MEDIZIN AKTUELL P P M MEDIC Polypharmazie bei geriatrischen Patienten Polypharmacie chez les patients gériatriques Risiken und praktische Aspekte im Umgang mit mehreren Medikamenten Les risques et les aspects pratiques de l’utilisation de plusieurs médicaments Thomas M. Wieland, Olav Rychter, Chur ―― Polypharmazie ist ein rasch wachsendes Problem. Sie betrifft vor allem geriatrische Patienten. Multimorbidität ist die wichtigste Ursache. ―― Die Gefahren sind unerwünschte Arzneimittelwirkungen, die nicht selten zu Notfallhospitalisierungen führen, Arzneimittelinteraktionen, Unterund Übermedikation sowie evtl. nicht durchgeführte Behandlungen trotz vorliegender eindeutiger Indikation. ―― Der Ansatz des geriatrischen Assessments neben der sorgfältigen Diagnostik der Multimorbidität sowie die explizite Festlegung des Behandlungsziels (allenfalls auch mit Angehörigen) und das Führen einer fortlaufenden Medikations-Anamnese mit erwünschten und unerwünschten Wirkungen dienen der Übersichtlichkeit und dem aktiven Verhindern von medikationsassoziierten Problemen. ―― La polypharmacie est un problème qui se développe rapidement. Elle concerne surtout les patients gériatriques. La multimorbidité en est la cause la plus importante. ―― Les dangers sont des effets médicamenteux indésirables, dont il n’est pas rare qu’ils entraînent des hospitalisations en urgence, une sous- ou une surmédication, ainsi qu’éventuellement des traitements non effectués malgré une indication clairement posée. ―― L’utilisation de l’évaluation gériatrique à côté du diagnostic soigneux de la multimorbidité ainsi que l’établissement explicite de l’objectif de traitement (le cas échéant également avec les proches) et la conduite d’une anamnèse continue de la médication avec les effets recherchés et indésirables servent à la clarté et à la prévention active des problèmes associés à la médication. ■■ In der Schweiz sind mehr als 3000 Wirkstoffe in insgesamt über 12 400 pharmazeutischen Präparaten von Swissmedic zugelassen. Diese Zahl verunmög licht einer verschreibenden Person das Kennen aller Erzeugnisse. Gleichzeitig nehmen Behandlungsin tensität und Anzahl Ärzte pro Patient zu. Diese Kon stellation zusammen mit dem Älterwerden der Bevöl kerung schafft viele neue und potenziell gefährliche Situationen. Wie wird Polypharmazie definiert und wie gross ist das Problem? Polypharmazie bezeichnet in der Regel die gleich zeitige Einnahme von fünf oder mehr Pharmaka resp. die Einnahme von einem oder mehreren nicht indizierten Medikamenten. Die Definition ist nicht evidenzbasiert, sondern drückt die übereinstimmende Meinung verschiedener auf diesem Gebiet forschender Autoren aus [1]. Wir wissen, dass das Phänomen der Polyphar mazie häufig ist: 57% der ≥65-jährigen US-ameri kanischen Frauen nehmen gleichzeitig mindestens fünf Medikamente ein, 12% sogar mindestens zehn Medikamente. Die Anzahl eingenommener «overthe-counter»-Medikamente beträgt in den USA bei 74-Jährigen in 90% mindestens eines und in 59% min destens zwei bis vier Medikamente [2]. 51% einer Kohorte von 72-jährigen Europäern nahmen mindestens sechs Medikamente gleichzeitig ein. Dieselbe Studie erwähnt, dass zudem 50–60% der älteren Patienten mindestens ein Medikament ohne Indikation, 30% mindestens ein ineffektives und 16% zwei Medikamente für die gleiche Indikation einneh men. Hingegen liegt bei 64% eine eindeutige Behand lungsindikation vor, für welche sie kein Medikament erhalten [2]. Bedenkt man die möglichen Folgen einer inkorrekten Medikation, so sind diese Zahlen besorg niserregend. Die wichtigsten Risikofaktoren für Polypharmazie Die Multimorbidität ist der Hauptrisikofaktor für Poly medikation. In Schottland fand man bei 65– 84-Jäh rigen durchschnittlich 2,6 Krankheiten – nur ca. ein Drittel der untersuchten Personen in diesem Alter 2 MEDIZIN AKTUELL HAUSARZT PRAXIS 2015; Vol. 10, Nr. 6 Die wichtigsten Risiken und Folgen der Polypharmazie Generell kann man sagen, dass mit Zunahme der Medikamentenzahl, die ein Patient einnimmt, auch das Risiko von unerwünschten Arzneimittelwirkun gen (UAW) zunimmt. Eine amerikanische Studie über 32 Jahre hat gezeigt, dass die Rate der im Spital auf getretenen schweren und fatalen UAW 2,29% betrug. Die UAW gleichen Schweregrads, die zu einer Hospitalisierung führten, wiesen eine Rate von 4,83% auf [6]. 