Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16 4 Streitgespräche in Athen: Die Sophisten und Sokrates – Gliederung – 1. Vorspiel auf dem Theater (Athen, 423 v. Chr.) 2. Einleitung 3. Die Sophisten a) Gorgias von Leontinoi (ca. 500-nach 400 v.Chr.) b) Protagoras von Abdera (ca. 490-400 v. Chr.) b) Das platonische Bild der Sophisten 4. Sokrates a) Das sokratische Gespräch b) Drei sokratische Thesen 1) Ich weiß, dass ich nichts weiß 2) Wissen führt zum Handeln 3) Tugend ist Wissen c) Sokrates’ Verantwortung nach Platons Apologie des Sokrates Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16 1. Die Negation des (parmenideischen) Seins durch den Sophisten Gorgias (ca. 480-380 v. Chr.): „Er behauptet, dass gar nichts sei; wenn doch etwas sei, sei es unerkennbar; wenn aber doch etwas sowohl ist als auch erkennbar ist, sei es jedoch anderen nicht zu verdeutlichen. […] Wenn nämlich das Nichtsein Nichtsein ist, ist das Nichtseiende gewiss um nichts weniger als das Seiende. Denn das Nichtseiende ist nichtseiend, und das seiende seiend. […] Wenn aber das Nichtsein ebenso ist, dann ist, sagt er, das Seiende nicht, als dessen Gegenteil. […] Wenn aber <das Seiende und das Nichtseiende> dasselbe sind, ist auch so gewiss nichts. Denn das Nichtseiende ist nicht, und ebenso das Seiende, weil es ja dasselbe ist wie das Nichtseiende“. (Über das Nichtseiende, Fragment 3; S. 40-43 Buchheim) οὐκ εἶναι φησὶν οὐδὲν· εἰ δ᾿ ἔστιν, ἄγνωστον εἶναι· εἰ δὲ καὶ ἔστι καὶ γνωστόν, ἀλλ᾿ οὐ δηλωτὸν ἄλλοις. [...] εἰ µὲν γὰρ τὸ µὴ εἶναι ἔστι µὴ εἶναι, οὐδὲν ἂν ἧττον τὸ µὴ ὂν τοῦ ὄντος εἴη. τό τε γὰρ µὴ ὂν ἔστι µὴ ὄν, καὶ τὸ ὂν ὄν. [...] εἰ δ᾿ ὅµως τὸ µὴ εἶναι ἔστι, τὸ εἶναι, φησί, οὐκ ἔστι, τὸ ἀντικείµενον. [...] εἰ δὲ ταὐτό, καὶ οὕτως οὐκ ἂν εἴη οὐδέν. τὸ τε γὰρ µὴ ὂν οὐκ ἔστι, καὶ τὸ ὄν, ἐπείπερ γε ταυτὸ τῷ µὴ ὄντι. Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16 2. Der ,Satz des Protagoras‘ (ca. 490-411 v. Chr.) in den Worten des platonischen Sokrates: „Denn ich behaupte, dass sich die Wahrheit so verhalte, wie ich geschrieben habe, dass nämlich ein jeder von uns das Maß dessen sei, was ist und was nicht, dass sich aber gewiss der eine vom anderen darin gewaltig unterscheide, weil für den einen das eine da ist und zu sein scheint, für den anderen aber anderes.“ (Theaitet 166d; Übs. Schleiermacher, leicht geändert) Ἐγὼ γὰρ φηµι µὲν τὴν ἀλήθειαν ἔχειν ὡς γέγραφα. µέτρον γὰρ ἕκαστον ἡµῶν εἶναι τῶν τε ὄντων καὶ µὴ, µυρίον µέντοι διαφέρειν ἕτερον ἑτέρου αὐτῷ τούτῳ, ὅτι τῷ µὲν ἄλλα ἔστι τε καὶ φαίνεται, τῷ δὲ ἄλλα. 3. Der ,Satz des Protagoras‘ in den Worten des Aristoteles: „Protagoras sagte nämlich, für alle Dinge sei das Maß der Mensch, wobei er nichts anderes sagt als, dass das, was einem jeden zu sein scheint, auch in der Tat ist“. (Metaphysik XI 6, 1062b 13f.) Καὶ γὰρ ἐκεῖνος ἔφη πάντων χρηµάτωυ εἶναι µέτρον ἄνθρωπον, οὐδὲν ἕτερον λέγων ἢ τὸ δοκοῦν ἑκάστῳ, τοῦτο καὶ εἶναι παγίως. 4. Platon führt die (vielleicht ahistorische) Figur des Sophisten Thrasymachos ein: „Als wir innehielten und ich dies gesagt hatte, konnte Thrasymachos nicht länger Ruhe halten, sondern raffte sich auf und kam auf uns los, recht wie ein wildes Tier um uns zu zerreißen“ (Politeia I, 336b). ὡς δὲ διεπαυσάµεθα καὶ ἐγὼ ταῦτ᾿ εἶπον, οὐκέτι ἡσυχίαν ἦγεν, ἀλλὰ σύστρεψας ἑαυτὸν ὥσπερ θηρίον ἧκεν ἐφ᾿ ἡµᾶς ὡς διαρπασόµενος. Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16 5. Thrasymachos‘ Definition der Gerechtigkeit nach Platon: „Ich sage, dass das Gerechte nichts anderes ist als das für den Stärkeren Nützliche“. (Politeia I, 338c). φηµὶ γὰρ ἐγὼ εἶναι τὸ δίκαιον οὐκ ἄλλο τι ἢ τὸ τοῦ κρείττονος ξυµφέρον. 6. Platon fasst die von Sokrates zuvor widerlegte These der Protagoreer zusammen: „Sokrates [zum jungen Theaitet]: Wunderschön wurde von Dir also dargelegt, dass Wissen nichts anderes ist als Sinneswahrnehmung. Dabei fiel in dasselbe zusammen, dass sich – laut Homer, Heraklit und dieser ganzen Truppe – alles wie Flüssiges bewege und dass – laut dem allerweisesten Protagoras – der Mensch das Maß aller Dinge sei und das – gemäß Theaitet – die Sinneswahrnehmung, wenn das alles so ist, Wissen wird“. (Theaitet 160d) Παγκάλως ἄρα σοι εἴρηται ὅτι ἐπιστήµη οὐκ ἄλλο τί ἐστιν ἢ αἴσθησις, καὶ εἰς ταὐτὸν συµπέπτωκεν, κατὰ µὲν Ὅµηρον καὶ Ἡράκλειτον καὶ πᾶν τὸ τοιοῦτον φῦλον οἷον ῥεύµατα κινεῖσθαι τὰ πάντα, κατὰ δὲ Πρωταγόραν τὸν σοφώτατον πάντων χρηµάτων ἄνθρωπον µέτρον εἶναι, κατὰ δὲ Θεαίτητον τούτων οὕτως ἔχοντων αἴσθησιν ἐπιστἐµην γἐγνεσθαι. Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16 7. Platon charakterisiert die sogenannte , Maieutik‘ des Sokrates: „Sokrates: Ja auch hierin geht es mir eben wie den Hebammen, ich gebäre keine Weisheit, und was mir bereits viele vorwarfen, dass ich andere zwar fragte, selbst aber nichts über irgendetwas ans Licht brächte, weil ich nämlich an Weisheit besäße, darin haben sie recht. Die Ursache davon ist aber diese: Geburtshilfe zu leisten zwingt mich der Gott, zu zeugen aber hat er mir verwehrt“. (Theaitet 150c, Übs. Schleiermacher, geändert). Ἐπεὶ τόδε γε καὶ ἐµοὶ ὑπάρχει ὅπερ ταῖς µαίαις· ἄγονός εἰµι σοφίας, καὶ ὅπερ ἤδη πολλοί µοι ὠνείδισαν, ὡς τοὺς µὲν ἄλλους ἐρωτῶ, αὐτὸς δὲ οὐδὲν ἀποφαίνοµαι περὶ οὐδενὸς διὰ τὸ µηδὲν ἔχειν σοφόν, ἀληθὲς ὀνειδίζουσιν. Τὸ δὲ αἴτιον τούτου τόδε· µαιεύεσθαι µε ὁ θεὸς ἀναγκάζει, γεννᾶν δὲ ἀπεκώλυσεν. 8. (s. nächste Seite) 9. Platon: „Sokrates: Ich bin mir weder im Großen noch im Kleinen einer besonderen Weisheit bewusst“ (Apologie des Sokrates 21b, Übs. Ricken) ἐγὼ γὰρ δὴ οὔτε µέγα οὔτε σµικρὸν σύνοιδα ἐµαυτῷ σοφὸς ὤν. 10. Aristoteles: Sokrates sagt: „Bewusst würde niemand gegen das Beste handeln, wohl aber aus Unwissenheit“. (Nikomachische Ethik VII 3, 1145b 26f.). οὐθένα γὰρ ὑπολαµβάνοντα πράττειν παρὰ τὸ βέλτιστον, ἀλλὰ δι᾿ ἄγνοιαν. Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16 11. Platon schildert, wie Sokrates Thrasymachos widerlegt: „Sokrates: Was die Regierenden festsetzen, müssen die Regierten tun, und das ist das Gerechte? Thrasymachos: Wie sollte es nicht! S.: Also nicht allein das dem Stärkeren Zuträgliche zu tun ist gerecht nach deiner Rede, sondern auch das Gegenteil, das nicht Zuträgliche. Th.: Was sagst Du? S.: Was Du sagst, denke ich wenigstens; lass uns aber noch besser zusehen: Ist es nicht eingestanden, dass, indem die Regierenden den Regierten befehlen, einiges zu tun, sie bisweilen das für sie Beste verfehlen; was aber auch die Regierenden befehlen mögen, das sei für die Regierten gerecht zu tun? Ist das nicht eingestanden? Th.: Das glaube ich freilich. S.: Glaubst