Paderborner Köpfe Zu Harald Morsch: Menschen meiner Stadt

Paderborner Köpfe
Zu Harald Morsch: Menschen meiner Stadt
Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns
ist die vom menschlichen Gesicht.
(Lichtenberg 1968, 473)
Wir glauben gern daran, dass Porträts Gesichter abbilden,
ein Abglanz von Leben und Aura. Das fremdgeschaffene
Porträt gewinnt an Wert, wenn biometrische Passbilder
dem Gesicht seinen Ausdruck nehmen und es vermessbar
machen, und wenn Selfies die eigene Repräsentation von
überindividueller Bedeutung befreien.
Harald Morschs Fotografien von Paderborner Köpfen –
Menschen? Biografien? – sind folglich gleichermaßen aktuell im Gegenstand wie unzeitgemäß in ihrer Umsetzung.
Schwarz-weiß. Haptisch. Auktorial. Schön. Zwar zeigen sie
Narben und Spuren von Verletzungen, aber Morsch verzichtet darauf, die Gesichter postmodern zu fragmentieren. Alle sind Licht. Nur eines taucht aus dem Dunkel auf,
wird Licht. Manche Gesichter wirken durchlässig und
schaffen Raum, der das tragende Papier vergessen lässt.
Manche laden zur Betrachtung ein. Andere wirken müde,
ruhebedürftig. Wieder andere setzen eine Grenze, nicht
unfreundlich, aber bestimmt. Einer lächelt freundlich,
doch die Augen verwehren jeden Zugang. Bei einem anderen hat das Auge mehr als in jedem anderen Bild –
Transzendenz? Etwa hier, in dieser spirituellen Stadt?
Nur ein einziges Mal signiert sich der Fotograf in der Pupille seines Werks, gleich den großen humanistischen
Porträtmalern. Morsch konzentrierte sich auf die Augen,
traditionell Abbild der Seele und Ausdruck der Gedanken.
Doch verlieren wir uns in diesen Augen, wollen wir den
Gedanken finden; er bleibt unbestimmt.
Alle Augen im Bild sehen etwas, das nicht mehr ist und
an dessen Stelle wir als Betrachter treten. So erfassen sie
uns und ziehen uns in die Bildsphäre hinein. Der Fotograf
stellte eine Beziehung zu den Porträtierten her, die wir nun
nutzen dürfen, ohne uns selbst darum bemüht zu haben.
Morsch überschritt für einen kurzen Moment die natürliche Grenze, die Menschen aufrechthalten, wenn sie sich
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noch wohlfühlen wollen; wir können jenseits von dieser
Grenze nun herumspazieren. Wir dürfen tun, was in der
unmittelbaren Begegnung unhöflich wäre: taxieren, starren, Falten zählen, das Versehrte ganz genau betrachten.
Sympathie entwickeln, Mitleid, Begehren, Ablehnung. Unsere Ergebnisse allerdings werden die Porträts nicht bestätigen; wir müssen uns im Leben vergewissern. Gesichter
haben sich schon immer ihrer medialen Bemächtigung
entzogen.
J
elle van der Kooi © Harald Morsch
Gesichter haben gleiche Grundbausteine: Stirn, Augen,
Nase, Wangen, Mund und Kinn. Doch selbst ohne dynamische Mimik machen minimale Unterschiede in den Längen und Breiten, im Volumen und Verhältnis von Details
es unverwechselbar. Diese Unterschiede dienten Gesichtslesern seit der Antike dazu, aus dem menschlichen
Antlitz Rückschlüsse auf Charakter und Verhaltensweisen
zu ziehen. Carl Huter klassifizierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts:
- Im Auge der Gedanke
- In der Nase der Charakter
- Im Mund Begehren und Erleben
- Im Kinn der Wille
- Im Ohr der Adel.
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Sabrina Janci © Harald Morsch
Sie alle wissen von den schrecklichen Konsequenzen,
die Gesichts- und Schädelkunde in rassistischen und sozialdarwinistischen Politiken zeitigten. Gegen Ende des 18.
