Predigt Markus 2,1-12 „Er löst. Heilung eines Gelähmten“ (Reihe: Evangelium nach Markus V) gehalten von Pfr. Markus Unholz am 5. September 2015 in der Kirche St. Mangen und am 6. September 2015 im Kirchgemeindehaus St. Georgen, [email protected], www.ref-sgc.ch 2 1Und als Jesus nach einigen Tagen wieder nach Kafarnaum ging, wurde bekannt, dass er in einem Haus sei. 2Und viele versammelten sich, so dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war. Und er sagte ihnen das Wort. 3Da kommen einige, die einen Gelähmten zu ihm bringen; vier von ihnen trugen ihn. 4Und weil sie ihn wegen des Gedränges nicht bis zu ihm hinbringen konnten, deckten sie dort, wo er war, das Dach ab, rissen es auf und liessen die Bahre, auf der der Gelähmte lag, hinab. 5Und als Jesus ihren Glauben sieht, sagt er zu dem Gelähmten: Kind, dir sind die Sünden vergeben! 6Es sassen dort aber einige Schriftgelehrte, die dachten bei sich: 7Was redet der so? Er lästert! Wer kann Sünden vergeben ausser Gott? 8Und sogleich erkennt Jesus in seinem Geist, dass sie solche Gedanken hegen, und spricht zu ihnen: Warum hegt ihr solche Gedanken? 9Was ist leichter? Zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind die Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm deine Bahre und geh umher? 10Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben - sagt er zu dem Gelähmten: 11Ich sage dir, steh auf, nimm deine Bahre und geh nach Hause! 12Und der stand auf, nahm sogleich die Bahre und ging vor aller Augen hinaus, und alle waren fassungslos und priesen Gott und sagten: Nie haben wir solches gesehen! Liebe Gemeinde Das ist eine Geschichte, die berührt. Aber sie wirft auch Fragen auf. Persönlich glaube ich, dass Jesus wirklich von Gott besondere Kräfte bekommen hatte und deshalb immer wieder Menschen heilen konnte. Und es gibt auch heute Menschen mit besonderen Gaben, die Lähmungen und Blockierungen bei anderen lösen und Krankheiten heilen können. Aber trotzdem gibt es auch unter uns solche, die an den Rollstuhl gebunden bleiben, oder andere, die eine schwere Krankheit haben und keine Heilung finden. Was können wir mit dieser Geschichte anfangen? Wir können ja Jesus nicht mehr persönlich begegnen wie die Menschen damals. Und ein anderer Heiler ist auch nicht immer zur Stelle. Nun, die Geschichte hat auch einen medizinischen Aspekt. Aber sie geht darüber hinaus. Dem Evangelisten geht es entscheidend darum, die Kraft Gottes aufzeigen, wie sie in Jesus konkret sichtbar geworden ist und wie sie in der Kraft des Heiligen Geistes auch weiterwirken kann – vielleicht durch Menschen, die uns gut tun, die uns helfen. Ich habe es jedenfalls schon erlebt und manch andere hier ebenfalls, denke ich, dass wir wie gelähmt waren, innerlich oder äusserlich blockiert, anders als sonst bloss noch einen Berg vor uns gesehen haben und nicht wussten, wie weiter. Oder dass der klare Blick plötzlich vernebelt oder verschwommen war oder es uns die Sprache verschlagen hat. Etwas, das uns blockiert hat, zu überwinden, das ist nicht einfach die Sache von ein bisschen gutem Willen. Wenn es uns geschenkt ist, können wir es dankbar als ein Wunder erleben. Versuchen wir uns in den Gelähmten aus der Geschichte einzufühlen. Sein Bett ist für ihn nicht ein Ort der Entspannung und Erholung, von wo er sich am Morgen frisch erheben könnte. Es ist wie eine Fessel. Die Aussicht auf das Leben ist ihm