Abschiedsgottesdienst von Pfarrer Uwe John Am 03.Januar 2016 in der Ev. Kirche Tägerwilen „Deine Gnade genügt“ 1 Ihr zwingt mich dazu, dass ich mein Selbstlob noch weiter treibe. Zwar hat niemand einen Nutzen davon; trotzdem will ich jetzt von den Visionen und Offenbarungen sprechen, die vom Herrn kommen. 2 Ich kenne einen mit Christus verbundenen Menschen, der vor vierzehn Jahren in den dritten Himmel versetzt wurde. Ich bin nicht sicher, ob er körperlich dort war oder nur im Geist; das weiß nur Gott. 3-4 Jedenfalls weiß ich, dass diese Person ins Paradies versetzt wurde, ob körperlich oder nur im Geist, das weiß nur Gott. Dort hörte sie geheimnisvolle Worte, die kein Mensch aussprechen kann. 5 Im Blick auf diese Person will ich prahlen. Im Blick auf mich selbst prahle ich nur mit meiner Schwäche. 6 Wollte ich aber für mich selbst damit prahlen, so wäre das kein Anzeichen, dass ich den Verstand verloren hätte; ich würde ja die reine Wahrheit sagen. Trotzdem verzichte ich darauf; denn jeder soll mich nach dem beurteilen, was er an mir sieht und mich reden hört, und nicht höher von mir denken. 7 Ich habe unbeschreibliche Dinge geschaut. Aber damit ich mir nichts darauf einbilde, hat Gott mir einen »Stachel ins Fleisch« gegeben: Ein Engel des Satans darf mich mit Fäusten schlagen, damit ich nicht überheblich werde. 8 Dreimal habe ich zum Herrn gebetet, dass der Satansengel von mir ablässt. 9 Aber der Herr hat zu mir gesagt: »Du brauchst nicht mehr als meine Gnade. Je schwächer du bist, desto stärker erweist sich an dir meine Kraft.« Jetzt trage ich meine Schwäche gern, ja, ich bin stolz darauf, weil dann Christus seine Kraft an mir erweisen kann. 10 Darum freue ich mich über meine Schwächen, über Misshandlungen, Notlagen, Verfolgungen und Schwierigkeiten. Denn gerade wenn ich schwach bin, dann bin ich stark. (2. Korinther 12, 1-10 nach der Bibelübersetzung die Gute Nachricht) Liebe Gemeinde! Bauarbeiter sind meistens sehr kernige Leute und auf einer Baustelle prahlt ein junger Mann gegenüber seinen Kollegen unerträglich mit seiner Kraft. Über die älteren Bauarbeiter, die nicht mehr so können lästert er ständig. Eines Tages wird es einem der Kollegen zu bunt. Er schlägt dem jungen Mann eine Wette vor: „Wetten, dass ich mit der Schubkarre etwas dort hinten hin schieben kann, das Du nicht zurückschieben kannst?“ Der junge Bauarbeiter lacht ihn aus: „Du bist wohl grössenwahnsinnig geworden, alter Mann.“ Er nimmt die Wette an. Darauf nimmt der ältere Kollege die Schubkarre, stellt sie hin und sagt zu dem Jüngern: „Darf ich bitten, steig ein“. (Bild weg) Das Spiel ich bin der Stärkste, ich bin der Beste wird nicht nur auf Baustellen gespielt. Es ist ein Spiel, das immer gespielt wird wenn Menschen zusammen sind. Nahezu überall geht es darum der Schönste, der Erfolgreichste, der Leistungsstärkste zu sein. Wir Menschen lieben das. Und der heutige Bibeltext hat viel mit diesem Thema zu tun. 1. Paulus und das Spiel „Ich bin der Beste und Erfolgreichste“. Auch Paulus war mit diesem Spiel konfrontiert. In der ersten Christenheit gab es wandernde Prediger, die die Gemeinden besuchten und dort predigten. Nun waren nach Korinth gekommen, die grosses Aufsehen erregten. Sie traten sehr selbstbewusst auf und sie kritisierten Paulus offen. „Dieser kleine jüdische Zeltmacher, wer ist der schon? Wir haben ein vollmächtiges Evangelium zu verkünden, eine moderne Botschaft die die Leute erreicht und wir wissen auch, wie man die an den Mann und die Frau bringt. Aber euer Paulus? Meine Güte!