Du nun also, eingestanden zu haben, auch das den Regierenden und Stärkeren Unzuträgliche zu tun sei gerecht, wenn die Regierenden wider Wissen, was für sie schlecht ist, anordnen, und Du doch sagst, für diese sei es gerecht zu tun, was jene angeordnet haben? Kommt es also nicht alsdann notwendig so heraus, o weisester Thrasymachos, dass es gerecht ist, das Gegenteil von dem zu tun, was Du sagst? Denn das für die Stärkeren Unzuträgliche wird dann den Schwächeren anbefohlen zu tun“ (Politeia I, 339cd). Ἃ δ᾿ ἂν θῶνται, ποιητέον τοῖς ἀρχοµένοις, καὶ τοῦτο ἐστι τὸ δίκαιον; Πῶς γὰρ οὔ. Οὐ µόνον ἄρα δίκαιόν ἐστιν κατὰ τὸν σὸν λόγον τὸ τοῦ κρείττονος ξύµφερον ποιεῖν, ἀλλὰ καὶ τοὐναντίον, τὸ µὴ ξύµφερον. Τί λέγεις σύ; ἔφη. Ἃ σὺ λέγεις, ἔµοιγε δοκῶ. Σκοπῶµεν δὲ βέλτιον. Οὐχ ὡµολόγηται τοὺς ἄρχοντας τοῖς ἀρχοµένοις προστάττοντας ποιεῖν ἄττα ἐνίοτε διαµαρτάνειν τοῦ ἑαυτοῖς βελτίστου, ἃ δ᾿ ἂν προστάττωσιν οἱ ἄρχοντες δίκαιον εἶναι τοῖς ἀρχοµένοις ποιεῖν; ταῦτ᾿ οὐχ ὡµολόγηται; Οἶµαι ἔγωγε, ἔφη. Οἴου τοίνυν, ἦν δ᾿ ἐγώ, καὶ τὰ ἀξύµφορα ποιεῖν τοῖς ἄρχουσι τε καὶ κρείττοσι δίκαιον εἶναι ὡµολογῆσθαι σοι, ὅταν οἱ µὲν ἄρχοντες ἄκοντες κακὰ αὑτοῖς προστάττωσιν, τοῖς δὲ δίκαιον εἶναι φῂς ταῦτα ποιεῖν ἃ ἐκεῖνοι προσέταξαν; ἆρα τότε, ὦ σοφώτατε Θρασύµαχε, οὐκ ἀναγκαῖον ξυµβαίνειν αὐτὸ οὑτωσί, δίκαιον εἶναι ποιεῖν τοὐναντίον ἢ ὃ σὺ λέγεις; τὸ γὰρ τοῦ κρείττονος ἀξύµφορον δήπου προστάττεται τοῖς ἥττοσιν ποιεῖν. Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16 12. „Wenn also die Tugend etwas in der Seele ist, dem es auch notwendig zukommt nützlich zu sein, so muss dies Klugheit sein, weil alles in der Seele an und für sich weder nützlich ist noch schädlich und nur durch Hinzukommen der Klugheit oder Dummheit schädlich und nützlich wird“. (Platon, Menon 88cd, Übs. Schleiermacher, geändert). Εἰ ἄρα ἀρετὴ τῶν ἐν τῇ ψυχῇ τί ἐστιν καὶ ἀναγκαῖον αὐτῷ ὠφελίµῳ εἶναι, φρόνησιν αὐτὸ δεῖ εἶναι, ἐπειδήπερ πάντα τὰ κατὰ τὴν ψυχὴν αὐτὰ µὲν καθ᾿ αὐτὰ οὔτε ὠφέλιµα οὔτε βλαβερά ἐστιν, προσγενοµένης δὲ φρονήσεως ἢ ἀφροσύνης βλαβερά τε καὶ ὠφέλιµα γίγνεται. 13. „Ich hätte also Arges getan, ihr Athener [...], wenn ich da, wo der Gott mich hinstellte, wie ich es doch glaubte und annahm, dass ich philosophierend leben solle und in Prüfung meiner selbst und anderer, den Tod oder irgendetwas anderes fürchtend, aus der Ordnung gewichen wäre“. (Platon, Apologie des Sokrates 28e-29a, Übs. Schleiermacher, leicht geändert). ἐγὼ οὖν δεινὰ ἂν εἴην εἰργασµένος [...] τοῦ δὲ θεοῦ τάττοντος, ὡς ἐγὼ ᾠήθην τε καὶ ὑπέλαβον, φιλοσοφοῦντά µε δεῖν ζῆν καὶ ἐξετάζοντα ἐµαυτὸν καὶ τοὺς ἄλλους, ἐνταῦθα δὲ φοβηθεὶς ἢ θάνατον ἢ ἄλλο ὁτιοῦν πρᾶγµα, λίποιµι τὴν τάξιν. Prof. Dr. Matthias Perkams FSU Jena, Institute für Altertumswissenschaften und für Philosphie VL Klassiker der antiken Philosophie WS 2015/16 Literatur zu den Sophisten: Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Griechisch/Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Thomas Schirren und Thomas Zinsmaier, Stuttgart 2003. Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien. Herausgegeben mit Übersetzung und Kommentar von Thomas Buchheim. Griechisch-Deutsch, Hamburg 1989. Buchheim, Thomas, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986.
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