genommen. Er kann nur noch an die Zimmerdecke starren oder, wenn er draussen ist, zum Himmel, was auf die Dauer auch öde ist. Aus eigener Kraft geht nicht mehr viel. Er ist auf andere, die ihn tragen, angewiesen. Warum? Eine Folge der Sünden dieses Mannes? Für Jesus, und hier gilt es auf Nuancen zu achten, ist es völlig unwichtig, in der Vergangenheit des Mannes zu wühlen, das Warum und Wieso seiner Lähmung zu analysieren. Es geht ihm einzig und allein darum, dem Gelähmten die Zukunft zurückzugeben – ohne dass dieser ein Geständnis oder eine Beichte ablegen müsste. Die so unmenschliche und selbstgerechte Haltung, die Krankheit eines Menschen sei die Strafe für diese oder jene Tat, findet sich bei Jesus gerade nicht. Wie vermag Jesus nun dem Gelähmten zu helfen? Zunächst ganz einfach, indem er ihn als „Kind“ anredet. Er lässt ihn hören und spüren, dass er nicht allein auf der Welt ist, sondern dass er aus der Beziehung zum göttlichen Vater lebt, der für ihn da ist. Das heisst nun keineswegs, dass ihn – oder uns – Gott wie Marionetten durchs Leben führen wollte. Das wären schlechte Eltern, die dies mit ihren Kindern tun wollten. Die Hoffnung von uns Eltern ist doch vielmehr, dass unsere Kinder wissen, nicht nur mit dem Kopf, sondern tief im Herzen: Wir Eltern sind für euch da, wenn ihr uns braucht, welche Wege und Umwege ihr auch geht. „Deine Sünden sind dir vergeben.“ – Sünde bedeutet, vom griechischen Wort her, einfach: das Ziel verfehlen. Sünde ist ursprünglich kein moralischer Begriff. Wenn ein Stürmer neben das Goal trifft, so muss es nicht deswegen passieren, weil er zu wenig trainiert hat. Es kann einfach geschehen, dass etwas daneben geht. Das heisst übertragen: Das, was – aus welchem Grund auch immer – nicht so läuft, wie du es gerne hättest, oder was zu etwas Trennendem gewordenen ist zwischen dir und dem vollen Leben zwischen dir und Gott – auch das trägt er, Gott, der Geber des Lebens, mit. So zeigt er sich dir als Vater mit offenen und tragfähigen Armen. Denn vergeben, das kommt auf Aramäisch, in der Sprache Jesu, von tragen. Wie kommt es nun zu der heilsamen Begegnung des Gelähmten mit Jesus? Da sind Hindernisse zu überwinden. Jesus ist im Haus von einer Volksmenge belagert. Da kommt niemand mehr rein, schon gar nicht mit einem Bett oder einer Bahre. Doch vier Freunde sind da. Sie lassen sich durch nichts hindern und aufhalten, scheuen vor nichts zurück. Es gibt Momente, wo ich das, was ich als richtig und wichtig erkannt habe, einfach tun muss, auch wenn es gewagt erscheint wie hier in der Geschichte, wo sie den Gelähmten durchs Dach zu Jesus hinunterlassen. Dieser lässt es mit sich geschehen. Das steht für mich im Widerspruch – einem guten Widerspruch! – zu einer heute weitverbreiteten Haltung. Wenn jemand irgendwelche Probleme hat, sagt man schnell: „Wir können nichts für dich tun, das musst du schon selber lösen.“ Und wer gelähmt, blockiert oder sonst vom Leben abgeschnitten ist, rechnet vielleicht gar nicht damit, dass er nicht auf sich allein gestellt einer Lösung näher kommen kann oder muss. Die Freunde, die sogar das Dach abdecken, um den Gelähmten zu Jesus runter zu lassen, ermöglichen überhaupt erst, dass es zur entscheidenden Begegnung kommt. Diese Geschichte überwindet einen m.E. unfruchtbaren Gegensatz. Die einen pflegen zu sagen: „Heil, Heilung kannst du nur in dir selbst entdecken.