“ Und tatsächlich im direkten Vergleich schneidet Paulus schlecht ab. Sie sind die besseren Prediger und eleganteren Redner. Sie sehen besser aus, gross, eloquent, modisch gekleidet, Body-Mass-Index wie ein Spitzensportler. Dagegen sieht Paulus einfach nur mickrig aus. Und wer so mickrig aussieht, der steht wohl auch für eine mickrige Botschaft. Ja, die „Superapostel“, wie sie im 2. Korintherbrief genannt werden machen etwas her. Doch dann zieht Paulus einen Trumpf. Er spielt die „Erlebniskarte“ aus. Er beschreibt einen Menschen, der vor 14 Jahren in den Himmel, ins Paradies entrückt wurde und dort Unaussprechliches gesehen hat. Erst beim Lesen wird klar, dass Paulus von sich selbst redet. Wow! Das ist natürlich eine Erfahrung. Damit kann Paulus gegenüber den „Superaposteln“ punkten. Das können sie kaum toppen! (Bild weg) Doch dann versaut Paulus alles. Er sagt: „Ich verzichte darauf, damit zu prahlen.“ Was soll das denn jetzt? Jetzt hat Paulus doch gerade gezeigt, dass er mit den „Superaposteln“ mithalten, ja sie sogar noch übertrumpfen kann – und dann dieser Satz. In meiner hessischen Heimat gibt es das Sprichwort „Da stösst einer mit dem Hintern um, was er mit den Händen aufgebaut hat“. Ist Paulus nicht mehr ganz dicht? Nein! Paulus verweigert sich bewusst dem Kräftevergleich, wer der Beste und Grösste ist. Er hat in der Begegnung mit Jesus Christus existentiell gelernt, dass bei ihm nach anderen Regeln gespielt wird. 2. Von der Stärke der Schwachheit und der Gnade Gottes Paulus ist durch eine schwere Zeit gegangen. Er erzählt von einem „Stachel im Fleisch“ und gebraucht das drastische Bild, dass der „Engel des Satans“ ihn mit Fäusten schlägt. Es war eine schwere Krankheit, die ihm körperlich und durch ihre Stärke auch psychisch zu schaffen machte. Wir wissen nicht, was. Manche Forscher denken an ein chronisches Augenleiden, andere an epileptische Anfälle oder anderes. Jedenfalls war es für Paulus nur schwer zu ertragen. Er erzählt: 8 Dreimal habe ich zum Herrn gebetet, dass der Satansengel von mir ablässt. Wer jüdisches Beten kennt, weiss, dass das nicht dreimal locker daher gesprochene Gebete waren. Paulus hat dreimal zu unterschiedlichen Zeiten mit Gott gerungen, gefleht, leidenschaftlich gekämpft, dass er doch geheilt wird. Was könnte er nicht alles vollbringen, wenn er gesund wäre. Als leistungsstarker Apostel könnte er doch viel mehr für Jesus tun. Aber der Stachel im Fleisch bleibt. Eine harte Lektion! Wenn man den Weg mit Jesus geht, lösen sich eben nicht alle Schwächen, Behinderungen oder Probleme wie mit Zauberhand auf. Das muss Paulus am eigenen Leib erfahren. Doch dann erlebt er diese existentielle Begegnung mit Jesus, die auch ein Apostel nicht jeden Tag hat. Jesus sagt zu ihm: »Du brauchst nicht mehr als meine Gnade. Je schwächer du bist, desto stärker erweist sich an dir meine Kraft.« Wörtlich aus der griechischen Originalsprache übersetzt, heisst es: „Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft kommt in Schwachheit zur Vollendung.“ Paulus geht mit Leibe und Seele durch die Schule von Jesus. Es wird gedauert haben, bis er diese Worte verstanden hat. Der „Satansengel“ schlägt ihn ja weiter mit Fäusten. Doch nach und nach sickern diese Worte aus dem Kopf in sein Herz: „Die Gnade von Jesus genügt“. Ich muss nicht perfekt und vollkommen sein. Vor ihm bin ich gut, so wie ich bin – auch mit meinen Schwächen. Ja, gerade weil ich schwach bin, weil ich Jesus brauche, kann er trotz meiner Krankheit, trotz meiner Grenzen etwas mit mir anfangen. Weil das Paulus nach einer inneren Entwicklung begriffen hat, kann er sagen (Bild): „.