Queere Diversitäten | S C H W E R P U N K T Jenseits von Bipolaritäten Varianten der Geschlechtsentwicklung – Intersexualität Text: Kathrin Zehnder Bilder zum Schwerpunkt: Martin Bichsel Kaum werden wir geboren, verlangt das Zivilstandsregister den Eintrag männlich oder weiblich. Bei ein bis zwei von 500 Neugeborenen ist jedoch das Geschlecht bei der Geburt nicht eindeutig. In der Debatte um diese Varianten der Geschlechtsentwicklung existieren unzählige verschiedene Ansichten und Anliegen. Unterschiedliche Disziplinen haben zwar unterschiedliche Blickwinkel auf das Thema, das Potenzial der Sozialen Arbeit in der Debatte wird jedoch bei allen deutlich. Intersexualität respektive der Umgang mit Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung1 war – abgesehen von medizinischen Abhandlungen – vor 15 Jahren noch mehr oder weniger unbekannt. Weder die Medien noch die Sozial- und Geisteswissenschaften beschäftigten sich damit, was es für Individuen, aber auch historisch und gesellschaftlich bedeutet, dass nicht alle Menschen als Mann oder Frau zur Welt kommen. Anders gesagt wurde «Intersexualität» nicht als soziales Problem wahrgenommen (vgl. dazu Blumer 1971). Dazu mussten Betroffene und Aktivist_innen zu Beginn des aktuellen Millenniums erst Gruppen bilden, um Aktionen zu koordinieren respektive das soziale Problem zu benennen. Auf der nächsten Stufe des Konstitutionsprozesses sozialer Probleme steht nach Blumer (1971) die öffentliche Anerkennung und Legitimierung als soziales Problem. Im Zuge der genannten Aktivitäten haben sich auch die Wissenschaft und Medien vermehrt mit Geschlechtsvarianten beschäftigt. Aus unterschiedlichen Perspektiven entstanden vertiefte Analysen und eine Fülle von Monografien und Sammelbänden (etwa Ina und Karin im Schwimmbad in Berlin-Schöneberg. Karkazis 2008; Klöppel 2010; Lang 2006; Preves 2008; Schweizer und Richter-Appelt 2012; Zehnder 2010). Im Anschluss haben sowohl die Schweizerische Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK 2012) als auch der Deutsche Ethikrat (Deutscher Ethikrat 2012) jeweils eine Stellungnahme zum aktuellen Umgang mit Intersexualität respektive Geschlechtsvarianten verfasst. Beide Kommissionen geben neben ethischen, rechtlichen und medizinischen Überlegungen zahlreiche Empfehlungen zum künftigen Umgang mit Menschen mit Geschlechtsvarianten ab und fordern, dass Entscheide über invasive Eingriffe möglichst von den Betroffenen selbst getroffen werden (vgl. dazu Zehnder 2014). Damit sind wir nach Blumer (1971) auf Stufe vier angelangt: der Erstellung eines offiziellen Handlungsplanes zur Regulierung des Problems. Es ist also nicht so, dass sich in den letzten 15 Jahren nichts bewegt hat im Bereich Geschlechtsvarianten. Es fehlt jedoch aktuell noch immer an der Umsetzung des Handlungsplans (Stufe 5), und in der Debatte um den Umgang mit Geschlechtsvarianten existieren nach wie vor unzählige sehr unterschiedliche Ansichten und scheinbar unvereinbare Anliegen. Kathrin Zehnder ist Soziologin und Sozial arbeiterin. Sie forscht und lehrt zu Intersexualität an Universitäten und Fachhoch schulen der Schweiz. Nr. 3_März 2016 | SozialAktuell 17 S C H W E R P U N K T | Queere Diversitäten Geschlechtsvarianten als Störungen Medizinisch sind Störungen/Varianten der sexuellen Differenzierung oder differences/disorders of sexual differentiation (DSD) Sammelbegriffe für eine Vielzahl von Diagnosen, bei denen sich das äussere Geschlecht entgegen dem Chromosomensatz oder den inneren Geschlechtsorganen entwickelt. Das Erscheinungsbild intersexueller Menschen ist sehr unterschiedlich. Einige Kinder kommen beispielsweise trotz XX-Chromosomen mit einem vermännlichten Genital zur Welt. Bei anderen Formen erscheinen