(KnownGravity): BPMN, Geschäftsregeln und der freie Wille

KNOWMODELS
BPMN, Geschäftsregeln und der freie Wille
Eine etwas andere Sichtweise auf Modelle
Markus Schacher, 29. Mai 2015
In diesem Artikel behaupte ich, dass die BPMN Notation (Business Process Model and Notation) der OMG ein
eigenes Symbol für den freien Willen beinhaltet. Indem ich Prozessmodelle mit dem freien Willen in Bezug bringe,
erkläre ich, warum in der Praxis oft eine grosse Diskrepanz zwischen Prozessen, wie sie definiert wurden, und wie
diese Prozesse von Menschen tatsächlich befolgt werden, besteht. Zudem zeige ich den Zusammenhang
zwischen dem freien Willen, Geschäftsprozessmodellen sowie strukturellen und operativen Geschäftsregeln auf,
wie sie die OMG Spezifikation SBVR (Semantics of Business Vocabulary and Business Rules) definiert.
Ein einfacher Geschäftsprozess
Ein Geschäftsprozessmodell ist eine "definierte Menge von Geschäftsaktivitäten, welche die Schritte darstellen,
die notwendig sind um ein fachliches Ziel zu erreichen. Dies beinhaltet den Informationsfluss sowie auch deren
Verwendung" [BPMN]. Das folgende Fragment eines Geschäftsprozesses illustriert die Ausgangslage für die
weiteren Überlegungen:
Sachbearbeiter
gut
Vertrag erstellen
akzeptiert
schlecht
Kreditwürdigkeit
bestimmen
Kreditantrag
Kunde informieren
Kreditwürdigkeit?
problematisch
abgelehnt
detaillierte Analyse
durchführen
weiter
Abbildung 1: Ein einfacher Geschäftsprozess
Stellen wir uns basierend auf diesem einfachen Geschäftsprozess ein konkretes Szenario vor: Tom Müller ist ein
Kredit-Sachbearbeiter in einer Bank dessen Freund Peter Huber einen Kredit beantragt. Tom erhält Peter's
Kreditantrag und bestimmt seine Kreditwürdigkeit. Dies tut er beispielsweise aufgrund einer Entscheidungstabelle,
in der verschiedene Kriterien wie das monatliche Einkommen, das Geschlecht, der Zivilstand und weitere
berücksichtigt werden und die daraus festlegt, wie der Antrag zu klassifizieren ist. Unglücklicherweise ergibt sich
das Ergebnis "problematisch". Da Peter Tom's Freund und ein wichtiger Kunde der Bank ist, entscheidet sich Tom
nicht wie vorgesehen eine detaillierte Analyse durchzuführen, sondern den Antrag zu akzeptieren und stellt einen
Vertrag für Peter aus. Was passiert hier?
Beim Entscheidungssymbol hat sich Tom bewusst gegen die Empfehlung gemäss der Entscheidungstabelle zur
Bestimmung der Kreditwürdigkeit entschieden. Er ist der Meinung, dass er gute Gründe dafür hat und geht das
Risiko ein, gegen den vorgeschriebenen Prozess zu verstossen. Ist dies gut oder schlecht? Wie auch immer, beim
Entscheidungssymbol kam Tom's freier Wille zur Anwendung.
© 2015, KnowGravity Inc.
Seite 1
BPMN, Geschäftsregeln und der freie Wille  Eine etwas andere Sichtweise auf Modelle
Deontische Modelle
An Menschen gerichtete Geschäftsprozessmodelle, wie das oben eingeführte Beispiel, werden in der Praxis oft als
eine Art "Empfehlung" interpretiert. Sie mögen eine starke Empfehlung sein, aber sie bleiben eine Empfehlung,
welche immer durch die Ausführungsverantwortlichen bewusst ignoriert bzw. verletzt werden kann.
Normalerweise sind sich die Verantwortlichen über die Konsequenzen einer solchen Verletzung bewusst. Diese
Konsequenzen resultieren aus der Durchsetzung dieser Vorschrift: in einem Unternehmen können beispielsweise
Mitarbeiter, welche Vorschriften nicht beachten, verwarnt, sanktioniert – oder im Wiederholungsfall – gar
entlassen werden.
Es gibt eine spezielle Variante der formalen Logik, die sich mit dieser Art von Modellen befasst: die deontische
Logik. Die deontische Logik führt drei spezifische Operatoren ein, welche die Bedeutung von Sätzen beeinflusst:

