenzsätzen mit leeren deskriptiven Namen zu analysieren. In der logischen Analyse würde
dann wie in (20.a) an die Stelle von „Hans Castorp“ eine Abkürzung für ein komplexes
und implizit durch Thomas Manns Roman definiertes Prädikat treten:
(2.a)
~∃xGx
Kripke hat gegen diese Art von Analyse eingewandt, daß Hans Castorp nicht nur nicht
existiert, sondern daß er dies notwendigerweise nicht tut.10 Castorp ist ein fiktionaler
Gegenstand und solchen Gegenständen ist es wesentlich, daß sie nicht existieren. Es
gibt aber Welten, in denen die Zauberberg-Geschichte wahr ist und es also jemanden
gibt, der das Prädikat „G“ erfüllt. Ein weiterer Einwand: Stellen wir uns den unwahrscheinlichen Fall vor, daß es in unserer Welt tatsächlich eine Person gab, auf die all das
zutrifft, was Mann in seinem Roman erzählt. Es wäre dann trotzdem nicht so, daß der
Roman von dieser Person handelt und also wahr wäre. Manns Roman trifft ihrem Wesen nach auf nichts in unserer Welt zu, und deswegen, so der Einwand, kann die Bedeutung des Prädikats „G“ nichts mit dem semantischen Wert des Namens „Hans
Castorp“ zu tun haben.
Meiner Ansicht nach gibt es einen wahren Kern in Kripkes Einwand. Der wahre
Kern besteht darin, daß wir Namen wie „Hans Castorp“ auf zwei verschiedene Weisen
verwenden können. Wir können sie als Erzähler einer fiktionalen Geschichte im als-obModus verwenden, und wir können sie dazu verwenden, um im normalen assertiven
Modus Aussagen über fiktionale Gegenstände zu machen. Zur ersten Verwendungsweise gehören im Falle des Namens „Hans Castorp“ die (schriftliche) Äußerung von
Sätzen wie:
(22) Hans Castorp bewahrte an sein eigentliches Elternhaus nur blasse Erinnerungen.
zur zweiten die von Sätzen wie:
(23) Hans Castorp ist eine Romanfigur.
(24) Hans Castorp ist bekannter als Mynheer Peeperkorn.
9
10
Gerade in diesem Fall gibt es inzwischen eine Vielzahl subtiler Alternativen zu dem hier gemachten
Vorschlag (vgl. z.B. die Beiträge in Everett, Hofweber 2000).
Vgl. Kripke 1980.
353
Es ist wichtig, diese beiden Verwendungsweisen voneinander zu unterscheiden. Weder
kommen die Sätze (23) und (24) in Manns Roman vor, noch ist (22) von Thomas Mann
mit der Absicht zu Papier gebracht worden, eine wahre Aussage über eine fiktionale
Gestalt zu machen. Ich halte die Argumente derjenigen Autoren für stichhaltig, die meinen, Sätze wie (23) und (24) seien wörtlich wahr und der Name „Hans Castorp“ bezeichne in ihnen eine fiktionale Gestalt.11 Wenn das so ist, dann gibt es zumindest eine
Lesart von Satz (2), in der er falsch ist. Es gibt fiktionale Gestalten und eine von ihnen
exemplifiziert die Eigenschaft, mit Hans Castorp identisch zu sein. Hans Castorp existiert also, nur ist er keine konkrete Person. Mit „a“ für „Hans Castrop“ ergibt sich die
folgende Übersetzung von Satz (2):
(2.b)
∃e(∆ae & ~∃x∆xe)
Man sollte also nicht sagen, daß es der fiktionalen Gestalt Hans Castorp wesentlich ist,
nicht zu existieren, sondern daß sie sehr wohl existiert, aber wesentlich eine fiktionale
Gestalt ist. In allen möglichen Welten, in denen sie erfunden wurde und also existiert,
ist sie eine fiktionale Gestalt.
Ich denke allerdings, daß (2.b) nicht die einzige plausible Lesart von Satz (2) wiedergibt. Stellen wir uns einen Zeitgenossen und Verehrer Thomas Manns vor, der von der
Welt im Zauberberg so eingenommen ist, daß er sich ausmalt, all die im Roman
geschilderten Personen und Ereignisse gäbe es wirklich, und er könnte sich eines Tages
mit Castorp und Settembrini treffen, um über Schöngeistiges zu plaudern. Im Zuge dieser Überlegungen äußert er den folgenden Satz:
(25) Hans Castorp existiert nicht, aber ich wünschte mir, er täte es und ich könnte mit
ihm durch den Schnee spazieren.
