1 Internationaler Gedenktag an die Opfer des Holocaust 27. Januar 2016, 18.00 Uhr Yehudi Menuhin Forum, Helvetiaplatz 6, Bern Excellencies, Monsieur le Chancellier, Sehr geehrter Herr Kornfeld, Ladies and Gentlemen, sehr geehrte Damen und Herren Wir alle stehen unter dem erschütternden Eindruck der 2015 und auch schon in diesem Jahr in mehreren Ländern verübten barbarischen Terroranschläge, welche zahlreichen Menschen das Leben gekostet haben. Am vorletzten Wochenende hat mein ehemaliger Nationalratskollege Jean-Noël Rey, mit dem ich vor 12 Jahren zusammen ins Parlament gewählt wurde, sein Leben mit 28 anderen Opfern bei einem brutalen Terrorakt in Ouagadougou verloren – nachdem er in Burkina Faso eine Schulkantine eröffnet und einfach nur Gutes getan und humanitäre Arbeit geleistet hatte. Auch die Menschen in Paris, Bagdad, Beirut, Jakarta oder Istanbul wollten Freunde treffen, einen Kaffee trinken, ein Konzert geniessen, auf dem Markt einkaufen oder kulturgeschichtliche Monumente besichtigen und wurden dabei von Extremisten angegriffen und in den Tod gerissen. Auch diesen unschuldigen Opfern wollen wir heute gedenken. In den frühen 1940er-Jahren wurden im NS-Raum ebenfalls Terroranschläge verübt, mit mehreren Tausend Opfern – täglich, während Wochen, Monaten, Jahren. Es waren bis ins letzte Detail geplante und skrupellos ausgeführte Attentate gegen unschuldige Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder. Die Verbrechen wurden verübt von fanatischen Tätern, von Nationalsozialisten, von den Machthabern und ihren Helfern, geduldet und hingenommen von vielen. Dieser millionenfache Mord, meist nach langer Folterhaft ausgeführt, ist aufgrund seiner Dimension, seines Ausrottungsziels und seiner kaltblütig-bürokratischen Ausführung ein Vernichtungswerk an Menschen ohnegleichen. Er betraf in der überwiegenden Mehrheit Juden, aber auch weitere Teile der Bevölkerung, die aufgrund von menschenverachtenden, irrationalen und antisemitischen Rassentheorien bestimmten Kategorien zugeordnet wurden, durch die ihnen das Menschsein abgesprochen wurde. Internationaler Gedenktag an die Opfer des Holocaust 2016, Rede Christa Markwalder, Nationalratspräsidentin 2 Es ging nicht um ihre politische Ausrichtung, um ihre Parteimitgliedschaften, um ihre ökonomischen Verhältnisse oder um ihren Glauben, also um Dinge, die grundsätzlich hätten geändert oder abgelegt werden können: Die Opfer erhielten ihr Todesurteil allein aufgrund ihrer Geburt. – Wir sind heute hier, um ihrer zu gedenken – und wir haben heute als Verantwortungsträgerinnen und – träger die Pflicht und jederzeitige Verantwortung, uns zu erinnern und sicherzustellen, dass sich solches niemals wiederholt… Über 70 Jahre sind seit dem Ende des Holocaust vergangen. Das entspricht einem Menschenleben – und 6 Millionen nicht gelebten Menschenleben. Der Holocaust ist der schändlichste Abschnitt der europäischen Geschichte. Er darf aber nicht zu einer Geschichte aus der Vergangenheit werden. Was an Inhumanem, was an Ungeheuerlichem geschehen ist, darf nicht einfach nur Teil der Geschichtskunde sein – wir müssen diese Verbrechen an der Menschlichkeit inmitten unseres aufgeklärten Kontinenten in Erinnerung rufen und uns gerade in unserer konflikt- und gewaltbeladenen Zeit mit allen Mitteln dafür engagieren, das friedliche und respektvolle Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit verschiedenen Religionen und Weltanschauungen zu fördern. Deshalb braucht es das Gedenken, das Erinnern – hier und heute! Wir müssen diesen schmerzhaften Teil der Historie weiter erforschen – auch wenn wir wohl nie verstehen können, wie das