ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH Trau, schau wem! Predigt von Pfarrer Walter Gisin gehalten am 18. Oktober 2015 Schriftlesung: Psalm 61,1-9 Predigttext: Markus 2,1-12 „Und als Jesus nach einigen Tagen wieder nach Kafarnaum ging, wurde bekannt, dass er in einem Haus sei. Und viele versammelten sich, so dass nicht einmal mehr vor der Tür Platz war. Und er sagte ihnen das Wort. Da kommen einige, die einen Gelähmten zu ihm bringen; vier von ihnen trugen ihn. Und weil sie ihn wegen des Gedränges nicht bis zu ihm hinbringen konnten, deckten sie dort, wo er war, das Dach ab, rissen es auf und liessen die Bahre, auf der der Gelähmte lag, hinab. Und als Jesus ihren Glauben sieht, sagt er zu dem Gelähmten: Kind, dir sind die Sünden vergeben! Es sassen dort aber einige Schriftgelehrte, die dachten bei sich: Was redet der so? Er lästert! Wer kann Sünden vergeben ausser Gott? Und sogleich erkennt Jesus in seinem Geist, dass sie solche Gedanken hegen, und spricht zu ihnen: Warum hegt ihr solche Gedanken? Was ist leichter? Zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind die Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm deine Bahre und geh umher? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden zu vergeben − sagt er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm deine Bahre und geh nach Hause! Und der stand auf, nahm sogleich die Bahre und ging vor aller Augen hinaus, und alle waren fassungslos und priesen Gott und sagten: Nie haben wir solches gesehen!“ 2 Liebe Gemeinde Trau, schau wem! Ein geflügeltes Wort, das auf das lateinische Fide, sed cui, vide! zurückgeht und von Gustav Kittler im Jahr 1878 aufgebracht wurde. Er verfasste ein Flugblatt mit diesem Titel und verteidigte sich damit gegen die Verleumdung der Sozialdemokratie. Die Geschichte aus Markus 2 ist uns sehr gut bekannt. Das auffallende an ihr ist, dass sich die vier Freunde des Gelähmten durch nichts abhalten lassen. Ich stelle mir vor, ich müsste mit diesem Gelähmten in ein israelitisches Haus der damaligen Zeit hineingehen. Vor der Türe steht schon eine grosse Traube von Menschen. Da gibt es kein Hineinkommen! Ich würde wie mit einem Brett vor dem Kopf davor stehen und hätte keine Ahnung, was zu tun. Mir ginge sofort durch den Kopf: „Auf, zum Rückzug! Rechtsumkehrt und wieder nach Hause. Da ist nichts zu machen!“ Ich muss bekennen, dass ich sehr unpraktisch veranlagt bin. Ich kenne da andere Leute, die kommen sofort auf Ideen, wenn sie vor verschlossenen Türen stehen. Da muss also mindestens einer der vier Freunde praktisch begabt gewesen sein. Zum Fenster hinein! wäre doch ein erster Gedanke. Doch dann kommt man nicht weiter. Man muss sich also die Situation im Innern des Hauses gut vorstellen. Der einzige Platz, der einigermassen frei gewesen sein muss, ist der Platz vor dem Redner, vor Jesus. Dahin muss man gelangen. Das aber geht nur durchs Dach. Glücklicherweise hatte man damals Flachdächer, die man leichter abdecken konnte als unsere heutigen Ziegeldächer. Die vier Freunde konnten auf der Aussentreppe des Hauses aufs Dach steigen und dort den Ort abdecken, wo man die Stimme Jesu am besten hörte. Das wird nicht ohne Geräusche und ohne das Niederfallen von Lehmbrocken und Sand von statten gegangen sein. Gewiss 3 musste man etwas zurückweichen, und es wird im Saal still geworden sein. Dann liessen die Vier ihren Freund auf der Bahre nieder, sodass er zu Füssen Jesu zu liegen kam. Eine Meisterleistung! würde ich als ganz unpraktischer Laie sagen. Trau, schau wem! Das ist nun der Spruch, der ins Spiel kommt. Die vier Freunde und wohl auch der Gelähmte mussten ein grosses Vertrauen in die Heilmacht Jesu gehabt haben. Sie mussten von ihm und vor allem auch von seinen Heilungen gehört haben. Darum sahen sie hier ihre Gelegenheit, als Jesus in ihre Nähe nach Kapernaum kam und im Haus eines Nachbarn predigte. Sie vertrauten Jesus. Das haben sie deutlich bewiesen. Biblischen Glauben kann man sehen! Er zeigt sich in unseren Taten. Darum heisst es hie und da bei Jesus: „Als er ihren Glauben sah…!