Predigt vom 14. Februar 2016

Stiftskirche Stuttgart
Stiftspfarrer Matthias Vosseler
Sonntag Invokavit
Predigttext: Hebräer 4, 14-16
14. Februar 2016
Text: Hebräer 4, 14-16
14 Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn
Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten am
Bekenntnis. 15 Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht
könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden
ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade,
damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden, wenn wir Hilfe
nötig haben.
Liebe Gemeinde,
wenn wir Gottesdienst feiern, feiern wir den Himmel auf Erden, und die
Erde im Himmel.
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Himmel und Erde kommen zusammen, die irdische Gemeinde nimmt teil
am himmlischen Gottesdienst, am Lob Gottes, das alles durchzieht.
Luther: Wenn Gott mit uns redet und wir mit ihm
Die orthodoxen: die katabasis und die anabasis.
Und so denkt auch der Hebräerbrief, um den es heute morgen geht. Und
er fordert auch uns auf: Lasst uns hinzutreten mit Zuversicht, mit
Freimut, ohne Scheu zu dem Thron der Gnade.
Lasst uns hinzutreten… der Text heute morgen ist eine Einladung, nicht
bei sich zu bleiben, nicht nur sich zu sehen, sondern sich selbst im viel
größeren Zusammenhang. Irdischer Gottesdienst nimmt teil am
himmlischen Gottesdienst.
Das ist möglich, Jesus selbst hat die Tür dafür geöffnet.
Die Texte des Hebräerbriefs gehören zu den schwierigsten des Neuen
Testaments.
Auch Pfarrer stöhnen oft, wenn wieder ein Hebräertext in der Predigt dran
kommt. Schwierige Sprache, schwierige Begriffe, eine vom
alttestamentlichen Kult geprägte Bilder- und Denkwelt.
Uns fremd. Uns, die wir aus den Heidenchristen dazugekommen sind, im
Laufe der Zeit.
Der Hebräerbrief, ein Brief an Judenchristen, an Judenchristen der zweiten
Generation.
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Also an Menschen geschrieben, die das kannten, um was es im Kult ging,
im Tempel von Jerusalem.
Ein Brief an die zweite Generation, wo viel vom Zauber des Anfangs
verflogen war: ihre Lebensenergie ist aufgezehrt (4,1; 6,12). Sie sind
schwerhörig und träge (5,1; 6,1), schlaffe Arme, weiche Knie (12,12), das
sind die Worte, die der Briefschreiber nennt. Die Nachlässigkeit beim
Gottesdienstbesuch wird angesprochen (10,25). Bringt’s denn noch was?
Sollen wir nicht was anderes machen am Sonntag?
Und genau in diese Situation hinein ruft es der Briefschreiber zu: Tretet
doch herzu, nehmt teil am Gottesdienst, haltet fest am Bekenntnis,
verlasst euch auf den Hohenpriester Jesus.
Tretet herzu, liebe Gemeinde, auch für uns heute morgen, und dann die
Frage: Wie kann sich ein Mensch Gott nahen??
Eine Frage, die die Menschen der Bibel bewegt hat. Wie immer wie uns
Gott vorstellen, wie können wir uns ihm nahen. Der Wunsch danach, hat
zu allen Zeiten die Menschen bestimmt.
Sich Gott zu nahen, weil er uns etwas schenkt. Gott ist kein
abgeschlossener Monolith, nicht eingeschlossen in einen Tresor.
Gott redet an und hört zu. Gott schenkt die Gebote, die Gottesdienste, die
Rituale. Seit alter Zeit. Er schenkt die Möglichkeit, ihm etwas zu geben. In
diesem Zusammenhang spricht das Alte Testament von Opfern: Speise
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und Trank werden Gott dargebracht, Tiere werden geschlachtet, das
zubereitete Fleisch in der Gemeinde gemeinsam verzehrt, ihr Blut gilt als
Symbol für das Leben und wird rituell Gott gegeben. In der berühmten
Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig übersetzen das
hebräische Wort korban nicht mit „Opfer“, sondern mit „Nahung“. Eben
weil es um einen Herzenswunsch des Menschen geht, nicht um etwas
Unbotmäßiges, das Gott fordert. Der Mensch will Gott nahe sein und Gott
schenkt Möglichkeiten, wie das geschehen kann.