Es ist obligatorisch, dass <eine Aussage>

Es ist verboten, dass <eine Aussage>

Es ist erlaubt, dass <eine Aussage>
Die OMG Spezifikation "Semantics of Business Vocabulary and Business Rules" [SBVR] verwendet die deontische
Logik um eine spezielle Art von Geschäftsregeln zu formalisieren: "operative Regeln", manchmal auch
"Verhaltensregeln" genannt. Operative Regeln sind Vorschriften, die ausdrücken, was erlaubt ist und was nicht.
Des Weiteren sind operative Regeln in SBVR eng mit ihrem "Durchsetzungsgrad" verbunden – eine explizite
Formulierung, wie die Befolgung dieser Regeln durchgesetzt wird. Als Beispiele schlägt SBVR die folgenden
Durchsetzungsgrade vor:

Strikte Durchsetzung: Bei Verletzung der Regel kommt immer eine Strafe zur Anwendung.

Aufgeschobene Durchsetzung: Die Befolgung der Regel wird strikt durchgesetzt, allerdings kann dies verzögert
sein, bis Ressourcen mit den notwendigen Fähigkeiten zur Verfügung stehen.

Vorgängige Autorisierung: Die Regel wird durchgesetzt, allerdings sind Ausnahmen möglich, falls diese
vorgängig autorisiert wurden.

Nachträgliche Rechtfertigung: Wird die Regel verletzt und kann diese Verletzung nachträglich nicht
gerechtfertigt werden, kommt eine Strafe zur Anwendung.

Mit Begründung: Die Regel darf verletzt werden, allerdings muss eine solche Verletzung begründet werden.