“ Auch hier in Markus 2,5. Wenn er unseren Glauben sieht, tritt er in Aktion. Auch wenn es nur ein Gebet ist, wie das des Schächers am Kreuz, der sagte: „Jesus, wenn du in dein Reich kommst, denke an mich.“ Da sagte Jesus ihm: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ Er sah seinen Glauben und antwortete auf sein Gebet. Ich habe schon etliche Mal solche Gebetserhörungen erlebt. Inzwischen habe ich gelernt, was man mir schon längst gesagt hatte, dass man mit allen Sorgen zu Jesus kommen darf. Auch ganz einfache Dinge des Alltags, kann ich Jesus in einem stillen Gebet sagen. Neulich fuhr ich durch den Luzerner Strassentunnel. Es blitzte und ich schaute auf den Tacho. Statt 80 km/h war ich beinahe 100 km/h gefahren. „Das gibt eine saftige Busse“, dachte ich! Dann betete ich leise für mich: „Herr, lass doch die Aufzeichnung des Blitzers ausgefallen sein, wie damals bei meiner Frau.“ Nun, das gibt es manchmal, wenn auch äusserst selten, dass die Blitzer aus 4 irgendeinem Grund den Verkehrssünder nicht aufzeichnen. Nach einem Monat erhielt ich Post von der Luzerner Polizei. „Du, Herr, hast mein Gebet nicht erhört“, dachte ich etwas zerknirscht. Aber Recht hat er, mein Herr! Gerechte Strafe muss sein! Ich öffnete den Umschlag, schaute möglichst rasch auf den roten Einzahlungsschein: Zwanzig Franken stand darauf! Das ist aber billig! Nach den Messungen der Polizei war ich 88 km/h gefahren, minus 5 km/h sind 83 km/h, statt der erlaubten 80 km/h. „Danke, Herr“, betete ich leise. „Du hast mein Gebet auf deine Weise erhört.“ Also, wenn Sie wieder einmal geblitzt werden, wissen Sie, was Sie zu tun haben! Seither aber fahre ich wieder ganz zahm durch die Gegend! Trau, schau wem! Den Messungen der Polizei kann man jedenfalls voll vertrauen. Als Jesus den Glauben dieser Leute sah, tat er nicht, was wohl alle erwarteten. Er heilte den Gelähmten vorerst nicht, sondern sagte ganz einfach: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Unerhört! Wir würden heute denken, warum er über die Sünden dieses Gelähmten spricht. Er kennt ihn ja gar nicht. Hat er das Recht, von seinen Sünden zu sprechen? Heute denken viele so. Über Sünden spricht man nicht, weder über die eigenen, noch über die der andern. Das Wort Sünde ist verpönt. Ich staune manchmal, wie selbst in den Predigten dieses Wort umgangen wird. Demnächst könnte sogar eine neue Bibelübersetzung heraus kommen, wo das Wort Sünde nicht mehr vorkommt, so verpönt ist es. Doch wir behalten es am besten bei, denn es drückt eine Realität aus, die uns alle betrifft: Wir sind Sünder und brauchen Vergebung! Damals hatten die Leute ein anderes Problem, vor allem die Leute, die ihre Bibel sehr gut kannten. Sie waren empört. Es wird wohl ein Raunen durch ihre Reihen gegangen sein. Sie werden in den 5 ersten Reihen gesessen sein. Jesus war ihnen suspekt. Sie dachten wohl auch: Trau, aber schau genau hin, wem! Sie hatten zudem die Heilige Schrift im Kopf, in der es ganz klar bezeugt ist: Nur Gott kann Sünden vergeben! Der Hohepriester geht einmal im Jahr ins Allerheiligste und trägt die Sünden des Volkes vor Gott hin. Das war am Jom Kippur, dem Versöhnungstag. Dann fasten und beten die Juden. Sie bekennen ihre Sünden und hoffen auf Vergebung. Der Hohepriester spritzt das Blut des Sündenbocks mit einem Ysop-Stängel auf den Deckel der Bundeslade und erwirkt auf diese Weise die Vergebung der Sünden. Nur Gott kann Sünden vergeben, sei es am Jom Kippur, aber auch jeweils, wenn jemand seine Sünden dem Priester bekennt und