Wann konnten die Menschen Gott nahe sein? Im alten Israel:
Zum Beispiel am jährlichen großen Versöhnungstag Jom Kippur. Im
Tempel werden an diesem Tag besondere Opfer gebracht. Der
Hohepriester geht an diesem Tag ins Allerheiligste des Tempels. Nur er
darf diesen Ort betreten und nur an diesem Tag. Das Volk wartet draußen.
Im Allerheiligsten befindet sich die Bundeslade mit dem goldenen
Gnadenthron (2.Mose 25,17) und zwei goldenen Engeln, den Cherubim.
Von denen hatte Gott vor langer Zeit gesagt: „zwischen den beiden
Cherubim will ich mit dir alles reden“ (2.Mose 25,10-22). Dies ist der Ort,
wo sich Himmel und Erde berühren! Der Ort der Gotteskommunikation!
Der Ort der Nahung.
Der Hohepriester besprengt die Bundeslade mit dem Blut von zwei
Opfertieren als Symbol für Lebenshingabe. Stellvertretend für das ganze
Volk empfängt er Versöhnung. Alle Schuld wird weggenommen und
symbolisch von einem Ziegenbock aus der Mitte der Gemeinschaft
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weggebracht und in die Wüste getragen, sodass sie das Zusammenleben
nicht mehr belastet. Wie heilsam! Wie wohltuend! Gott schenkt ein
gemeinsames Fest, das Reue und Neubeginn ermöglicht. An diesem Tag
und an diesem Ort tut Gott dem Menschen Gutes: vergibt alle Sünden,
heilt Gebrechen, erlöst Leben vom Verderben. Krönt den Menschen mit
Gnade und Barmherzigkeit – am Gnadenthron im Allerheiligsten. Das ist
die offene Tür zum Himmel! Ja, Gott ermöglicht den Menschen Nahung.
Ganz konkret: das eine Mal im Jahr, wenn der Hohepriester das
Allerheiligste betritt.
Das war eine gewagte Sache: Wie würde der Hohepriester dort allein
zurechtkommen? Das schien nicht ungefährlich, sich Gott so zu nahen.
Der Hohepriester hatte kleine Glöckchen am Gewand, sodass man hörte,
ob sie bimmelten zum Zeichen, dass er noch lebte. Es gibt sogar eine
jüdische Überlieferung, dass man dem Hohepriester manchmal ein Seil um
einen Fuß gebunden hatte, wenn er ins Allerheiligste ging. Falls ihm etwas
zustoßen sollte, konnte man ihn an diesem Seil dann wieder aus dem
Allerheiligsten herausziehen.
Zur Zeit, als der Hebräerbrief geschrieben wird, gibt es den Tempel nicht
mehr. Die Römer haben ihn und die ganze Stadt Jerusalem zerstört. Doch
der Versöhnungstag wird beibehalten. An die Stelle der Tieropfer tritt –
wie schon Israels Propheten und später die Pharisäer anmahnten - die
Lebenshingabe im spirituellen Sinne in Gestalt von Gebet, Bibelstudium
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und dem Halten der Gebote. Das ganze Leben soll Hingabe an Gott sein.
Nahung. Das können wir von den Juden lernen. Auch ohne blutige Opfer
wirkt dieser Tag Versöhnung. Wichtig vor der Vergebung ist die aufrichtig
empfundene und eingestandene Reue. Der Jom Kippur ist bis heute der
höchste jüdische Feiertag auf den sich die Menschen mit einer Bußzeit
vorbereiten und diejenigen, die sie verletzt haben, um Verzeihung bitten.
Und für uns Christen wird der Hebräerbrief nicht müde zu betonen: Es gibt
ihn noch, diesen Hohepriester, noch einmal in ganz anderer Wirkweise.
Der wahre, der große Hohepriester.
