Reisebericht Anna Catarata

Jugendbotschafter nach Japan 2015 – Reisebericht
Wenn man im Rahmen des Programms „Jugendbotschafter nach Japan“ in das Land reist, das einen
schon seit sehr langer Zeit fasziniert, dann ist es wohl verständlich, dass die Erwartungen an die
Reise im Voraus nicht unbedingt niedrig ausfallen. Das war zumindest bei mir der Fall, seit ich
Ende Juli die Zusage erhalten hatte, freute ich mich wie nie zuvor auf die Herbstferien und
spätestens seit dem Vorbereitungswochenende in Berlin, wo wir zum ersten Mal Genaueres über das
Programm erfuhren und auch viel von den Jugendbotschaftern des letzten Jahres erzählt bekamen,
war mir klar, dass die zwei Wochen in Japan eine einzigartige, unvergessliche Erfahrung werden
würden. Dennoch versuchte ich, – mit zugegebenermaßen mäßigem Erfolg – meine Erwartungen im
Zaum zu halten, weil ich schon oft genug erleben musste, wie zu hohe Erwartungen zu
Enttäuschung führen können. Im Nachhinein muss ich allerdings zugeben, dass ich mir diese
Bemühungen absolut hätte sparen können. Das Programm hat nicht nur all meine hohen
Erwartungen erfüllt, es hat sie bei weitem übertroffen. Die zwei Wochen waren tatsächlich eine
einzigartige, unvergessliche, aber auch spannende, intensive, unheimlich bereichernde – und ich
könnte noch eine Million andere Adjektive hinzufügen – Zeit, sodass ich niemals alles Erlebte, alles
neu Gelernte hier erwähnen könnte, dafür ist die Fülle an Eindrücken, die mein Bild von Japan
(neu) geprägt haben, viel zu groß. Die Frage, die mir in den Tagen nach meiner Rückkehr nach
Deutschland wohl am häufigsten gestellt wurde, war ein simples: „Und, wie war's?“ Doch egal wie
sehr ich mich bemühte oder wie geduldig meine Zuhörer waren, meine Antwort fiel für mich nie
zufriedenstellend aus, weil sie dem Erlebten nie gerecht zu werden schien. Gerne hätte ich jedem
gesagt, er solle seine Koffer packen und selbst nach Japan fliegen – oder sich nächstes Jahr als
Jugendbotschafter bewerben. Nichtsdestotrotz will ich in meinen Reisebericht versuchen, einen
Eindruck von dem Aufenthalt und vor allem meinen bisherigen Eindruck von Japan zu vermitteln.
„Nihon-go ya nihon no bunka o benkyo shitai desu“ – „Ich möchte Japanisch und die japanische
Kultur kennenlernen“ war einer der ersten Sätze, die wir in unserem Basiskurs Japanisch bei YFU
Japan lernten. Dieser Satz beschreibt recht treffend, was wir Jugendbotschafter in den folgenden
Tagen auch erleben sollten. Noch nie habe ich die Kultur eines anderen Landes so intensiv und so
vielfältig kennengelernt wie die Japans, und das in nur zwei Wochen. Vom Taiko-Trommeln über
Vorträge über die japanische Zivilgesellschaft bis zur Teilnahme an traditionellen Teezeremonien
war alles dabei, und gerade die Mischung aus Japan „in der Theorie“ und Japan „in der Praxis“
machte das von morgens bis abends vollgepackte Programm so abwechslungsreich und
hochspannend. So lernten wir viel über Japan, indem wir von Japan-Experten Vorträge hörten oder
mit ihnen Gespräche führten, wie z.B. im Deutschen Institut für Japanstudien oder in der Deutschen
Botschaft in Tokio, aber auch, indem wir Aspekte der japanischen Kultur selbst hautnah erleben
durften, z.B. durch die Teilnahme an einer Za-Zen Meditation oder einen Besuch im Onsen und
natürlich durch den Aufenthalt in einer japanischen Gastfamilie. Die Vielfalt Japans spiegelte sich
in unserem Programm wider, wobei wir zwar selbstverständlich nicht alle, aber durchaus viele
Facetten des Landes, das uns alle schon seit langem interessierte, kennenlernen konnten.