Empfehlung: Die Regel stellt eine reine Empfehlung dar, die nicht durchgesetzt wird.
In unserem Beispiel könnte "Nachträgliche Rechtfertigung" der angebrachte Durchsetzungsgrad für die
Kreditwürdigkeitsentscheidung sein; in anderen Fällen kommen andere Durchsetzungsgrade zur Anwendung.
Deontische Aussagen geben Raum für den freien Willen: sie geben dem Ausführenden die Freiheit und Flexibilität
in der Befolgung einer Vorschrift. Der freie Wille ist eng mit der Motivation des Ausführenden verknüpft, d.h. mit
seinen Zielen. Diese Ziele können seine persönlichen Ziele sein, aber auch die Absicht ausdrücken, Ziele des
Unternehmens zu verfolgen. Diese Ziele sind es wiederum, die einen Verantwortlichen dazu bringen können,
entgegen Empfehlungen zu handeln und sich dadurch mögliche Konsequenzen einzuhandeln.
Ich habe zwar das Entscheidungssymbol von BPMN dazu verwendet, um das Konzept deontischer Aussagen
einzuführen. Bei einem zweiten Blick auf das Prozessmodell wird jedoch schnell klar, dass sich praktisch jedes
Modellelement deontisch interpretieren lassen kann. Beispielsweise kann die Aktion "Kreditwürdigkeit bestimmen"
als Verpflichtung verstanden werden, nach Eingang eines Kreditantrags die Kreditwürdigkeit des Antragstellers zu
bestimmen. Aus diesem Grund ist es hilfreich, die deontische Bedeutung der Elemente eines Geschäftsprozesses
klar zu deklarieren: Sind es Verpflichtungen, sind es Erlaubnisse oder sind es gar Verbote? Wo Menschen in einem
Geschäftsprozess involviert sind, ist es zudem sinnvoll, den entsprechenden Durchsetzungsgrad explizit zu machen.
© 2015, KnowGravity Inc.
Seite 2
BPMN, Geschäftsregeln und der freie Wille  Eine etwas andere Sichtweise auf Modelle
Wissen und Entscheidungen
In unserem einfachen Prozessmodell gibt es noch eine weitere interessante Aktivität: "Kreditwürdigkeit
bestimmen". Wie bereits erwähnt ist diese Aktivität mittels einer Entscheidungstabelle beschrieben, in der
verschiedene Kriterien wie der gewünschte Betrag, das monatliche Einkommen, das Geschlecht, der Zivilstand
und weitere berücksichtigt werden. Daraus werden die dann drei möglichen Einstufungen "gut", "schlecht" und
"problematisch" abgeleitet. Eine Entscheidungstabelle ist eine Menge von Regeln, welche in SBVR als "Strukturelle
Regeln", manchmal auch "Definitionsregeln" bezeichnet werden. Strukturelle Regeln definieren, wie verschiedene
Aussagen zueinander in Beziehung stehen, beispielsweise wie sich die Aussage "die Kreditwürdigkeit ist
'problematisch'" aus Aussagen wie "das Geschlecht ist 'männlich'", "das monatliche Einkommen ist €5000" sowie
weiteren ergibt. Im Gegensatz zu den operativen Regeln können strukturelle Regeln nicht verletzt werden – sie
sind einfach Wissen, welches bei der Herleitung neuer Information aus bereits vorhandener Information
angewandt werden kann. Zusammenfassend lässt sich nun der gesamte Beispielprozess in die folgenden vier
Teilschritte aufgliedern:
 Als erstes nimmt der Sachbearbeiter einen Kreditantrag vom Antragsteller entgegen.
 Dann führt er die Aktivität "Kreditwürdigkeit bestimmen" aus. Dies ist eine "Wissensaktivität", da sie durch das
Anwenden von Wissen in Form einer Menge struktureller Regeln die Kreditwürdigkeit des Kunden bestimmt.
 Das Ergebnis dieser Wissensaktivität fliesst dann in die Entscheidung "Kreditwürdigkeit?" ein, welche die darauf
folgende Aktivität festlegt.
 Abhängig vom Ergebnis dieser Entscheidung wird der Sachbearbeiter dann eine der drei Aktivitäten "Vertrag
erstellen", "Kunde informieren" oder "detaillierte Analyse durchführen" ausführen.
Interessanterweise lassen sich diese vier Teilschritte einfach auf ein Muster abbilden, welches Robert Kowalski im
Zusammenhang mit seiner Arbeit zu "motivierten Agenten" entwickelt hat, d.h. Agenten, die einen freien Willen
zeigen (siehe [Kowalski]). Dieses Muster ist aus den vier Stufen "wahrnehmen" (entspricht ), "denken" (entspricht
), "entscheiden" (entspricht ) und "handeln" (entspricht ):
Agent
denken
entscheiden
wahrnehmen
handeln
externe Welt
Abbildung 2: Der Agenten-Zyklus nach Kowalski
In Kowalski's Muster findet der freie Wille in der "entscheiden"-Stufe statt, welche der Entscheidung
"Kreditwürdigkeit?" unseres einfachen Beispiels entspricht. Übrigens: Unter "Agent" versteht Kowalski sowohl
menschliche Agenten als auch nicht-menschliche Agenten wie IT-Systeme.