Kinder äusserlich komplett weiblich, aber innerlich sind männliche Keimdrüsen (Hoden) vorhanden. Wieder andere Intersexuelle haben eine Gebärmutter und verkümmerte männliche Gonaden. Zwar haben heute viele Kliniken Arbeitsgruppen für Fälle von Geschlechtsvarianten eingerichtet, um zu diskutieren, was im Einzelfall zu tun ist. Das konkrete Vorgehen hingegen hat sich wenig geändert. Da werden umfassende diagnostische Analysen gemacht, und als Resultat wird ein Geschlecht für das Kind gewählt. Dabei werden Kinder mit Geschlechtsvarianten häufig operativ der Normvorstellung angepasst: Da wird zum Beispiel eine vergrösserte Klitoris reduziert, eine Scheide angelegt oder die bestehende erweitert. Organe, die nicht zum gewählten Geschlecht passen, werden operativ entfernt, denn ein Mädchen mit Hoden oder ein Junge mit Gebärmutter ist heute unvorstellbar (vgl. Zehnder 2010). DSD ist aus medizinischer Perspektive eine Krankheit, und Eingriffe sind Heilseingriffe. Ein Unterlassen derselben wäre dem Kind nicht zumutbar, denn Kinder würden Schaden nehmen, wenn sie beispielsweise kein normalentwickeltes Genitale besitzen. Man war sich lange einig, dass es sich bei den Eingriffen zwar nicht um eine körperliche Notwendigkeit, jedoch um einen psychosozialen Notfall handelt. Es wurde auch damit argumentiert, dass die Gesellschaft nicht reif für ein «drittes Geschlecht» sei und Kinder mit DSD spätestens in der Garderobe des Kinder gartens unter ihrem Anderssein leiden würden. Es ist vorwiegend die medizinische Wissenschaft, welche diese Perspektive vertritt: Urologie, Pädiatrie, Endokrinologie und Gynäkologie. Aber auch bestimmte Betroffene plädieren für Operationen und die Akzeptanz des Krankheitswertes von DSD (vgl. Zehnder 2010). Der Blick der Gender Studies und der Queer-Theorie Im Gegensatz dazu wird das Phänomen Geschlechtsvarianten in den Gender und Queer Studies durch eine gesellschaftskritische Brille betrachtet. Nicht der Effekt, sondern die Ursache des Umgangs mit Geschlechtsvarianten steht im Zentrum der Überlegungen. Wenn Geschlecht (auch) ein Konstrukt ist, so könnte man grob zusammenfassen, dann ist die Zurichtung auf lediglich zwei Ausprägungen nicht ein Wiederherstellen von Normalität oder gar von Natur, sondern Teil des Konstruktionsprozesses von Geschlecht. Nicht nur Gender, auch Sex, so die Argumentation, sind Aspekte dieser Herstellung. Die Angleichung intersexueller Menschen an ein Geschlecht kann somit als invasives Verfahren zur Produktion von Zweigeschlechtlichkeit betrachtet werden. Die Analysen aus der Geschlechterforschung zeigen also in erster Linie auf, wie es dazu kommt, dass Kinder mit DSD meist operiert werden, und tragen selbst nicht unbedingt aktiv zur Veränderung eines Zustandes bei. Aus Sicht der Gender Studies ist das Thema Geschlechtsvarian- 18 SozialAktuell | Nr. 3_März 2016 ten mit vielen anderen Phänomenen wie Transsexualität oder Sexismus vergleichbar. Nicht nur, weil sie vergleichbare Effekte auf die betroffenen Menschen haben – wobei der Zwang, in ein bestimmtes Muster zu passen, und die Entwertung bestimmter Seins-Formen bei allen Themen vorkommen –, sondern, weil deren Ursprung in derselben Dichotomisierung von Geschlecht zu finden ist. Die QueerTheorie wiederum betrachtet Geschlechtsvarianten als Möglichkeit, zwischen oder jenseits der Bipolarität zu leben. Intersex wird dabei häufig viel breiter gefasst als die biologische Zweideutigkeit. Intersex steht auch für die Kontingenz von Geschlecht, für Brüche, Wahlmöglichkeiten und Nicht-Identität. Die Menschrechtsperspektive und der Intersex-Aktivismus Das Herauslösen von Geschlechtsvarianten aus ihrem medizinischen Kontext und die metatheoretische Betrachtung von Uneindeutigkeit