Das geschah an vier verschiedenen Orten, zum einen in Tokyo, wo wir die ersten sechs Tage unserer
Reise verbrachten, außerdem besuchten wir Kyoto und Hiroshima und verbrachten die letzte Woche
in unserer jeweiligen Gastfamilie, in meinem Fall in einem kleinen Dorf in der Präfektur Kanagawa,
etwa eineinhalb Stunden von Tokyo entfernt. An jedem dieser Orte entdeckte ich eine neue Seite
Japans, jeder Ort hat seinen eigenen Charakter und prägte mein Bild von Japan auf andere Weise.
Da war zunächst einmal Tokyo, die Millionenstadt, mit ihren hoch aufragenden Wolkenkratzern,
ihrem äußerst verzwickten U-Bahnsystem und den Menschenmassen, die sich zu jeder Tageszeit in
den Straßen der Stadt tummeln. Als ich Tokyo während der Busfahrt vom Narita-Flughafen in die
Stadt zum ersten Mal mit eigenen Augen sah, nahm ich vor allem ein Meer aus Grau, das gar kein
Ende zu nehmen schien, wahr. Tokyo ist nicht die erste Großstadt, die ich nicht nur aus Filmen
kenne, und dennoch nahm mir der gewaltige Umfang der Stadt beim ersten Anblick den Atem und
rief in mir auch in den folgenden Tagen immer wieder Erstaunen hervor, zum Beispiel wenn ich
jeden Morgen zu der fantastischen Aussicht, die wir von unserem Hostelzimmer aus hatten,
aufwachte.
Blick vom Tokyo Central Youth Hostel in Shinjuku
Meine Vorstellungen von Tokyo vor der Reise entsprachen ungefähr dem, was uns tatsächlich dort
erwartete, und dennoch ist es noch einmal etwas ganz anderes, das lebendige Treiben der Stadt
selbst zu erleben. Vom ersten Moment an wusste ich oft gar nicht, in welche Richtung ich meinen
Blick zuerst wenden sollte, überall gab es Neues zu entdecken und bestaunen. Von riesigen
Werbeplakaten, die ganze Gebäudefassaden bedecken, über die japanische Straßenbeschilderung
und die teilweise abenteuerlich gebauten Strommaste bis zu den Bewohner der Stadt selbst war es
spannend, jedes noch so kleine Detail aufzunehmen und unser Vorankommen in der Stadt, wenn wir
aufgrund des straffen Zeitplans von einem Programmpunkt zum nächsten eilten, wurde oft durch
den Versuch, jeden einzelnen neuen Anblick mit der Kamera festzuhalten, beeinträchtigt. Auch
bereits im Voraus Bekanntes endlich mit eigenen Augen zu sehen, wie die Omnipräsenz der
Getränkeautomaten oder erste Begegnungen mit den berühmt-berüchtigten vollautomatischen
Toiletten, sorgte für Begeisterung unter uns Japan-Begeisterten. Weitere Highlights waren z.B.
unsere Erlebnisse in der japanischen U-Bahn, am beeindruckenden Meiji-Schrein oder bei Nacht in
den bekannten Stadtteilen Shibuya und Shinjuku, mit ihren Fluten an grellen Neon-Lichtern und
Menschen. Gerne würde ich an dieser Stelle noch viel mehr aufzählen, doch alles könnte ich
ohnehin nicht nennen, ohne den Rahmen dieses Reiseberichts zu sprengen. Außerdem war es nicht
nur die Stadt selbst, die mich unheimlich beeindruckte, sondern selbstverständlich auch das
umfangreiche Programm, das wir hier erleben durften und mit dem uns Japan in verschiedenen
Bereichen wie Politik, Geschichte oder Kultur jeden Tag auf andere Weise näher gebracht wurde.
Ich fand es z.B. äußerst spannend, die Darstellung der japanisch-deutschen Beziehungen, über die
uns einerseits in der Deutschen Botschaft, andererseits im Japanischen Außenministerium berichtet
wurden, miteinander vergleichen zu können, oder mit der in Tokyo lebenden freien Journalistin
Sonja Blaschke über die Ereignisse am Tag der Katastrophe in Fukushima und ihre Folgen für die
Gegend und ihre Bewohner zu reden. Wir lernten jeden Tag so viel über Japan, und das auf so
verschiedene Art und Weise, wie es uns zu Hause oder auch als „reguläre“ Touristen in Japan
niemals möglich gewesen wäre.