1999 fand man im Ospedale San Giovanni in Bel linzona bei 6,4% der Patienten eine unerwünschte Arzneimittelwirkung. 96% dieser UAW waren vor aussehbar, 73% schwerwiegend und 57% der Medi kamente waren unnötig oder inkorrekt verordnet. In zwei Dritteln hatten die UAW zu Hospitalisierungen geführt [7]. Die Zahlen belegen, dass wir es mit häufi gen und häufig vermeidbaren Problemen zu tun haben. Um die Polypharmazie und deren negative Folgen zu reduzieren, wurde 1992 von Hanlon et al. der später Tab. 1: Erweiterter «medication appropriateness Index» (MAI) 1. Indikation vorhanden? («overuse») 2. Medikament wirksam? (Effektivität) 3. Dosis korrekt? (Organfunktionen, Gewicht, Alter?) 4. Einnahmeverordnung korrekt? 5. Einnahmeverordnung praktikabel? 6. Klinisch signifikante Medikament-MedikamentInteraktionen? 7. Klinisch signifikante Medikament-KrankheitInteraktionen? 8. Unnötige Doppelverordnungen? 9. Behandlungsdauer adäquat? 10. Ist es die kostengünstigste Alternative? 11. Gibt es für jede behandlungsbedürftige Indikation eine Verordnung? («underuse») 12. Sind die ausgewählten Substanzen im aktuellen Zustand sicher? 13. Ist die Arzneimittelhandhabung und -applikation gewährleistet? 14. Ist die Compliance gewährleistet? nach [1] war nicht multimorbid. Ca. 20% hatten fünf und mehr relevante Erkrankungen. Bei den ≥85-Jährigen betru gen die entsprechenden Zahlen sogar 3,26, 18,5% und 30%. Man fand die hinlänglich aus dem klinischen Alltag bekannten Krankheitskombinationen: Pati enten mit COPD litten z.B. zusätzlich an koronarer Herzerkrankung, Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz, Stroke, Vorhofflimmern, schmerzhaften Zuständen, Depression und an Angststörungen [3]. Bei stationä ren Patienten der Inneren Medizin am Universitäts Spital Zürich fand man ebenfalls eine hohe Anzahl polymorbider Patienten [4]. Somit stellt das Alter den wichtigsten Risikofaktor für Polypharmazie dar. Die Anzahl Arztkonsultationen und die Anzahl an einer Behandlung beteiligter Ärzte sind weitere Risikofaktoren. Bedingungsloses Umsetzen von Behandlungs richtlinien kann zu einer gefährlichen Polypharmazie führen. Guidelines (z.B. für Hypertoniebehandlung, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern, Hyperlipidämie etc.) sind in der Regel sehr differenziert ausgestaltet. Der Behandelnde muss sich deshalb genau Rechen schaft geben, in welche Gruppe der aktuell zu behan delnde Patient nun wirklich gehört. Dabei spielen das Patientenalter, das Gewicht, evtl. das Geschlecht, Funktion von Niere und Leber, die Polymorbidität und die gleichzeitig verabreichten Medikamente die grösste Rolle [5]. Bei geriatrischen Patienten ist stets die Behand lungsabsicht anhand des Behandlungsziels zu klären. Je älter der Patient, desto weniger bedeutsam wird die Behandlung von asymptomatischen Risikofaktoren wie Hyperlipidämie, Bluthochdruck (weniger tiefe Grenzwerte) und Diabetes mellitus (höhere HbA1cToleranz). Dies ist wichtig, um Probleme wie Ortho stase (im Falle der BD-Behandlung) oder Hypo glykämien (im Falle der Diabetes-Behandlung) zu vermeiden. Dafür wird die Behandlung von Sympto men wie Schmerzen, Obstipation, Tremor, Schwindel etc. wichtiger. Symptomatische unerwünschte Arznei mittelwirkungen sind zu vermeiden. erweiterte «medication appropriateness Index» publi ziert. Tabelle 1 enthält den erweiterten MAI-Index mit 14 Schlüsselfragen [1]. Die MAI-Fragen definie ren gleichzeitig die Hauptrisiken der Polypharmazie. Gefährliche Medikamente Es existieren verschiedene Listen mit potenziell gefährlichen Medikamenten für Patienten im Alter