Ungeheuerliche geschehen konnte. Neben der akademischen Forschung und dem Aufzeigen der Gesamtzusammenhänge, scheint es mir ebenso wichtig, dass auch konkrete Erfahrungen von Betroffenen vermittelt werden, und zwar Erlebnisse von Opfern und Geschichten von Rettern. Die Einzelschicksale und Erfahrungsberichte von Opfern des Nationalsozialismus versetzen uns in ihre Perspektive, veranschaulichen ihr Leiden und erlauben uns ein besseres – wenn auch nur beschränkt mögliches – Nachempfinden des erlebten Unrechts und Schreckens. Deshalb sind die Erzählungen von Zeitzeugen wie Eduard Kornfeld, der heute unter uns ist, von enormer Bedeutung für uns – und für unsere europäische Zivilisation. Sehr geehrter Herr Kornfeld, ich bin Ihnen persönlich – als derzeit amtierende Schweizer Parlamentspräsidentin – und im Namen der Schweizer Bevölkerung zu ausserordentlich grossem Dank verpflichtet, dass Sie sich bereit erklärt haben, heute unter uns zu sein. Wir alle hier Anwesenden können wohl nicht Internationaler Gedenktag an die Opfer des Holocaust 2016, Rede Christa Markwalder, Nationalratspräsidentin 3 abschätzen, was es bedeutet, diese schmerzvollen Erinnerung, diese unmenschlichen Ereignisse immer wieder zu teilen, die zu Zeiten unserer Grosseltern passiert sind. Meine Grosseltern haben im Mai 1942 resp. 1944 geheiratet – in der kriegsverschonten Schweiz. Doch als ich vor bald 20 Jahren in den Niederlanden studierte, realisierte ich, wie viele holländische Familien vom Holocaust betroffen waren, und wie stark diese persönliche und familiäre Betroffenheit über Generationen nachwirkt. Ich bin sicher, dass Sie bei uns und den Schulklassen, denen Sie über ihre Erlebnisse berichten, einen unvergesslichen und für die persönliche Geschichtsbildung bleibenden Eindruck hinterlassen. Es wird aber die Zeit kommen, in der wir ohne Zeitzeugen werden auskommen müssen. Dann werden wir umso mehr auf ihre schriftlichen Berichte, auf die Bild- und Tonaufnahmen, die von ihren Ausführungen gemacht wurden, zurückgreifen müssen. Das direkte Zeugnis der Verfolgten, geschätzte Anwesende, ist auch in Zukunft unverzichtbar – nur so ist es für uns möglich, das Ungeheuerliche – wenn auch nur in Ansätzen – verstehen zu versuchen. Auch wenn wir es nie verstehen werden! I also believe it is important to highlight and recognise positive examples during that time. They are often very effective in counteracting the notion that this destructive apparatus was somehow a virtually inevitable natural phenomenon. In addition, they can serve as a lasting, intergenerational source of guidance. It is a sad fact that there were too few people who stood up to the regime, helped the victims, who did not simply accept the evil. There were, however, small heroes, who did everything possible to help and to resist, without exposing themselves to enormous risks. And there were great heroes, who took major risks, even putting their lives on the line, in order to do good. We must also uphold their memory. These shining examples show that looking away, following orders and collaborating were not the only options, and that suffering could be prevented and lives saved in spite of the worst regime of terror in history. Les opérations de sauvetage des Juifs à Budapest en 1944 et 1945 sont un exemple frappant de l’importance que peut revêtir une action coordonnée menée par des personnes faisant montre d’un courage exemplaire. Lorsque, le Internationaler Gedenktag an die Opfer des Holocaust 2016, Rede Christa Markwalder, Nationalratspräsidentin 4 19 mars 1944, les troupes allemandes sont entrées en Hongrie et ont commencé à déporter les