Dadurch verging die Zeit wie im Flug, und ehe ich auch nur ansatzweise alle neuen Eindrücke und
mein neu gefundenes Wissen verarbeiten konnte, reisten wir schon mit dem Shinkansen, dem
japanischen Hochgeschwindigkeitszug (übrigens eines der vielen Dinge, die ich gerne aus Japan
nach Deutschland mitgenommen hätte), nach Kyoto weiter, wo uns ein ebenso volles, ebenso
spannendes aber dennoch sehr anderes Programm erwartete.
In Kyoto, der alten Hauptstadt von großer kulturgeschichtlicher Bedeutung für Japan, lernten wir
die traditionelle Seite des Landes näher kennen. So wurde uns z.B. im Gesshin-in Tempel gezeigt,
wie man eine Teezeremonie traditionell durchführt, woraufhin wir sogar selbst bei der Zubereitung
des Tees Hand anlegen durften. Auch die Einführung in die buddhistische Za-Zen Meditation, die
wir von einem Mönch in traditioneller Tracht erhielten, war sehr interessant, wobei ich schnell
lernte, dass Meditieren alles andere als einfach ist. Es ist erstaunlich, wie schwer es ist, seinen Kopf
vollkommen „leer“ zu machen, sei es nur für wenige Sekunden. Und während wir als Anfänger nur
zehn Minuten am Stück zu meditieren versuchten, erzählte uns der Mönch, dass er am Tag
stundenlang meditieren kann. Als jemand, der manchmal zu rastlosen Gedankenströmen neigt, hat
mich dieser erste Kontakt mit der Za-Zen Meditation dazu inspiriert, auch zu Hause hin und wieder
zu versuchen, meinen Kopf frei zu räumen und die Meditation als Entspannung vom oft hektischen
Alltag zu genießen. Jedoch war die Tempelanlage selbst nicht nur ein Ort des Rückzugs und der
Ruhe, im Gegenteil: Die in die Anlage integrierte Einkaufsstraße, auf der man alles von MatchaSüßigkeiten bis Totoro-Kuscheltieren erwerben konnte, konnte nicht nur in ihrer Anzahl von
Menschen mit den belebten Straßen Tokyos mithalten, sie zeigte auch, dass die Tradition in der
Moderne eben auch mit Tourismus und Kommerz in Verbindung steht. Allein der Anblick der im
Licht der untergehenden Sonne rot erstrahlenden Tempelanlage erklärt den Ansturm an Touristen.
Die Tempelanlage Kiyomizudera in Kyoto
Dass direkt neben den buddhistischen Tempeln auch Schreine aus shintoistischer Tradition zu
finden sind, zeigt die absolute Koexistenz dieser beiden Religionen in Japan und führte mir einen
ganz anderen Umgang mit Religiosität, als ich ihn von meinem christlich geprägten Heimatland her
kenne, vor Augen. Überhaupt fand ich das Thema „Religionen in Japan“ sehr spannend, über das
wir auch schon am Meiji-Schrein einiges von dem Shinto-Priester Katsuji Iwahashi, genannt „Kat“
erfuhren. Die Begegnung mit dem selbstironischen Priester, der sich als „nicht sehr religiös“
bezeichnete und auch keine Scheu vor gelegentlichen Schimpfwörtern zeigte, werde ich wohl nicht
so bald vergessen, und das nicht nur, weil sein Vortrag und seine ganze Art sehr unterhaltsam waren.
Er schaffte es, uns die Essenz des Shintoismus und seine Bedeutung für die Japaner äußerst
nachvollziehbar zu vermitteln und zeigte dabei sein tiefes Verständnis der japanischen Kultur und
der Religiosität des Menschen im Allgemeinen, wodurch er auch meinen eigenen Blick auf Religion
erweiterte und mir einigen Stoff zum Nachdenken gab. Dass eine ehemalige Jugendbotschafterin
tatsächlich den Plan gefasst hat, selbst Shinto-Priesterin zu werden, fand ich nach dem Gespräch
nicht mehr so erstaunlich wie vielleicht zuvor. Vor der Reise war Religion nicht gerade ein Aspekt,
der mich an Japan im Besonderen interessierte, aber seit meinen Begegnungen mit Buddhismus und
Shintoismus hat sich das geändert.