Was wünscht sich der Verehrer? Ich halte es für unplausibel, daß sich (25) in seiner
Äußerung von (25) auf die fiktionale Entität Hans Castorp bezieht. Wir können uns den
Sprecher von (25) durchaus als jemanden vorstellen, der meine eben genannten Ansichten zur Existenz fiktionaler Entitäten teilt und also weiß, daß die fiktionale Gestalt
Hans Castorp existiert. Ebenfalls unplausibel wäre die Annahme, daß der Sprecher mit
(25) sagen will, daß keine nicht-fiktionale Entität mit der fiktionalen Gestalt Hans
Castorp identisch ist, er sich aber wünschte, daß dies so wäre. Der Sprecher wünscht
sich nicht die metaphysische Unmöglichkeit, daß eine fiktionale Gestalt, also eine Entität, die es wesentlich nur deswegen gibt, weil Thomas Mann seinen Roman geschrieben
hat, mit einer nicht-fiktionalen Person identisch ist. Außerdem will der Sprecher wohl
mit einer echten Person durch den Schnee spazieren. Was es hieße, mit einer fiktionalen
Gestalt einen Spaziergang durch nicht-fiktionalen Schnee zu machen, scheint unklar.
11
Vgl. Van Inwagen 1977; Stephen Schiffer hat eine ontologische Konzeption solcher fiktionalen Gestalten entwickelt, die der Annahme, daß es sie gibt, ihren Schrecken nimmt (vgl. Schiffer 1996 und
2003).
354
Ich halte aus diesen Gründen und pace Kripke eine Analyse von Satz (25) in der Art
von (2.a) für plausibel, d.h. eine in der „Hans Castorp“ die Rolle einer Beschreibung
spielt und wie ein in Existenzsätzen vorkommender deskriptiver Name behandelt werden kann. Was sich der Sprecher wünscht, ist, in einer Welt zu leben, in der es eine Person gibt, auf die all das zutrifft, was im Zauberberg über Hans Castorp erzählt wird.12
Literatur
Bostock, D. (1997): Intermediate Logic. Oxford: Oxford University Press.
Burge, T. (1974): „Truth and Singular Terms“, in: Noûs 8 (1974), 309–325.
Chakrabarti, A. (1997): Denying Existence. The Logic, Epistemology and Pragmatics of
Negative Existentials and Fictional Discourse. Dordrecht: Kluwer.
Evans, G. (1982): The Varieties of Reference. Oxford: Clarendon Press.
— (1985): „Reference and Contingency“, in: Collected Papers. Oxford: Clarendon
Press.
Everett, A., Hofweber, T. (ed.)(2000): Empty Names, Fiction, and the Puzzles of NonExistence. Stanford: CSLI Publications.
Kripke, S. (1980): Naming and Necessity. Oxford: Blackwell.
Lycan, W. (1994): Modality and Meaning. Dordrecht, Boston: Kluwer.
McGinn, C. (2000): Logical Properties. Oxford: Oxford University Press.
Salmon, N. (1998): „Nonexistence“, in: Noûs 32, 277–319.
Schiffer, S. (1996): „Language-Created, Language-Independent Entities“, in:
Philosophical Topics 24, 149–167.
— (2003): The Things We Mean. Oxford: Clarendon Press.
Van Inwagen, P. (1977): „Creatures of Fiction“, in: American Philosophical Quaterly
14, 299–308.
Wiggins, D. (1994): „The Kant-Frege-Russell View of Existence: Toward the Rehabilitation of the Second-Level View“, in: Sinnott-Armstrong, W. (ed.), Modality,
Morality, and Belief. Essays in Honor of Ruth Barcan Marcus. Cambridge: Cambridge University Press.
12
Die Beschreibung, die ein Name wie „Hans Castorp“ in Sätzen wie (25) abkürzen kann, variiert je
nach Äußerungskontext und enthält in vielen Fällen metasprachliche Elemente. Stellen wir uns vor,
ein Herr, der Thomas Mann für einen notorischen Hochstapler hält, kommt zufällig des Weges, als jener aus dem Zauberberg vorliest. Dem Herren entgeht, daß es sich um eine Lesung aus einem Roman
hält, und er vermutet, daß Mann aus seinen Tagebüchern liest und also den Anspruch auf Tatsachentreue erhebt. Zugleich mutmaßt der Herr, daß mal wieder nichts von dem, was Mann in seinen Tagebüchern schreibt, wahr ist, und äußert den Satz „Selbst wenn es diesen Hans Castorp wirklich geben
sollte, ist sicher alles, was Mann über ihn sagt, falsch“. Der Herr erwägt klarerweise nicht eine Situation, in der es jemanden gibt, auf den all das zutrifft, was Mann über Castorp erzählt, und auf den
zugleich nichts von dem, was Mann über ihn erzählt zutrifft. Was der Herr in diesem Fall wohl behaupten will, ist, daß selbst dann, wenn es jemanden gäbe, auf den sich Mann mit „Hans Castorp“ bezieht, auf diesen Menschen nichts von dem zuträfe, was Mann in seinem vermeintlichen Tagebuch
schreibt.
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