als gesellschaftlichem Phänomen durch die Gender und Queer Studies werden wiederu m von vielen Intersex-Aktivist_innen kritisiert. Insbesondere jegliche Verbindung zur Transsexualität wird vehement zurückgewiesen – nicht zuletzt, weil Interund Transsexualität lange verwechselt wurden. Für Menschen mit Geschlechtsvarianten ist zentral, dass Trans sexuell-Sein eine Frage der Identität, Intersexuell-Sein hingegen eine Frage des Körpers sei. In manchen Diskussionen scheint es, als würden Menschen mit Geschlechtsvarianten transsexuell-Sein als freiwillige Wahlmöglichkeit betrachten. Es wird unterstellt, dass man sich als transsexueller Mensch genau jene Eingriffe wünsche, welche Menschen mit Geschlechtsvarianten als Trauma erlebt haben. Dabei geht oft vergessen, dass viele Menschen mit Geschlechtsvarianten transsexuelle Geschichten haben und sich einer Geschlechtsanpassung unterziehen, weil sie sich zum falschen Geschlecht zugeordnet fühlen. Ausgangslage der Kritik der Aktivist_innen ist keine gesellschaftskritische, sondern eine menschenrechtliche. Es handle sich um eine Frage der körperlichen Integrität, der Würde und der Selbstbestimmung. Im Fokus dieser Debatte stehen die Operationen an intersexuellen Genitalien, die medizinischen Eingriffe, die Kosmetik, welche gestoppt werden muss. Aktivist_innen argumentieren auch damit, dass die rituelle oder religiöse weibliche Genital beschneidung (FGM) verboten ist, Intersexuelle jedoch genauso verstümmelt würden. Viele Aktivist_innen orientieren sich stark an medizinischen Definitionen und Diag- Vorschau Nr. 04/2016: Flüchtlingsthematik Call for Papers: 1. Oktober | Redaktionsschluss: 15. Februar Inserateschluss: 10. März | Erscheinungsdatum: 5. April Nr. 05/2016: Achtsamkeit Call for Papers: 1. November | Redaktionsschluss: 15. März Inserateschluss: 10. April | Erscheinungsdatum: 3. Mai Nr. 06/2016: Soziale Arbeit und Polizei Call for Papers: 1. Dezember | Redaktionsschluss: 15. April Inserateschluss: 10. Mai | Erscheinungsdatum: 3. Juni Nr. 07–08/16: Existenzsicherung Call for Papers: 1. Januar | Redaktionsschluss: 15. Mai Inserateschluss: 10. Juni | Erscheinungsdatum: 4. Juli Kontakt: [email protected] | SCHWERPUNKT Alex wohnt in einer 3-ZimmerWohnung im sibirischen K emerowo. Das Wohnzimmer b ietet genügend Platz, um frisch gewaschene Kleider trocknen zu lassen. nosen: Intersexualität ist aus dieser Sicht ein rein körperliches Phänomen, das aber natürlich ist und nicht pathologisiert werden darf. Aufgaben für die Soziale Arbeit Diese drei kurz skizzierten Blickwinkel zeigen die Schwierigkeit der Diskussion um Geschlechtsvarianten resp. der Lösung dieses sozialen Problems. Für die Geschlechtertheorie liegt der Fokus auf Konzepten und Denkmöglichkeiten. Die Medizin denkt hingegen in Dimensionen der Pathologie, weil sie wissen muss, wann eine medizinische Intervention angezeigt ist. Diese Perspektive ist also eine handlungspraktische. Betroffene wiederum argumentieren aus einer Erfahrungsperspektive. Ihnen ist viel Leid angetan worden, und es soll möglichst verhindert werden, dass künftig dasselbe geschieht. Hier wird das Potenzial der Sozialen Arbeit in der Debatte deutlich: Als Analytikerin sozialer Probleme, als lösungs- und ressourcenorientierte Disziplin und als in sich interdisziplinär angelegtes Handlungsfeld kann sie nicht nur als Vermittlerin zwischen verhärteten Fronten, sondern als anwaltschaftliche Vertretung von Kindern und Erwachsenen aktiv zur Lösung der aufgezeigten Dilemmata beitragen. Das hiesse ganz praktisch, in allen Fällen von Geschlechtsvarianten ein sozialarbeiterisches Case-Management zu fordern. Die Eltern sind je nachdem zu Beginn der «Diagnose» nicht in der Lage, die verschiedenen Perspektiven