Einen der beeindruckendsten Tage innerhalb der zwei Wochen in Japan erlebte ich in Hiroshima.
Wir fuhren von Kyoto aus für einen Tag dorthin, wobei wir wenig von der Stadt selbst sahen,
sondern den Hiroshima Peace Memorial Park und das zugehörige Museum besuchten, eine
Erfahrung, die die lange Anreise mehr als wert war. Sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf
menschlicher Ebene wurden die Auswirkungen der Atombombe dargestellt, und durch die
Mischung aus harten Fakten und bewegenden Einzelschicksalen erweiterte sich mein bisher auf
einen Namen und ein vages Datum begrenztes Wissen über Hiroshima zu einem eindringlichen Bild
der schrecklichen Katastrophe, die sich offenkundig tief in das Gedächtnis der Japaner geprägt hat.
Was mir am Hiroshima Peace Memorial Park am besten gefallen hat, ist die Tatsache, dass er,
anders als ich vielleicht erwartet hatte, weniger ein Mahnmal eines dunklen Kriegsverbrechens
darstellt, sondern vielmehr ein Symbol gegen den Krieg und für den Frieden ist, wodurch er
zugleich eine positive Botschaft verbreitet und zum Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft
auffordert.
Der Hiroshima Peace Memorial Park mit der „Friedensflamme“, die seit 1964 durchgängig brennt
und erst erlischt, wenn alle nuklearen Waffen auf der Erde abgeschafft wurden
Ebenfalls sehr beeindruckend fand ich das Gespräch mit dem koreanisch-stämmigen Zeitzeugen Mr.
Jongkeun Lee. Mr. Lee, der schon 86-Jahre alt und dennoch sehr fit ist, laut eigener Aussage
Karaoke-singen liebt und sehr viel lächelt, beschrieb uns sehr detailliert und eindrücklich, wie er
den 06. August 1945 erlebte und überlebte. Außerdem sprach er von der Diskriminierung, die er
aufgrund seiner koreanischen Abstammung in Japan erfuhr, was dem Gespräch eine gewisse
doppelte Thematik verlieh und ebenfalls unser Bild von Japan und seiner Geschichte erweiterte. Zu
sehen, dass Mr. Lee trotz des unglaublichen Leides, das er schon in jungen Jahren erfahren musste,
heute ein vollkommen gesunder und überaus positiv eingestellter Mensch ist, fand ich sehr
ermutigend. Immer wieder dankte er uns dafür, dass wir uns interessieren und seine Botschaft in die
Welt hinaustragen werden, was auch immer wichtiger wird, denn obwohl Mr. Lee noch sehr fit ist,
werden Zeitzeugen immer seltener und es liegt an uns nachfolgenden Generationen,
Kriegsverbrechen wie das in Hiroshima nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und die richtigen
Lektionen daraus zu lernen. Als Jugendliche aus Deutschland ist uns das Thema
„Vergangenheitsbewältigung“ alles andere als unbekannt, weswegen es sehr interessant war, mehr
über die Geschichte Japans und den Umgang damit zu erfahren. Alles in allem stimmte mich dieser
Tag in Hiroshima nachdenklich und inspirierte mich zugleich – denn viel mehr noch als dunkle
Kapitel der Geschichte standen für mich an diesem Tag die Bedeutung von Frieden und
Menschlichkeit im Vordergrund.
Trotz der Unterschiedlichkeit der Orte, die wir in Japan besichtigten, und obwohl sich mir überall
eine neue Seite Japans auftat, gibt es eine Sache, die sie alle gemeinsam hatten: das gute Essen.
Zum Kennenlernen der japanischen Kultur gehörte für mich definitiv auch das Erleben der
japanischen Küche in ihrer vollen Vielfalt. Bevor ich nach Japan kam, kannte ich außer Sushi kaum
ein anderes japanisches Gericht, wodurch sich mir als Liebhaber von gutem internationalem Essen
in den zwei Wochen jeden Tag auch kulinarische Entdeckungen boten. Als ich, frisch nach
Deutschland zurückgekehrt, bei einem Interview mit unserer regionalen Tageszeitung gefragt
wurde, ob ich das Essen denn „gut überlebt habe“, konnte ich nicht anders, als über die
Fragestellung lachend den Kopf zu schütteln und die überraschte Journalistin aufzuklären, dass ich
das Essen nicht nur überlebt, sondern unglaublich genossen und meine Leidenschaft für die
japanische Küche entdeckt habe.