© 2015, KnowGravity Inc.
Seite 3
BPMN, Geschäftsregeln und der freie Wille  Eine etwas andere Sichtweise auf Modelle
IT-Systeme und der freie Wille
Was passiert, wenn ein solcher einfacher Geschäftsprozess mittels konventioneller Prozessautomatisierung oder
einem Workflow-Management-System implementiert wird? Ein solches System wird blind den Vorgaben des
Prozesses folgen, d.h. es wird immer entsprechend der evaluierten Kreditwürdigkeit handeln. Diese Art von ITSystemen zeigt bestimmt keine Art von freiem Willen. Auf der anderen Seite könnte ein IT-System zur
Prozessautomatisierung Ziel-orientiert arbeiten, es könnte verschiedene konkurrierende Taktiken zur Erreichung
seiner Ziele in Betracht ziehen und dann diejenige auswählen, von denen es glaubt, dass sie am ehesten zum Ziel
führt. Mit anderen Worten: es könnte eine Art freien Willen zeigen. Ein solches zielorientiertes Geschäftsprozessmanagementsystems ist beispielsweise das kommerziell erhältliche "LSPS" von Whitestein Technologies [Whitestein].
Seitenblick:
Ähnliche Überlegungen lassen sich aber nicht nur bezüglich der Laufzeit eines IT-Systems, sondern auch über die
Entwicklungszeit eines solchen Systems anstellen. Die Anforderungen an ein IT-System können als Menge
deontischer Regeln aufgefasst werden: Verpflichtungen, Erlaubnisse oder gar Verbote bezüglich der
Funktionalitäten des zukünftigen IT-Systems. Es liegt dann in der Kompetenz des Requirements Engineers,
zusammen mit dem Auftraggeber und dem Projektleiter zu bestimmen, welche dieser Anforderungen realisiert
werden und welche nicht. Der Entscheid, eine obligatorische Anforderung nicht zu realisieren hat üblicherweise
Konsequenzen oder gar Risiken zur Folge, die sorgfältig gegenüber dem Nutzen, gewissen Realisierungsaufwand
einzusparen, abgewogen werden müssen. Dieser Prozess wird dann als "Anforderungspriorisierung" bezeichnet.
Zusammenfassung
Wenn Geschäftsprozesse gestaltet werden (z.B. mittels BPMN), ist eine explizite Unterscheidung zwischen
"Wissensaktivitäten", welche die Grundlagen für Entscheidungen liefern, und den eigentlichen Entscheidungen
sehr zu empfehlen. Wissensaktivitäten lassen sich beispielsweise mittels Entscheidungstabellen oder strukturellen
Regeln nach SBVR spezifizieren. Entscheidungen (sowie die Reihenfolge auszuführender Aktivitäten) stellen
deontische Vorschriften dar, welche dem freien Willen des Ausführenden unterlegen sind. Sie entsprechen
operativen Regeln, welche einen (potentiell expliziten) Durchsetzungsgrad erfordern. Werden solche
Entscheidungen auf der Basis operativer Regeln in Form von vollautomatisierten, zielorientierten
Geschäftsprozessen realisiert, so führt dies zu einer gänzlich neuen Stufe von Flexibilität von IT-Systemen.
Referenzen
[BPMN]
Object Management Group: Business Process Model and Notation (version 2.0), pas/2013-0304/ISO/IEC 19510:2013(E), März 2013
[Kowalski]
Robert Kowalski: Computational Logic and Human Thinking – How to be Artificially Intelligent,
Cambridge University Press, 2011
[SBVR]
Object Management Group: Semantics of Business Vocabulary and Business Rules (version 1.2),
formal/2013-11-04, November 2013
[Whitestein] Whitestein Technologies: Living Systems® Process Suite, http://www.whitestein.com/products/processsuite
© 2015, KnowGravity Inc.
Seite 4
BPMN, Geschäftsregeln und der freie Wille  Eine etwas andere Sichtweise auf Modelle
Über den Autor
Markus Schacher ([email protected]) ist Mitbegründer und KnowBody
von KnowGravity Inc. (www.knowgravity.com), einem kleinen aber feinem
Beratungsunternehmen mit Sitz in Zürich (Schweiz), welches sich auf modellbasiertes
Engineering spezialisiert hat. Als Trainer hat Markus bereits 1997 die ersten öffentlichen
UML-Kurse in der Schweiz durchgeführt und hat als Berater vielen grossen Projekten
geholfen modellbasierte Techniken einzuführen und nutzbringend anzuwenden. Heute
ist er als aktives Mitglied der Object Management Group (OMG) in die Entwicklung
verschiedener Modellierungssprachen involviert, beispielsweise dem "Business Motivation
Model" (BMM), "Semantics of Business Vocabulary and Business Rules" (SBVR), sowie dem
"UML Testing Profile" (UTP). Er ist Ko-Autor dreier Bücher zu den Themen Geschäftsregeln,
SysML sowie operationellen Risiken und ist häufiger Präsentator auf internationalen Konferenzen.
© 2015, KnowGravity Inc.
Seite 5