Vertiefung zum Beitrag „Kinder begleiten, stärken und schützen“ von Jörg Maywald in kindergarten heute, Ausgabe 8/2015, Seite 16-20: Warum Kinder Doktor spielen und welche Regeln dabei wichtig sind Zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr nimmt die sexuelle Neugier von Kindern deutlich zu und ihr Verhalten richtet sich nicht mehr überwiegend auf den eigenen Körper. Viele Mädchen und Jungen beziehen in ihre sexuellen Aktivitäten zunehmend andere Kinder mit ein. Mit großem Interesse erkunden und zeigen sie ihre Geschlechtsorgane und interessieren sich auch für die der anderen Kinder. Sie berühren ihre Genitalien und die ihrer Freundinnen und Freunde, schauen sich gegenseitig an, „untersuchen“ sich und entdecken die Unterschiedlichkeit der Geschlechter. Die meisten Mädchen und Jungen spielen im Alter zwischen etwa drei und sechs Jahren diese sogenannten Doktorspiele, manche häufiger und offen, andere selten und eher versteckt. Etwa ab dem vierten Lebensjahr nehmen die Spiele zumeist den Charakter von Rollenspielen an, beispielsweise als „Arztspiele“ oder „Vater-Mutter-Kind-Spiele“. Häufig ahmen die Kinder das von ihnen bei Jugendlichen und Erwachsenen beobachtete sexuelle Verhalten nach, beispielsweise wenn sie Händchen halten, knutschen, einen Kuss geben oder Hochzeit spielen. Zu den Rollenspielen kann auch gehören, dass sie den Geschlechtsverkehr, den sie zum Beispiel zufällig bei ihren Eltern beobachtet haben oder aus den Medien kennen, auf sehr kindliche Art und Weise nachspielen. Wenn die Kinder in die Schule kommen, nehmen diese Doktorspiele dann zunehmend ab. Doktorspiele unter in etwa gleichaltrigen Kindern können die Entwicklung einer selbstbestimmten, lustvollen Sexualität fördern. Die Kinder lernen spielerisch ihren Körper kennen und genießen im Rahmen der „Untersuchungen“ die Aufmerksamkeit und zärtliche Berührung durch andere Kinder. Dabei erfahren sie ihre persönlichen Grenzen und lernen, diese Grenzen einzufordern und die der anderen Kinder zu achten. So kann beispielsweise ein Mädchen oder ein Junge leichtes Streicheln oder Kitzeln als lustvoll empfinden, während zu starke Berührung unangenehm ist oder sogar Angst macht. Damit Doktorspiele bereichernde Lernerfahrungen für Mädchen und Jungen sind, dürfen sie nicht einseitig nur von einem Kind initiiert, sondern müssen wechselseitig gewollt sein. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass der Alters- bzw. Entwicklungsabstand zwischen den beteiligten Kindern nicht zu groß ist, in der Regel nicht größer als ein bis zwei Jahre. Außerdem müssen klare Regeln gelten, die von den Erzieherinnen und Erziehern eingeführt werden und deren Einhaltung gewährleistet wird. Regeln für „Doktorspiele“ - Jedes Mädchen/jeder Junge entscheidet selbst, ob und mit wem sie/er Doktor spielen will. - Mädchen und Jungen streicheln und untersuchen sich nur so viel, wie es für sie selbst und die anderen Kinder angenehm ist. - Kein Mädchen/kein Junge tut einem anderen Kind weh. - Kein Kind steckt einem anderen Kind etwas in eine Körperöffnung (Po, Scheide, Mund, Nase, Ohr) oder leckt am Körper eines anderen Kindes. - Der Altersabstand zwischen den beteiligten Kindern sollte nicht größer als ein bis maximal zwei Jahre sein. - Ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene dürfen sich an Doktorspielen nicht beteiligen. - Hilfe holen ist kein Petzen. - Wenn die Kita – zum Beispiel wegen Personalnot oder weil die Räumlichkeiten zu unübersichtlich sind – nicht in der Lage ist, die Einhaltung dieser wichtigen Regeln zu gewährleisten, müssen erweiterte Beschränkungen eingeführt werden, wie dass die Kinder sich bei Doktorspielen nicht ausziehen dürfen. Wenn Regeln nicht eingehalten werden Manchmal halten sich Kinder im Rahmen von Doktorspielen nicht an die Regeln und es kommt zu Grenzverletzungen oder sexuellen Übergriffen. Nicht in jedem Fall geschieht dies absichtsvoll. So 1 kann es beispielsweise vorkommen, dass ein Kind im Eifer des Spiels ein anderes Kind zu sehr kitzelt oder ihm sogar weh tut. Meistens bemerken die Kinder schnell solche Grenzverletzungen, die aus Naivität oder im Überschwang entstehen, und unterbrechen ihr Tun. In manchen Fällen benötigen sie dabei die Unterstützung einer Erzieherin oder eines Erziehers. Wenn solche Grenzverletzungen allerdings mit Absicht, gezielt und/oder wiederholt stattfinden, muss von sexuellen Übergriffen gesprochen werden. Hierbei handelt es sich um massive Grenzverletzungen, bei denen andere Kinder gezielt zu sexuellen Handlungen überredet oder verführt, mit Drohungen oder körperlicher Gewalt dazu gezwungen oder gezielt an den Genitalien verletzt werden. Da es sich um strafunmündige Kinder handelt, sollte in solchen Fällen allerdings nicht von „sexuellem Missbrauch“ und auch nicht von „Tätern“ und „Täterinnen“, sondern von sexuellen Übergriffen und von sexuell übergriffigen Jungen und Mädchen gesprochen werden. Der Begriff des Opfers für diejenigen Kinder, die einen sexuellen Übergriff erleiden mussten, ist demgegenüber durchaus angebracht, da er unabhängig von Schuldfragen (vgl. Unfallopfer) verwendet wird. Sexuelle Übergriffe unter Kindern erfordern ein schnelles, angemessenes und fachlich kompetentes Eingreifen der Fachkräfte. Wegsehen, banalisieren oder eine falsch verstandene Lockerheit im Umgang mit Grenzverletzungen verunsichern und überfordern die Kinder, vernachlässigen ihre berechtigten Schutzbedürfnisse und können dazu führen, dass sich die Übergriffe wiederholen oder sogar verschlimmern. Der Text ist ein leicht bearbeiteter Auszug aus: Maywald, Jörg (2013): Sexualpädagogik in der Kita. Kinder schützen, stärken, begleiten. Freiburg: Herder. 99-101. 2
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