Bei allem Erlebten, all den spannenden Orten, die wir kennenlernten, dem fantastischen Essen, das
wir probieren durften, und den verschiedenartigen Programmpunkten, bei denen wir unheimlich
viel lernten, fällt es natürlich schwer, ein absolutes Highlight der Reise herauszusuchen. Doch wenn
ich das, was mir in den beiden Wochen am allerbesten gefallen und meine Erinnerungen an die Zeit
am stärksten geprägt hat, benennen müsste, so wären es die Begegnungen mit den zahlreichen
unterschiedlichen Menschen, die wir hatten, ob in Tokyo, Kyoto, Hiroshima oder in meiner
Gastfamilie und in der japanischen High School.
Oft kommt man, wenn man ein Land noch nicht selbst erlebt hat, nicht umhin, gewisse Stereotype
als seine eigenen Vorstellungen von dem Land und seinen Menschen zu adoptieren – so ging es mir
auch mit Japan. Als ich dorthin reiste, hatte ich unterbewusst die Erwartung, dass sich die meisten
Japaner uns gegenüber äußerst höflich, aber etwas distanziert verhalten würden. In dieser Hinsicht
wurde ich sehr überrascht: überaus höflich waren die Menschen tatsächlich, jedoch auch viel
offener, kontaktfreudiger und „interessierter“, als ich gedacht hätte. Oft wurden wir gefragt, wer wir
seien, woher wir kämen und was uns nach Japan führe. Die Leute freuten sich, dass wir Jugendliche
aus dem weit entfernten aber gut bekannten Deutschland so ein großes Interesse an Japan und seiner
Kultur zeigten.
Ein Beispiel für die unglaubliche Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Japaner erlebten wir an
unserem freien Abend in Tokyo, als wir die Stadt auf uns selbst gestellt erkunden durften und ein
Ramen-Restaurant suchten. Wir fragten eine Japanerin nach dem Weg, und da wir ihre
Wegbeschreibung auf Japanisch nicht verstehen konnten, gestikulierte sie uns, ihr zu folgen. Sie
führte uns bis vor das Restaurant, und nachdem wir ihr gedankt hatten, ging sie zurück in die
Richtung, aus der wir gerade gekommen waren. Sie hatte für uns also nicht nur einen Umweg
genommen, sondern war sogar in die entgegengesetzte Richtung ihres eigentlichen Ziels gelaufen,
nur um uns sicher zu unserem heiß ersehnten Ramen zu geleiten.
Den Japanern wird eine gewisse Xenophobie nachgesagt und, wie eine Japanerin selbst mir erklärte,
stimmt das wohl – nicht aus rassistischen Gründen sondern vielmehr aufgrund ihrer langen
Geschichte als isolierter Inselstaat mit wenig bis zu überhaupt keiner Immigration herrscht bei den
Japanern immer noch ein gewisses Misstrauen gegenüber Ausländern, genauer gesagt gegenüber
Migranten. Denn diese Xenophobie trifft nicht auf Touristen, die das Land bewundern wollen und
dabei auch noch die Wirtschaft unterstützen, sondern eher auf Ausländer, die permanent in Japan
leben wollen. Dementsprechend kann auch keineswegs von einer grundsätzlichen
Ausländerfeindlichkeit die Rede sein, ich habe eher das krasse Gegenteil erlebt: in meiner
japanischen High School waren alle hellauf begeistert, dass eine deutsche Austauschschülerin an
ihre Schule kam, auch wenn es nur für drei Tage war. Während an unserer Schule Austauschschüler
zwar in der eigenen Klasse immer für etwas Aufregung sorgen und freudig aufgenommen werden,
interessiert sich der Rest der Schülerschaft in der Regel kaum dafür. In Japan dagegen hatte ich das
Gefühl, dass jeder einzelne Schüler schon vor meiner Ankunft über mich informiert war und am
ersten Tag war die Anzahl der Leute, die mich begrüßen und sehen wollten, fast überwältigend.