Jahrhunderts jedoch war das Antlitzlesen zunächst recht
unschuldig als Orakelkunst en vogue; der protestantische
Pfarrer Johann Caspar Lavater versuchte, diese Kunst in
Wissenschaft zu transformieren. Ein paar Kostproben, mit
denen Sie an den Porträts ein wenig spielen können:
- Sehr klug, wenn die Gesichtszüge wohl proportioniert – genau bestimmt, scharf prononziert sind.
(Allgemeine Regeln V)
- Sehr dumm, wenn die Gesichtszüge flach, ohne
Nüance, ohne Charakter, ohne Beugung oder
Schweifung sind. (Allgemeine Regeln V)
- Der Denker hat zwischen den Augenbrauen Buchten, Tiefe, Feinheit, Energie. (LXXXVI. Denker.)
- Wessen Mund schief – dessen Denkart, dessen
Charakter, dessen Manier zu handeln, ist schief, inkonsequent, einseitig, sophistisch, falsch, listig, launisch ... kaltschalkhaft. (Allgemeine Regeln VI)
- faltenlose Stirn: hämisch, bitter, nachtragend (IX.
Stirn)
- Augen, die groß, offen, helldurchsichtig, unter parallelen, scharf gezeichneten Oberaugliedern
schnellbeweglich funkeln, - haben sicherlich alle-
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mal fünf Eigenschaften: Schnellen Scharfblick, Eleganz und Geschmack, Zornmüthigkeit, Stolz und furiose Weiberliebe (XXX. Augen).
- Augen, die hören, indem sie sehen, genießen,
schlürfen, ihren Gegenstand gleichsam mit sich
selbst tingieren und kolorieren, [sind] ein Medium
des wollüstigsten und geistigsten Genusses (XXVIII.
Augen).
Übrigens ist hier mit der männlichen Form nicht auch
zugleich stets jedes andere Geschlecht gemeint; die weibliche Physiognomik klassifizierte Lavater weit weniger differenziert unter dem Schlagwort „Weiber“. Notabene: Der
Blick in das weibliche Gesicht unterliegt in allen Kulturen
anderen Konventionen als der in das männliche. Morsch
allerdings hat ihn nivelliert.
Face-Reading in bester Lavater-Tradition ist aktuell wieder gefragt; z. B. im Personalwesen und bei der Verkaufsschulung. Auch für das Privatleben und die Icherforschung
gibt es umfassende Literatur und Hilfsmittel. Face-Reading
scheint eine Methode zu sein, die die Reflexion über große Fragen erlaubt: Was ist meines Wesens Kern, was ist der
Grund meines Da-seins und So-Seins? Die Klassifikation
nach Lavater und seinen vielen Nachfolgern wurde inzwischen den Deutungsmustern und moralischen Standards
des 21. Jahrhunderts angepasst. In aktuellen Schemata
sieht man des Menschen Wollust nicht mehr im Gesicht.
Hans Gilbert Reuss © Harald Morsch
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Lavater zielte mit seinen Gesichterstudien mitnichten
auf Zeitvertreib und marktorientierte Selektion. Er suchte
gemäß der Vorstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen nach Zügen des Göttlichen in jedem Gesicht. Finden wir es heute?
Er fand schnell ein großes Publikum, und ebenso
schnell Kritiker und Spötter. Dazu trugen Anekdoten bei,
in denen sich der große Physiognom peinlich geirrt hatte.
Auf einer Kutschfahrt habe er also seinem Nachbarn angeboten, eine Probe seiner Kunst zu geben, und sah bei jenem: „Sanftmut vor allem, Eingehen auf andere Menschen,
die er liebevoll betreut, an die Hand nimmt sie zu geleiten.“ Der so Beschriebene entgegnete: „Ich bin der Scharfrichter von Schaffhausen, zu dienen, mein Herr.“ (Friedenthal 1982, 160) Friedrich Schiller konstatierte, in diesem
Fall müsse es sich um ein launisches Spiel der Natur gehandelt haben. (Weigelt 1991, 100)
Beißender, johlender in seinem Spott war Georg Christoph Lichtenberg; er würde gern die Form der Köpfe sehen, die über der Lektüre Lavaters geschüttelt wurden. Er
übertrug dessen Methode satirisch auf eine Interpretation
von Studentenzöpfen – bitte achten Sie also auch auf die
Frisuren! –, deren obszöner Nebensinn auch heute leicht
zu entschlüsseln ist.