Dieser große Hohepriester ist Gottes Sohn. Gott hat ihn dazu berufen. Er
ist nicht nur kultisch rein, sondern überhaupt ohne Sünde. Auch er handelt
stellvertretend - doch nicht nur für Israel, wie der Hohepriester - sondern
für alle, die an ihn glauben. Der Hohepriester für die ganze Welt.
Er hat die Himmel durchschritten. Durch sein Leben, sein Gebet, durch
seine tätige Liebe, seinen Tod und seine Auferstehung.
Er hat schon in dieser Welt mit den Kräften der kommenden Welt gelebt
und gezeigt, dass das möglich ist. Weil er nicht nur Sohn Gottes, sondern
gleichzeitig Mensch ist, kennt er alle menschlichen Schwäche, jedes
Leiden, auch alle Versuchungen und teilt das mit den Menschen. In den
Tagen seines irdischen Lebens hat er sich mit Bitten und Flehen, mit
Tränen und Schreien an Gott gewendet, der ihn vom Tod erretten konnte
und ihn erhört hat. (vgl. 5,7) Er leidet mit den Menschen. Scheut vor
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keiner Qual zurück. Hat Hass, Verrat, Folter durchlebt. Hat somit auch die
Hölle durchschritten. Und konnte selber in der Liebe bleiben und für seine
Peiniger beten.
Es gibt in diesem Tagen eine Ikone: Sie zeigt die 21 Märtyrer, die vor
einem Jahr am Strand von Tripolis von IS-Schergen ermordet wurden. Es
waren Arbeiter, die zur koptischen Kirche gehörten.
Sie wurden vor ihrer Enthauptung aufgefordert, ihrem Glauben
abzusagen, um am Leben zu blieben. Alle blieben standhaft, alle
bekannten sich in dieser letzten Stunde zu Christus. So starben sie.
Die koptische Kirche nahm sie sofort in ihrem Gedenkkalender auf:
Morgen am 15. Februar wird er zum ersten Mal gefeiert. Und auch unsere
arabische Gemeinde hat auf ihrer Homepage eine schöne Andacht zu
diesen 21 Männern gemacht. (www.auslaenderseelsorge.com)
In einer Ikone erhalten sie über ihre orangenen Kleider in denen sie
geköpft wurde, die rote Scherpe der Diakone und aus dem Himmel die
Krone des Lebens.
Auch dank ihnen und für sie, darf für uns gelten: Lasst uns festhalten am
Bekenntnis zu Christus, dem großen Hohepriester. Amen
Beim historischen Treffen in den vergangenen Tagen zwischen Papst
Franziskus und dem russichen Patriarchen Kyrill auf dem Flughafen in
Havanna:
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12. Wir verbeugen uns vor dem Martyrium derjenigen, die auf Kosten ihres eigenen Lebens die
Wahrheit des Evangeliums bezeugt haben und den Tod der Verleugnung des Glaubens an Christus
vorgezogen haben. Wir glauben, dass diese Märtyrer unserer Zeit, die verschiedenen Kirchen
angehören, aber im gemeinsamen Leiden geeint sind, ein Unterpfand der Einheit der Christen sind.
An euch, die ihr für Christus leidet, richtet sich das Wort des Apostels: „Liebe Brüder! … Freut euch,
dass ihr Anteil an den Leiden Christi habt; denn so könnt ihr auch bei der Offenbarung seiner
Herrlichkeit voll Freude jubeln“ (1 Petr 4,12-13).
Lasst uns an dem Bekenntnis zu Jesus Christus festhalten! Um der
Lebenshingabe Jesu Christi willen. Lasst uns von seiner Glaubenskraft
lernen!
Lasst uns hinzutreten. In der hebräischen Ausgabe des NT steht an dieser
Stelle wieder das Wort „Nahung“.
Ja, der Himmel steht uns offen! Auch uns Heiden. Durch Jesus Christus
können wir hinzutreten zum Ort der Gottesbegegnung, zum Thron der
Gnade, und können Barmherzigkeit empfangen soviel wir brauchen, an
jedem Tag.
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Amen.
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