Obwohl ich selbst Halb-Asiatin bin und somit erwartet hatte, weniger Aufsehen zu erregen als
vielleicht jemand Blondes mit blauen Augen, fiel ich aufgrund der mangelnden Diversität und
aufgrund meiner (in Japan) überdurchschnittlichen Größe überall auf. Und obwohl die starke
Reaktion meiner temporären Klassenkameraden am Anfang etwas gewöhnungsbedürftig war (ich
wurde vielmals mit aufgerissenen Augen begrüßt), nahmen mich meine japanischen Mitschüler
sofort sehr herzlich auf und bemühten sich stets, mich in den Schulalltag einzubinden und sich mit
mir zu unterhalten. Letzteres stellte sich allerdings als schwerer als gedacht heraus: Die
Sprachbarriere war größer als ich erwartet hätte. Leider konnte ich vor meiner Japan-Reise
überhaupt kein Japanisch sprechen oder verstehen, und der Basiskurs Japanisch ganz am Anfang
unseres Aufenthalts half mir zwar sehr, war aber definitiv zu kurz, um mich wirklich
konversationsfähig zu machen, was ja auch nicht Sinn der Sache war. Dennoch musste ich in der
High School schnell feststellen, dass ich selbst mit meinen paar gebrochenen Sätzen Japanisch
weiter kam als mit jeglichem Englisch. Hätte ich gewusst, dass das Englisch-Niveau in meiner
Schule, aber auch insgesamt so niedrig sein würde, hätte ich mich besser auf die Reise vorbereitet
und früher angefangen, Japanisch zu lernen. Aber ungeachtet mancher sprachlicher Hindernisse hat
es unheimlich Spaß gemacht, mit den japanischen Schülern zu kommunizieren und beispielsweise
Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Schülern, Lehrern und dem Unterricht unser beider
Länder festzustellen. Ähnlich ging es mir auch, als wir die Gelegenheit hatten, uns mit einigen
Deutsch-Studenten der Rikkyo-Universität zu treffen, oder als wir zwei Tage mit den japanischen
Jugendbotschaftern, die im Sommer 2015 für zwei Wochen nach Deutschland gereist waren,
verbringen durften. Das große Interesse am jeweils anderen Land verband uns und sorgte für
interessanten Konversationsstoff. Es war auch spannend, von den Erlebnissen der japanischen
Jugendbotschafter in Deutschland zu hören und mit ihnen über ihre und unsere Sicht auf die Politik
und internationalen Beziehungen unserer beiden Länder zu reden – hierbei stellten wir schnell fest,
dass wir in vielerlei Hinsicht gleichgesinnt sind und ähnliche Motivationen, Interessen und Ziele
haben. Dieser internationale Austausch stellt für mich einen sehr wichtigen und geschätzten Teil
meiner Erfahrungen in Japan dar, der mir neue Impulse für die Zukunft gab.
In meiner Klasse an der Tsurumine High School
Mit den japanischen Jugendbotschaftern im
Gesshin-in Tempel
Unvergesslich war auch die Zeit in meiner japanischen Gastfamilie, wo ich sechs Tage lang in den
Alltag der Familie eintauchen durfte. Und wenn ich „eintauchen“ sage, dann meine ich das – ich
fühlte mich nicht wie ein außenstehender Beobachter und wurde auch weniger wie ein Gast sondern
eher wie ein neues Familienmitglied behandelt. Ich wurde in alle ganz alltäglichen Aktivitäten
eingebunden, kochte gemeinsam mit meiner Gastmutter, machte Origami mit meiner jüngeren
Gastschwester und schaute japanisches Fernsehen mit „Jiji“ und „Baba“ – den Eltern meiner
Gastmutter, die im selben Haus wohnen und die ich wie alle anderen „Opa“ und „Oma“ nennen
durfte. Da meine Gastfamilie als Großfamilie lebt und auch die Geschwister meiner Gastmutter mit
eigenen Kindern nicht weit entfernt wohnen, war immer einiges los im Haus und ich erlebte eine
Art Familienleben, die mir, mit meiner vierköpfigen Familie ohne jegliche Verwandtschaft im
direkten Umkreis, bisher unbekannt war.
Meine Gastfamilie war sehr offen für meine zahlreichen Fragen über das Leben in Japan, und zeigte
im Gegenzug großes Interesse an meinem Leben in Deutschland. Glücklicherweise sprach meine
Gastmutter sehr gut Englisch und konnte somit für uns andere in beide Richtungen übersetzen, doch
auch wenn sie einmal nicht dabei war, konnten wir uns mit einem Mischmasch von Englisch,
Japanisch und Körpersprache verständigen.