“ Wenn dies so wäre, dann wäre der Gelähmte bis zu seiner letzten Stunde unbeweglich auf seinem Bett gelegen. – Andere betonen: „Heil, Heilung bricht von aussen, von Gott her ein, ohne dass du auch nur das Geringste dazu tun kannst.“ Unsere Geschichte zeigt, dass es beides zusammen braucht, damit der Mensch Heilung erfahren kann: Da ist Vertrauen bei Gelähmten und die innere Beweglichkeit, dass ihn einer im Namen Gottes neu in Bewegung versetzten kann. Und es sich die Freunde da, die tragen. Doch es freuen sich deswegen nicht alle in diesem Haus in Kapernaum. Argwöhnisch beobachten die Schriftgelehrten, was sich da zuträgt. „Wichtigtuerei, Gotteslästerung“ mag es ihnen durch den Kopf schiessen. Nun sollten wir diese Schriftgelehrten nicht vorschnell als Bösewichte abstempeln. Es ging es ihnen darum, durch genaue Beobachtung und Befolgung der biblischen Schriften und Gesetze ein Leben zu führen, wie sie dachten, dass es Gott gefällt. Und da passt nicht hinein, was sie da miterleben. Ich habe den Eindruck, dann und wann auch sozusagen meinem „inneren Schriftgelehrten“ zu begegnen. Dass das hervorbrechende Leben mit eingerissenen Dächern oder anderen Sachbeschädigung verbunden sein könnte, dass es unter Missachtung jeglicher Konvention sich zeigen kann, dass einer nicht einfach schön wartet, bis er an der Reihe ist – ist das richtig? Vielleicht sollten wir solche Regungen in uns nicht vorschnell verneinen. Doch was passiert mit dem ehemals Gelähmten? Das Wort von Jesus schenkt ihm nicht nur seine Beweglichkeit wieder. Es macht ihn tragfähig. Er trägt seine Bahre davon, an die er vorher quasi gefesselt war. Ein interessanter Zug der Geschichte: Was ihn zugleich trug, aber auch ständig an seine Behinderung erinnerte, trägt er nun aus eigener Kraft mit sich davon. Nicht mit billigen Sprüchen motiviert Jesus, wie sie manchmal einem Kranken oder Bedrückten zugerufen werden, etwa: „Du hast es doch eigentlich gut; schau doch deine erfreulichen Lebensumstände an; und überhaupt, dieser schöne Sommer, den wir dieses Jahr hatten...“. Nein, Jesus richtet auf, indem er den anderen in seiner Not ernst nimmt und ihm zu spüren gibt: Du musst nicht die ganze Last deiner Vergangenheit und die ganze Ungewissheit der Zukunft selber tragen. Aber du bist tragfähiger als du dachtest. So können auch wir uns befreit fühlen vom Druck, alle Geheimnisse unserer Lebensgeschichte erkunden und bearbeiten zu müssen. Manches tragen wir eben weiter mit. Wir sind dazu aber auch in der Lage, so wie der Geheilte sein Bett trägt, an das er vorher gefesselt war. Entscheidend ist, dass wir, statt um unsere Verletzungen und gesundheitlichen oder anderen Probleme zu kreisen, Gottes Ruf zum Leben hier und heute hören. Die Geschichte versuche ich so auf mein, auf unser Leben zu übertragen: Ich bitte um dass Vertrauen, dass Gott Hilfe schenken kann. Vielleicht so, dass ich, was mich einschränkt, zwar weiterhin spüre, es aber nicht mehr als so lähmend erleben muss; dass ich damit leben lerne; und dass ich dankbar sehe, was ich kann und was mir möglich ist, wo mir andere helfen können oder ich ihnen, was mir geschenkt ist – und mich über all das freue. Ich denke, auf diese Weise uns dem Leben zu öffnen, das vor euch liegt, das kann für euch, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, für uns alle in jeder Lebensphase verheissungsvoll sein. Amen.
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