„Ist fast Schwanz-Ideal. Germanischer, eiserner Elater im
Schaft; Adel in der Fahne; offensivliebende Zärtlichkeit in
der Rose; aus der Richtung fletscht Philistertod und unbezahltes Konto. Durchaus mehr Kraft als Besonnenheit.“
(Lichtenberg 1844a, 309)
Wie sei der Mensch dann zu lesen? „An ihren Früchten
sollt ihr sie erkennen, steht in einem Buch, das wenig mehr
gelesen wird … (Mt 7,16).“ Und er warnt vor der universellen Deutung des Gesichts: „Es gibt keine Physiognomik
von einem Volk zum andern, von einem Stamm zum andern und von einem Jahrhundert zum andern.“ (Lichtenberg 1844b, 45)Wir müssen uns also vergegenwärtigen,
dass sowohl das Bild, das hier so tut, als sei es lediglich
Abbild, als auch seine Interpretation, nur jetzt und hier gilt.
Eine kalte Dusche für alle, die an das Gesichtslesen glaubten und glauben, und Lichtenberg warnt weiter, in einem
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Ton, den wir aktuell aus Debatten um Genetik und Hirnforschung kennen:
„Wenn die Physiognomik das wird, was Lavater von ihr
erwartet, so wird man die Kinder aufhängen, ehe sie die
Taten getan haben, die den Galgen verdienen, es wird also
eine neue Art von Firmelung jedes Jahr vorgenommen
werden. Ein physiognomisches Auto da Fe.“ (Lichtenberg
1968, F521)
Hüten wir uns also, unserer Gesichtslektüre handlungsleitende Bedeutung beizumessen.
Was bleibt dann?
Die Blicke zwingen uns in die Auseinandersetzung. Fotografien zeigen nie „das wahre Gesicht“. Sie beweisen allein
seine Existenz in dem Moment, den die Kamera einfängt.
Schon im nächsten Moment sieht das Modell anders aus.
Das unbewegte Gesicht im Bild weist uns darum weniger
den Weg zu seinem individuellen Seelenleben, als dass es
eine Maske ist, Produkt unserer Gesellschaft, Geschichte
und der gewählten Technologie – und damit auch Produkt
unserer Zeit und unseres Raumes. Insgesamt 500 Porträts
sind geplant, und jenseits des Anspruchs von Individualität
wird sie die Frage verbinden, inwiefern sich die Stadt zur
jeweiligen Zeit in die Gesichter ihrer Einwohner einschreibt und das Paderbörnsche sie verbindet.
Doch halt – das ist schwärmerisches Gedankengut der
Zeit, mit der ich begann, und entstammt den Mythologien
des späten 20. Jahrhunderts. Viel wesentlicher als die Frage danach, ob sich die Stadt in die Gesichter einschreibt,
ist, wie die Abgebildeten, wie wir selbst Paderborn handeln und herstellen. Und ob wir das Bild der Stadt auch
dann noch ertragen, uns darin auch dann noch erkennen,
wenn wir den bislang Gesichts- und Geschichtslosen
buchstäblich auf Augenhöhe Zugang in diese Galerie verschaffen.
Die Porträts an der Wand zeigen: Gesichter sind die
Topografie der Stadt; unsere Masken werden ihre Monumente, unsere Handlungen ihre Geschichte sein.
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Christina Seck © Harald Morsch
Der Text entspricht im Wesentlichen der Eröffnungsrede
im Bürgermeisterflur Paderborn, November 2015
© 2016 PD Dr. Mareike Menne, Müllmersberg 2, 33154
Salzkotten
© Fotos: Harald Morsch, Paderborn
Referenzen:
Belting, Hans: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 22014
Friedenthal, Richard: Goethe. Sein Leben und seine Zeit,
München 1982
Lavater, Johann Caspar: Von der Physiognomik, Leipzig
1772
Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe, hg. v.
Wolfgang Promies, Bd. 1, München 1968
Lichtenberg, Georg Christoph (1844a): Hinterlassene
Schriften, Erster Theil, Wien 1844
Lichtenberg, Georg Christoph (1844b), Vermischte Schriften, Bd. 4, Göttingen 1844
Weigelt, Horst: Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und
Wirkung, Göttingen 1991