von mindestens 65 Jahren: Beers-Liste (USA 1997), PRISCUS-Liste (D 2010) [8], FORTA-Liste (D 2013) [9]. Diese haben alle den Nachteil, dass sie rasch ver alten, nie umfassend resp. vollständig sind und regio nale Unterschiede in den verfügbaren Medikamenten nicht berücksichtigen. Deren Gebrauch im klinischen Alltag scheitert zudem an der Verfügbarkeit der Infor mation zum Zeitpunkt der Verordnung. Niemand ist in der Lage, diese Listen mit insgesamt über 100 Medi kamenten im Gedächtnis präsent zu haben. Man kann sich allerdings bemühen, die gelisteten Medikamente nicht ins persönliche «Verschreibungsrepertoire» auf zunehmen. In Irland wurden von Gallagher et al. die STOPPund START-Kriterien für Patienten über 65 Jahren publiziert [10]. Erstere beschreiben 65 klinisch signifi kante Kriterien für eine möglicherweise unangemes sene Verschreibung während die START-Kriterien 22 evidenzbasierte Verschreibungsindikationen für häufige Krankheiten beinhalten. Genannte Listen resp. diese Kriterien könnten einem IT-basierten Ver schreibungstool zugrunde gelegt werden. Aus verschiedensten Studien wissen wir, dass besondere Vorsicht und Genauigkeit bei den in Tabelle 2 aufgeführten Medikamenten angezeigt ist. Gefährliche Situationen Gefährlich sind neben unerwünschten Arzneimittel wirkungen, Dosierungs- und Verschreibungsirrtümern 3 MEDIZIN AKTUELL P P M MEDIC Tab. 2: Die für ältere Patienten gefährlichsten Medikamente mit ihren Hauptproblemen Medikamentengruppe Hauptprobleme Antikoagulanzien, Plättchenaggregationshemmer Blutungen, Thromboembolien (bei ungenügenderDosierung resp. Interaktionen) Insulin, orale Antidiabetika Hypoglykämien Opiate Stürze, Verwirrtheitszustände, gastrointestinale Nebenwirkungen, Pflegenotfälle Nicht-steroidale Antirheumatika und Kortikoide Magendarmblutungen, Hypertonie, Hyperglykämie, Nierenversagen Psychopharmaka, vor allem Benzodiazepine und Neuroleptika Stürze, Verwirrtheitszustände, Abhängigkeit, Pflegenotfälle insbesondere Interaktionen. Die Interaktionsmöglich keiten nehmen mit zunehmender Anzahl gleichzei tig verabreichter Medikamente überproportional zu. Fünf Substanzen führen zu zehn Paarbildungen, acht schon zu 28 und zehn Pharmaka können sogar 45 sich gegenseitig beeinflussende Paare bilden. Die generelle Formel dazu lautet I = (n2 – n) : 2. Die Beeinflussung der Wirkung eines Vitamin K-Antagonisten (z.B. Phenprocoumon) durch Hinzu gabe weiterer Pharmaka kann zu Unter- (Thrombo emboliegefahr) oder Überantikoagulation (Blutungs gefahr) führen. Für die wichtigsten Interaktionen mit Vitamin K-Antagonisten und direkten oralen Antikoagulan zien (DOAK) siehe Tabelle 3. Amiodaron ist im Gegensatz zu Dronedaron unproblematisch bei DOAK. Zu beachten ist, dass der antikoagulatorische Effekt der DOAK im Routine- Alltag nicht gemessen werden kann – im Gegensatz zum INR-Wert (Quick) bei den VKA. Für weitere Interaktionsdaten verweisen wir auf die übersichtli che Zusammenstellung in [11]. Was kann getan werden im Umgang mit der Polypharmazie? Eine möglichst genaue Klärung der Patientensitua tion schafft eine gute Ausgangslage: Die Feststellung der funktionellen Beeinträchtigungen mithilfe eines geriatrischen Assessments ist hilfreich. Sodann muss Klarheit über die Komorbiditäten erlangt werden. Zusammen mit dem Patienten oder den Angehöri gen sollten Therapieziele festgehalten werden. Dar aus folgt, welche allfälligen Morbiditäten nicht (mehr) behandelt werden – dies unter Berücksichtigung der Risiken mit und ohne Therapie. Danach können die Therapien ausgewählt und aufeinander abgestimmt werden, z.B. mittels MAI-Fragen. Anschliessend folgt die Interaktionsprüfung. Am Ende muss gesamthaft nochmals die Mach- und Umsetzbarkeit der Verord nung überprüft werden. Dann erst wird verordnet mit den dazugehörigen Anweisungen an Patient und Umgebung (Betreuungspersonen). Evtl. können gewisse Medikamente durch andere Verordnungen (Verhalten, physikalische, pflegerische Massnahmen) ersetzt