voneinander zu trennen und zu entscheiden, was das Beste für ihr Kind ist. Dem Kind fehlt eine neutrale Vertretung, welche konsequent seine Perspektive einnimmt. Und der Medizin fehlt eine Übersetzerin sozialer Probleme, Ängste und Nöte der Betroffenen. Fragen wie Soll man das Kind lassen, wie es ist? Schadet ihm dadurch vielleicht seine Umwelt? Kann das Recht auf persönliche Integrität auch zu einer unterlassenen Hilfeleistung führen? Kann ich einen solch schwerwiegenden Entscheid überhaupt für mein Kind fällen? Was geschieht medizinisch, wenn wir «nichts» tun? müssen konsequent aus allen Perspektiven betrachtet werden. Die Sozialarbeiterin in der Klinik oder der Beratungsstelle kann mit den Eltern die Situation analysieren und aufzeigen, welche Aspekte medizinischer Natur sind und welche vor allem einem gesellschaftlichen Normierungsdruck entspringen. Sie kann der Familie helfen, eine für sich a ngepasste Lösung im Umgang mit Verwandten und Bekannten, mit dem eigenen Kind zu finden. Nicht unerwähnt bleiben darf schliesslich, dass die Debatte um Geschlechtsvarianten in der Schweiz noch von ganz wenigen Menschen geprägt wird. Die Betroffenen sind bis heute fast vollkommen unsichtbar. Dabei werden am Kinder spital in Zürich laufend Fälle von DSD besprochen. Hier kann die Soziale Arbeit dazu beitragen, Hilfe zur Selbsthilfe anzustossen und die Betroffenen miteinander in Kontakt zu bringen. Es hat sich nämlich in den letzten 15 Jahren gezeigt, dass vor allem die Isolation den Umgang mit Geschlechtsvarianten für die Betroffenen so ungemein schwierig gemacht hat. Fussnote 1 Ich werde, was den aktuellen alltagssprachlichen Gebrauch betrifft, den Begriff «Geschlechtsvarianten» und in medizinischen Zusammen hängen «DSD» verwenden. Damit wird deutlich, dass nicht alle Fälle von DSD einen «Krankheitswert» haben (NEK 2012:8). Gleichzeitig werde ich in historischen Kontexten die damals verwendeten Begriffe benutzen. Literatur Blumer, H., 1971: Social Problems as Collective Behavior. In: Social P roblems 18: S. 298–306. Deutscher Ethikrat. 2012: Intersexualität. Stellungnahme. Zugriff am 20. Januar 2016: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahmeintersexualitaet.pdf. Karkazis, Katrina. 2008: Fixing Sex: Intersex, Medical Authority, and Lived Experience. Duke University Press. Klöppel, Ulrike. 2010: XX0XY ungelöst: Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Inter sexualität. Bielefeld: transcript Verlag. Lang, Claudia. 2006: Intersexualität. Menschen zwischen den Ge schlechtern. Frankfurt; New York: Campus. Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin. 2012: «Zum Um gang mit Varianten der Geschlechtsentwicklung. Stellungnahme Nr. 20/2012. Ethische Fragen zur «Intersexualität»». Zugriff am 20. Januar 2016: http://www.nek-cne.ch/fileadmin/nek-cne-dateien/Themen/ Stellungnahmen/NEK_Intersexualitaet_De.pdf. Preves, Sharon E. 2008: Intersex and Identity: the contested self. New Brunswick/ New Jersey/ London: Rutgers University Press. Schweizer, Katinka, und Hertha Richter-Appelt, Hrsg. 2012: Intersexuali tät kontrovers Grundlagen, Erfahrungen, Positionen. Originalausg. G iessen: Psychosozial-Verlag. Sytsma, Sharon E., Hrsg. 2006: Ethics and Intersex. Dordrecht: Springer. Zehnder, Kathrin. 2010: Zwitter beim Namen nennen. Intersexualität zwischen Pathologie, Selbstbestimmung und leiblicher Erfahrung. Biele feld: transcript. Zehnder, Kathrin. 2014: «Die Stellungnahmen des Deutschen Ethikrats und der Schweizerischen Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanm edizin in kritischer Perspektive» herausgegeben von Ada Borkenh agen. Psychosozial Sonderheft 37 1(135): S. 27–42. Nr. 3_März 2016 | SozialAktuell 19
© Copyright 2024 ExpyDoc