« Jetzt trage ich meine Schwäche gern, ja, ich bin stolz darauf, weil dann Christus seine Kraft an mir erweisen kann. ... Denn gerade wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“. Das klingt paradox, aber wir stossen hier an das Geheimnis, wie Gott mit Menschen Geschichte macht. Wenn wir in die Bibel schauen entdecken wir, dass die „grossen Gestalten“ dort, gar nicht so gross waren. Abraham war schon 75 als er von Gott beru- fen wurde. Moses war ein steckbrieflich gesuchter Mörder. David gibt einen Mord in Auftrag, weil er scharf ist auf die Frau eines anderen. Und in Jesus wird Gott selbst Mensch – aber er wird nicht in der Welthauptstadt Rom geboren, sondern in Palästina. „Römisch-Sibirien“, so haben es die Zeitgenossen damals empfunden. Die Jünger, die er später beruft sind ungebildete Fischer, ehemalige Terroristen und Kollaborateure mit der römischen Besatzungsmacht. Es sind Leute mit denkbar schlechten Referenzen. Der Weg Jesu selbst führt ihn in die denkbar grösste Schwachheit. Am Ende stirbt er am Kreuz, der geächteten Todesart für Schwerverbrecher. Erniedrigt, entblösst, gepeinigt voller Schmerz. Und das soll Gott sein? In diesem Leidensweg, in diesem Abstieg von Stärke zu Schwachheit, erlebt Jesus alles Mögliche und lädt es auf sich. Widerstände, Bosheit, Leid, Schuld, Krankheit, verbohrte Gottlosigkeit, Lieblosigkeit – alles sammelt er ein und lädt es sich aufs Kreuz. Jesus trägt mit seinem Tod auch alles weg. Seine Auferstehung nach drei Tagen zeigt: Die Macht der Sünde ist für immer gebrochen, keine noch so grosse Schuld kann uns für immer von Gott trennen. Der Tod hat sich an Jesus ausgetobt und ist besiegt. Dort, wo die grösste denkbare Schwäche ist, geschieht der grösste Sieg der Weltgeschichte. Die lateinischen Christen hatten dafür einen Begriff. : Victor quia victima – Sieger, weil er sich zum Opfer hingab. Das ist das Geheimnis, wie Gott in der Welt wirkt. Das ist Gnade! In tiefster Schwachheit entfaltet sich grösste Kraft. (Bild weg) Wenn der Stachel im Fleisch nun nicht von Paulus genommen wird, dann geht er den gleichen Weg wie Jesus. In seiner Schwäche entfaltet sich die Kraft Gottes. (Bild) Jetzt trage ich meine Schwäche gern, ja, ich bin stolz darauf, weil dann Christus seine Kraft an mir erweisen kann. Es hat gedauert, bis Paulus diesen Satz aus vollem Herz sagen konnte. Das war ein Prozess. Er blieb sein Leben von diesem Stachel im Fleisch geplagt. Er wurde weiterhin ausgelacht und verfolgt. Er überlebte eine Steinigung und eine Schiffskatastrophe auf dem Mittelmeer Doch als er seine Grenzen annehmen konnte brauchte Jesus ihn in unerhörter Weise. Er gründete Gemeinden im ganzen Mittelmeerraum und brachte das Evangelium nach Europa. Seine Briefe, an die Gemeinden wurden weitergegeben und prägen den Kurs der Kirche seit 2000 Jahren. Die klügsten Köpfe der Welt setzten sich mit seinen Gedanken auseinander. Und bis heute ist massgeblich, was er von Christus zu sagen hat. So brauchte Jesus diesen kranken jüdischen Zeltmacher, der am Ende seines Lebens als Verfolgter wegen seines Glaubens hingerichtet wird. Was hat das nun mit uns zu tun? Mit dir und mir, und mit dieser Kirchgemeinde? Was lernen wir daraus? 3. „Du genügst!“ – die Gnade Gottes, Du und ich Es ist zunächst Gottes grundsätzliche Zusage: „ Du genügst! So wie du bist!“ mit deinen Schwächen. Ob das nun eine Krankheit ist – oder Charaktereigenschaften, mit denen du schon lange haderst. Ob das eine Behinderung ist, oder die Einsicht, dass meine Gaben, doch nicht so gross sind, wie ich es mir wünsche. „Du genügst! Ich genüge!“ So wie ich bin. Die Zusage von Jesus gilt auch mir und dir: »Du brauchst nicht mehr als meine Gnade. Je schwächer du bist, desto stärker erweist sich an dir meine Kraft.