weniger ist mehr. Wie viele Pillen verträgt ein Mensch?

AMSTETTEN, 26.11.2015
Wie viele Pillen verträgt der Mensch?
Medikamente und ihre Wechselwirkung – Nutzen und Risiken
Dr. Christian Eglseer
FA für Innere Medizin, Amstetten
Medikamentennebenwirkungen: Polypharmazie – weniger ist mehr. Wie viele Pillen
verträgt ein Mensch? Nahezu alles im Leben des Menschen ist nicht ausschließlich positiv
oder ausschließlich negativ behaftet. Nehmen wir als Beispiel das Wasser. Es ist
lebenswichtig. Wenn wir mehrere Tage nichts trinken, werden wir sterben. Wenn wir jedoch
innerhalb weniger Stunden 20 Liter davon trinken, werden wir ebenfalls daran sterben.
„Verschlucken“ wir uns. Bekommen wir das Wasser irrtümlich in die Speiseröhre können wir
ebenfalls durch Ersticken sterben; zumindest werden wir eine Lungenentzündung bekommen.
Trinken wir zu heißes Wasser, können wir Zunge, Rachen und sogar die Speiseröhre und
Magen verbrennen. Trinken wir verunreinigtes Wasser, so können wir uns eine Infektion oder
eine Vergiftung zuziehen. Also, obwohl Wasser lebensnotwenig ist, kann es
Nebenwirkungen haben! Genau das gleiche kann bei Medikamenten sein. Sie können
Nebenwirkungen haben. Wobei die Betonung auf dem Wort „können“ liegt. Daher aufgepasst:
Nicht jede mögliche Nebenwirkung, die im Beipacktext angeführt ist, tritt auch tatsächlich auf.
Erstens werden keine Medikamente zur Behandlung zu gelassen (in den Verkehr
gebracht), bei denen die Nebenwirkungen, die Wirkungen überschreiten. Zweitens muss im
Einzelfall entschieden werden, ob bei dem speziellen Patienten, die Nebenwirkungen in Kauf
genommen werden sollen oder nicht.
Dazu einige Beispiele: Bei gering erhöhter Körpertemperatur sofort Aspirin zu schlucken,
dass zwar sehr selten, jedoch prinzipiell eine Magenblutung auslösen kann, ist abzulehnen und
stattdessen sind altbekannte Hausmittel (Naturmedizin) zu empfehlen. Jeder Krebspatient
wird jedoch starke Nebenwirkungen einer Chemotherapie in Kauf nehmen, wenn er damit 10,
20 oder sogar 30 Lebensjahre gewinnt. Ein Beispiel für individuelle Entscheidung sind
Schmerzmittel. Es ist nichts einzuwenden, wenn man mehrmals pro Jahr wegen
Kopfschmerzen eine entsprechende Tablette einnimmt. Anders ist die Sache bei einem
Menschen mit eingeschränkter Nierenfunktion. Hier können die paar Tabletten zum kompletten
Ausfall der Nierenfunktion führen und der Mensch wird zum Dialysepatienten. Was für einen
Nichtmediziner jetzt schon sehr kompliziert erscheint, ist für einen Arzt völlig easy, das tägliche
Brot. Für uns Ärzte ist es schon komplizierter, aber meist noch überschaubar, wenn ein Mensch
2 oder 3 unterschiedliche Medikamente einnehmen muss. Je mehr Tabletten eingenommen
werden müssen umso unklarer wird die Situation. Ab einer gewissen Medikamentenzahl gibt
es keinen Menschen oder kein Computerprogramm auf der Welt, die 100 % die Auswirkungen
auf den menschlichen Organismus sagen können. In diesem Fall sprechen wir von
Polypharmazie.