Juifs vers les « camps de la mort », des représentants diplomatiques d’États neutres à Budapest ont choisi de ne pas rester les bras croisés. Aidés de volontaires, ils ont en effet réussi à sauver plus de 100 000 personnes en intervenant auprès de dirigeants, en fournissant des refuges et en délivrant de faux documents d’identité ou de voyage. Ils se sont vu décerner – souvent de manière posthume – le titre de « Juste parmi les nations » au nom de l’État d’Israël par le mémorial de Yad Vashem. De leur vivant, ils n’ont cependant pas reçu les honneurs qu’ils méritaient et nombre d’entre eux ne sont même pas connus du grand public. Si la plupart d’entre nous ont déjà entendu parler de Raoul Wallenberg, peu connaissent, pour ne donner que deux exemples, les bien nommés Angel Sanz Briz et Angelo Rota, les représentants de l’Espagne et du Vatican en Hongrie, qui ont également sauvé des milliers de Juifs. Les diplomates suisses à Budapest – à savoir le vice-consul Carl Lutz, l’ambassadeur Harald Feller et le délégué du CICR Friedrich Born – n’étaient pas en reste: par leur action, ils ont réussi à préserver de la mort des dizaines de milliers de personnes. Malheureusement, cette assistance prêtée est là aussi trop peu honorée et, partant, insuffisamment connue de nos concitoyens. Cher Monsieur Kornfeld, Mesdames, Messieurs, il fallait, en cette triste période de l’histoire européenne, tout comme il le faut aujourd’hui et il le faudra encore demain, des personnalités qui défendent notre civilisation en faisant preuve de bravoure, de courage civique et de respect à l’égard des valeurs de la démocratie, de l’État de droit et de l’humanité. Wir wissen es: Der Holcocaust war – leider! – nicht der letzte Völkermord, nicht das letzte Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wäre ich Kulturpessimistin, müsste ich mich permanent hinterfragen, ob unsere europäische Zivilisation aus den Ungeheuerlichkeiten der Vergangenheit nichts gelernt hat. Denn auch in unseren Tagen werden Unschuldige und Wehrlose ermordet – beispielsweise durch die eingangs erwähnten Terroranschläge. Aber ich bin keine Kulturpessimistin – ich bin eine Kulturoptimistin, die unsere europäischen Werte Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit mit Nachdruck und tiefster persönlicher Überzeugung vertritt und verteidigt. Internationaler Gedenktag an die Opfer des Holocaust 2016, Rede Christa Markwalder, Nationalratspräsidentin 5 Für mein Präsidialjahr habe ich das Motto Respekt gewählt. Respekt schulden wir nicht nur unseren politischen Institutionen, politisch Andersdenkenden, unseren sprachlichen und religiösen Minderheiten. Respekt schulden wir insbesondere auch all jenen, die sich für unsere europäische Zivilisation, für unsere aufklärerischen Werte zeitlebens – und auch unter Lebensgefahr – eingesetzt haben und einsetzen – stellvertretend für alle danke ich Ihnen, Herrn Kornfeld, herzlich dafür. Wir müssen und werden uns der Opfer erinnern und schulden ihnen Solidarität – das ist unsere Pflicht – und wir müssen stets jene ehren, die mitten in der Gefahr für die Verfolgten eingestanden sind, weil sie Menschlichkeit bewahren und den erforderlichen Mut aufbringen konnten. Der Holocaust muss für uns alle Zeiten ein Mahnmal bleiben, eine universelle Mahnung, trotz aller Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten nie den grundlegenden Respekt gegenüber der Würde des Menschen zu verlieren: Respekt, respect, rispetto, respect! Internationaler Gedenktag an die Opfer des Holocaust 2016, Rede Christa Markwalder, Nationalratspräsidentin
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