« Wenn das auch bei mir und dir immer mehr vom Kopf ins Herz sickert, wird es möglich die eigenen Schwächen und Grenzen zu akzeptieren. Der Weg mit Jesus führt nicht dazu, dass immer alles gut und heil wird. Ich werde wie Paulus mit manchen Schwächen leben müssen. Sie sind ein Teil von mir. Aber sie trennen mich nicht von Jesus. Gerade wenn die Schwäche bleibt, wird die Gnade umso grösser. Was ist Gnade? Vergebung für alles Versagen, ein offenes Ohr bei Jesus zu jeder Stunde, ein Platz an der Seite des Vaters, eine Heimat, die wir nicht verlieren können, ein Schatz der nicht rostet, sein JA zu unserem Leben. Das alles nicht erst am Ende, als Ergebnis von guten Bemühungen, sondern am Anfang, vorab gegeben. Höher kannst du nicht kommen, besser kannst du nicht werden! Ich muss an dieser Stelle ein Missverständnis ansprechen. Paulus predigt kein Ideal der Schwachheit. Er ruft nicht dazu auf, nun besonders schwach zu werden. Das wäre krank! Wenn wir das auf unsere Kinder übertragen, hiesse dass: Wir dürfen sie bloss nicht zu viel fördern, damit sie ja nicht zu starken leistungsfähigen Menschen werden. Wir müssen sie schwach halten. Das wäre ein absurdes Verständnis. So meint es Paulus nicht. Wer stark ist und viel leisten kann, der soll sich darüber freuen und seine Fähigkeiten einsetzen. Paulus predigt kein Ideal der Schwachheit, aber er weiss um diesen tiefen Trost und das Geheimnis Gottes, dass Jesus uns ohne Vorleistungen annimmt. Wer das begriffen hat und aus dem Spiel „ich bin der Beste und Stärkste“ ausbricht, aus dem kann er sehr viel machen. Ich denke an eine schwer kranke Frau, die den Trost von Jesus so stark erlebt, dass alle die sie besuchen als Beschenkte nach Hause gehen. Ich denke an das Schulprojekt unserer Patenkinder in Uganda, wo eine kleine afrikanische Kirchgemeinde mit begrenzten Mitteln angefangen hat, sich um Kinder aus armen Familien zu kümmern. Und nun ist das für über 200 Kinder und ihre Familien ein grossartiges Hoffnungszeichen. Ich denke an den körperlich Schwerstbehinderten, der heute wahrscheinlich abgetrieben würde. Ein Mann, der gerade in seiner Behinderung seine Berufung entdeckt hat, Journalist, Hochschuldozent und Politiker wird und heute zu den wichtigsten Stimmen im Land gehört, wenn es um Integration und Förderung von Menschen mit Handicap geht. Jesus kann aus dir und mir viel machen – wenn wir ihm ehrlich unser Leben mit unseren, Schwächen und Brüchen hinhalten. Ein allerletzter Gedanke, was dieser Text für eine Gemeinde bedeuten kann. Normalerweise wünschen wir uns erfolgreiche Gemeinden. Viele Besucher im Gottesdienst, viele Menschen die zum Glauben finden und sich engagieren als Mitarbeiter, tolle Musik und eine mitreissende Verkündigung. Wer wollte das nicht? Ich finde das erstrebenswert. Doch wenn wir Paulus ernst nehmen, gibt es dabei auch eine Gefahr. Nämlich, wenn die Faszination für das Grosse und Beeindruckende zu unserem heimlichen Massstab wird. Wenn wir Gemeindeprojekte und Menschen allein daran messen, ob sie „es bringen“ und unserer Sehnsucht nach Stärke und Glanz entsprechen. Wenn wir beginnen das Kleine und Schwache zu verachten. Da ist eine Gefahr! Der Weg der Gemeinde von Jesus ist kein durchgängiger Triumphzug. Es gilt vielmehr, was schon im Alten Testament der Prophet Sacharja sagte: „Es wird nicht durch Heer oder Kraft geschehen, sondern durch meinen Geist“, spricht der HERR (Sacharja 4, 6) Jesus baut sein Reich durch und mit schwachen Menschen. Das gilt auch für unperfekte Kirchgemeinden. Ja sogar für unvollkommene Pfarrer, Diakone und Kirchenvorsteherschaften. Da wo wir begreifen, dass er uns mit unseren Schwächen annimmt, liebt und gebraucht – da kann seine Gnade umso grösser werden. AMEN.
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