Im Alltag meiner Gastfamilie entdeckte ich eine Mischung aus japanischer Tradition, Moderne und
westlichen Einflüssen. Die Tradition äußerte sich z.B. in ihrem „Washitsu“, dem mit Tatami-Matten
ausgelegten traditionellen japanischen Raum, in dem sich auch ein buddhistischer Schrein zur
Anbetung der Vorfahren befand. Jiji, der irgendwann im Laufe seines Berufslebens beschlossen
hatte, seiner Leidenschaft zu folgen und sich vom Ingenieur zum buddhistischen Priester ausbilden
zu lassen, führte mir an einem Abend sein Ritual der Anbetung vor dem Altar vor. Gleichzeitig
zeigte sich meine Gastfamilie aber auch als moderne japanische Familie, z.B. indem auf
traditionelle Essensregeln bei weitem nicht so viel wert gelegt wurde, wie ich es erwartet hatte und
wie es vielleicht in anderen japanischen Familien noch der Fall ist. So war ich zu meiner
Überraschung die einzige, die nach jedem Essen „gochisousamadeshita“, also „Vielen Dank für das
Essen“ sagte, weil wir das in unserem Vorbereitungskurs so gelernt hatten. Auch der Umgang mit
den Stäbchen, zu dem uns eine Reihe von Regeln beigebracht wurde, war weit lockerer als ich
erwartet hatte. Westliche Einflüsse kamen vor allem aus der Popkultur, die Lieblingsfilme, -serien
und -lieder meiner beiden Gastschwestern waren auch mir gut bekannt und stammten größtenteils
aus Amerika.
Den in manchen Aspekten unserem eigenen sehr ähnlichen, in anderen jedoch sehr verschiedenen
Familienalltag so direkt erleben zu dürfen, war eine tolle Erfahrung, vor allem weil meine
Gastfamilie sich sehr bemühte, mich voll und ganz an ihrem Familienleben teilhaben zu lassen, mir
so viel wie möglich von der japanischen Kultur und vom Leben in Japan zu erzählen und zu zeigen,
und mir sogar ein wenig Japanisch beizubringen.
Ich fühlte mich in der Familie sehr wohl, sodass mir sehr schnell schmerzlich bewusst wurde, was
für eine kurze Zeit sechs Tage doch sind. Dementsprechend schwer fiel auch der Abschied, und ich
hoffe sehr, bald nach Japan zurückkehren und meine Gastfamilie wieder besuchen zu können.
Mit meiner Gastfamilie neben dem Schrein zur Anbetung ihrer Vorfahren
Jetzt habe ich nach sieben Seiten immer noch keine 100% zufriedenstellende Antwort auf die Frage
wie es denn war, und die wird es wohl auch nie geben. Doch welch unglaubliche, unbeschreibliche
Erfahrung das Programm insgesamt war, ist hoffentlich einigermaßen ersichtlich geworden. Noch
nie habe ich innerhalb von zwei Wochen so viel erlebt und gelernt, und die Reise nach Japan
hinterlässt weit mehr als nur eine Fülle an unvergesslichen Erinnerungen. Nicht nur auf Japan
bezogen sondern auch fürs Leben habe ich unheimlich viel Neues gelernt, habe eine neue,
intensivere Art zu reisen als ich bisher kannte erleben dürfen, die mich inspiriert, in Zukunft alle
Orte, an die ich reise, tiefgehender zu erkunden, die Menschen und ihr Leben kennenzulernen.
Ich bin froh, diese prägende Erfahrung so kurz vor meinem Schulabschluss gemacht zu haben und
sie auf meinen weiteren Lebensweg mitnehmen zu können, und bin der Robert-Bosch-Stiftung,
Youth For Understanding, unseren Reiseleitern Rita und Johannes und allen, die das Programm
„Jugendbotschafter nach Japan“ unterstützt und möglich gemacht haben, unheimlich dankbar.
Als Jugendbotschafter nach Japan reisen zu dürfen war eine absolut einmalige Erfahrung, die
meinen Horizont erweitert hat und die hoffentlich auch in Zukunft viele deutsche Schüler erleben
können.