Die Polypharmazie ist leider rasch zunehmend. Die Ursache dafür ist meist nicht, dass von
einem Arzt zu viele Medikamente verordnet werden. Denn es gibt eine gewollte
Polypharmazie: Nehmen wir einen älteren Menschen, der wegen Diabetes, Bluthochdruck
und zu viel Cholesterin eine Erkrankung der Herzkranzgefäße hat in deren Folge nach einem
Herzinfarkt die Pumpfunktion des Herzens eingeschränkt ist. Dieser Mensch bekommt nach
Stiegen steigen von 1/2 Stockwerk zu wenig Luft zum weiter gehen. Bei diesem Patienten
bestehen 6 Erkrankungen und 1 schweres Symptom, Atemnot. Alleine dafür benötigt der
Patient 7 verschiedene Medikamente. Allgemein ist bekannt, dass oft 1 Blutdruck- oder
Blutzuckermedikament nicht ausreicht. Wenn man dann noch weiß, dass eine Verdoppelung
der Dosis des Blutdruckmedikaments den Blutdruck nur um weitere 7 % senkt, aber mögliche
Nebenwirkungen um ein VIELFACHES verstärkt auftreten können, ist klar, dass man ein
weiteres anderes Blutdruckpulverl dazu gibt. Auf diese Weise sind beim geschilderten Patienten
10-15 Medikamente erforderlich, damit dieser ein halbwegs lebenswertes Leben führen kann.
Hauptursachen für unerwünschte Nebenwirkungen und Polypharmazie liegen beim
Patienten. Patienten vergessen Medikamente bei der ärztlichen Befragung anzugeben.
Patienten geben absichtlich oft Medikamente nicht an; in erster Linie zu erwähnen sind
Potenzmittel und Psychopharmaka. Zu erwähnen sind auch die Doktoren Internet und Doktor
Nachbar. Der Erwerb von rezeptfreien Medikamenten in der Apotheke. Sonstige Produkte, die
im Supermarkt oder sonstigen Geschäften erhältlich sind. Auch Nahrungsergänzungsmittel
müssen nicht harmlos sein. Sogar manche Lebensmittel können mit Medikamenten
zusammen zu Nebenwirkungen führen. Hier in erster Linie zu erwähnen ist der Grapefruchtsaft.
Ein Beispiel für Medikamente die einzeln eingenommen harmlos sind in Kombination oft nicht:
Beim Zuckermedikament "Metformin" kann es selten zu Durchfall kommen. Ebenso bei
Magnesiumpräparaten. Eine Kombination von beiden löst sehr oft Durchfall aus. Gefährlich
sind jedoch Wechselwirkungen. Und je mehr verschiedene Präparate man einnimmt, umso
größer ist deren Gefahr.
Zusammenfassend muss also die Vorbeugung von Polypharmazie im Vordergrund stehen:
1. Führen Sie eine so gesunde Lebensweise wie möglich, damit Sie so wenig Medikamente
wie möglich brauchen.
2. Fingern Weg von jedweder Selbstmedikation. Fingern Weg von jedweden Empfehlungen
von selbsternannten Gesundheitsaposteln und Werbung in den Medien und Internet. Hier
gilt: Fragen Sie zuerst Ihren Arzt oder Apotheker!
3. Tragen Sie immer eine aktuelle und vollständige Medikamentenliste mit sich. Hier
sollen auch alle vom Arzt verordneten Bedarfsmedikamente angeführt sein.
4. Bei jeder Neuverordnung fragen Sie nach, ob sich das neue Medikament auch mit den
anderen verträgt?
5. Fragen Sie in regelmäßigen Abständen Ihren Arzt, ob noch alle Medikamente
erforderlich sind.
6. Optimal wäre eine funktionierende E-Medikation, bei der alle verordneten und
abgegebenen Medikamente elektronisch erfasst und auf Wechselwirkungen untersucht
werden.
Ein diesbezügliches Pilotprojekt musste wegen Unbrauchbarkeit eingestellt werden. Auch
würden die Fehlerquellen Eigenmedikation und nicht apothekenpflichtige Präparate wie
Nahrungsergänzungsmittel nicht erfasst.
Weitere Informationen:
Dr. med. Christian Eglseer
FA für Innere Medizin, Amstetten
Wagmeisterstraße 46, A-3300 Amstetten
Tel.: +43 7472 67 264-0, E-Mail: [email protected]