werden. Der Geriater A. E. Stuck hat kürzlich im Swiss Medical Forum einen möglichen Algorithmus für Verordnungen bei betagten Patienten veröffentlicht [12]. Wichtig scheint uns, dass das Problem erstens überhaupt realisiert wird und dass zweitens jeder Verordnende ein standardisiertes Vorgehen wählt, das die Polypharmazie minimiert und – falls sie not wendig ist – deren Risiken so klein wie möglich hält. Tab. 3: Die wichtigsten Interaktionen mit Vitamin K-Antagonisten und direkten oralen Antikoagulanzien Wirkung verstärkt Vitamin K-Antagonisten DOAK –– Allopurinol, Amiodaron, Simvastatin, Cisaprid, Disulfiram –– Dronedaron –– Gewisse nicht-steroidale Antirheumatika –– COX-2-Hemmer –– HIV-Proteaseinhibitoren (z.B. Ritonavir) –– Trizyklische Antidepressiva –– Verapamil –– Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer –– Quinidine –– Ketoconazol –– Cephalosporine, Sulfonamide –– Erythromycinderivate –– Tetrazykline, Fluoroquinolone –– Imidazolderivate (Liste nicht vollständig) Wirkung abgeschwächt –– Kortikoide –– Rifampicin –– Rifampicin –– Carbamazepin –– Diuretika –– Phenobarbital –– Phenytoin Keine Daten/Vorsicht 4 Dabigatran und Rivaroxaban haben mehr Interaktions-Daten als Apixaban und Edoxaban HAUSARZT PRAXIS 2015; Vol. 10, Nr. 6 Wichtige Punkte für die Praxis –– Den Patienten mit seinen Haupt- und Komorbidi täten und seine Fragilität mit den wichtigsten ger iatrischen Problemen mittels Assessment erfassen. –– Therapieziele formulieren; symptomatische vs. evi denzbasierte Therapien; bestehende Therapien zur Risikoreduktion kritisch hinterfragen. –– MAI-Fragen anwenden (am besten mittels Informa tik/elektronischer Verordnung umsetzbar). –– Interaktionen, Kontraindikationen festhalten (STOPPFragen, am besten mittels Informatik/elektronischer Verordnung umsetzbar). –– Potenziell fehlende Medikamente (START-Fragen, am besten mittels Informatik/elektronischer Ver ordnung umsetzbar). –– Therapie beim Patienten überhaupt durchführbar? –– Verordnung formulieren mit Einnahmeempfehlung und allfälliger Hilfe (Angehörige, Spitex etc.). –– Verordnungen fortlaufend erfassen mit Wirkung, unerwünschten Wirkungen oder fehlender Wirkung. Dr. med. Thomas Martin Wieland Stv. Chefarzt Departement Innere Medizin Kantonsspital Graubünden Loëstrasse 170, 7000 Chur [email protected] MEDIZIN AKTUELL Literatur: 1. Haefeli WE: Polypharmazie. Schweiz Med Forum 2011; 11(47): 847–852. 2. Hajjar E, et al.: Polypharmacy in Elderly Patients. Am J Geriatr Pharamcother 2007; 5: 345–351. 3. Barnett K, et al.: Epidemiology of multimorbidity and implications for health care, research, and medical education: a cross-sectional study. Lancet 2012; 380: 37–43. 4. Schneider F, et al.: Prevalence of multimorbidity in medical inpatients. Swiss Med Wkly 2012; 142: w13533. 5. Mancia G, et al.: ESH/ESC Guidelines for the management of arterial hypertension. European Heart Journal 2013; 34: 2159–2219. 6. Lazarou J: Incidence of Adverse Drug Reactions in Hospitalised Patients. Jama 1998; 279: 1200–1205. 7. Lepori V: Unerwünschte internmedizinische Arzneimittelwirkungen bei Spitaleintritt. Schweiz Med Wochenschr 1999; 129: 915–922. 8. Holt S: Potenziell inadäquate Medikation für ältere Menschen: Die PRISCUS-Liste. Deutsches Ärzteblatt 2010; 107(31–32): 543–551. 9. Kuhn-Thiel A: Consensus Validation oft he FORTA (Fit fOr The Aged) List: A Clinical Tool for Increasing the Appropriateness of Pharmacotherapy in the Elderly. Drugs Aging 2014; 31: 131–140. 10. Gallagher P: STOPP (Screening Tool of Older Person’s Prescriptions) and START (Screening Tool to Alert doctors to Right Treatment). Consensus validation. International Journal of Clinical Pharmacology and Therapeutics 2008; 46: 72–83. 11. Hafner V: Arzneimittelinteraktionen. Internist 2010; 51: 359–370. 12. Stuck AE, et al.: Reformbedarf: Es braucht eine höhere Dosis Geriatrie. Swiss Medical Forum 2015; 15(1–2): 15–17. 5
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