ein Sündopfer darbringt. Aber dieser Wanderprediger aus davidischer Abstammung war kein Priester und konnte darum keine Sünden vergeben. Da war auch kein Opfer, das man dafür darbringen konnte. Das geschah nur im Tempel von Jerusalem. Die Worte Jesu zeigen, was wir als Christen immer wieder einander sagen: Das Wichtigste ist nicht die Gesundheit, sondern ein Leben, das mit Gott in Ordnung gebracht wird! Das brauchte der Gelähmte zuerst. Warum eigentlich? Gewiss dachte er hie und da: Ich habe gesündigt, darum liegt jetzt Gottes Strafe auf mir. Nicht, dass die Krankheiten notwendigerweise eine Strafe für unsere Sünden sind, dagegen hat sich Jesus selbst verwahrt. Aber manchmal erkennen wir unsere Sünden erst, wenn wir ans Bett gefesselt sind und Zeit zum Nachdenken haben, wie dieser Gelähmte. Er hörte hier Worte, die ihm ganz wichtig waren: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ Jetzt konnte er aufatmen. Mein Leben ist in Ordnung mit Gott! 6 Jesus kennt die Gedanken, die auch seine damals Feinde wälzten. Sie vertrauten ihm nicht. Sie sahen genau hin, sie hörten ganz genau, was er sagte. Und das machte sie misstrauisch, ja sogar wütend, so wütend, dass sie ihn der Gotteslästerung bezichtigen. Das war für Jesus sehr gefährlich. Wegen Gotteslästerung musste ein Mensch nach dem mosaischen Gesetz gesteinigt werden. Immer wieder liest man darum, dass die Feinde Jesus ihn umbringen wollten. Zuletzt taten sie es auch – genau wegen dieser Anklage, der Gotteslästerung. Der Hohepriester zerriss sogar sein Kleid, weil er eine Gotteslästerung gehört hatte. Dann war es für alle klar: Jesus musste sterben! Jetzt aber kommt ihnen Jesus zuvor und gibt ihnen eine Denkaufgabe auf: „Was ist leichter zu einem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder: Steh auf, nimm deine Bahre und geh umher?“ Wir sind auch etwas verwirrt, wenn wir das hören. Was ist eigentlich leichter? Natürlich kann man die Worte, dir sind deine Sünden vergeben, sehr leicht aussprechen. Ob das dann wirklich eintrifft, ist nicht nachkontrollierbar. Niemand kann das beweisen, dass nun die Sünden wirklich vor Gott vergeben sind. Darum ist es leichter, so etwas zu sagen, als: „Nimm deine Bahre und geh umher.“ Da muss der Gelähmte aufstehen und umhergehen. Das kann man kontrollieren. Wenn Jesus das sagt und der Gelähmte bleibt auf seiner Bahre liegen − es geschieht nichts, dann ist Jesus ein Scharlatan. Wenn er aber aufsteht, hat Jesus entweder die Macht, solche Wunder zu vollbringen – oder der Gelähmte geht eine Weile umher und bricht dann wieder auf seiner Bahre zusammen, wenn die psychische oder parapsychische Kraft nachlässt und der Zauber des Augenblicks vorbei ist. Die allerärgsten Feinde Jesu scheinen das zweite angenommen zu haben. Das ist 7 doch ein Scharlatan! Der spielt mit der Macht der parapsychologischen Kräfte! Einst waren meine Frau und ich mit einer Touristengruppe in Peking. Da musste die ganze Gruppe natürlich die chinesischen Heilpraktiken kennen lernen. Als „Versucherli“ lud man uns ein, einem der dortigen Heilpraktiker unseren rechten Arm hinzuhalten. Aus unserem Puls und einem tiefen Blick in die Augen, konnte er den Zustand unserer inneren Organe beurteilen und verschrieb dann die richtigen Kräuter. Sie waren nicht ganz billig. Meine Frau und ich hielten unseren Arm nicht hin und waren amüsiert, als die Mitreisenden uns die Preise nannten, die sie für ihren Tee bezahlen mussten. Wir sind keinesfalls gegen natürliche Heilmittel. Da gibt es ausgezeichnete Kräuter, die uns Gott geschenkt hat. Wir brauchen sie auch: den Magentee, Nierentee, den Alpenkräutertee, die wunderbaren Ricola-Täfeli – aus der Schweiz natürlich! Aber wir sind gegen Scharlatane, die gutgläubige Menschen hinters Licht führen und viel Geld einnehmen. Darum: Trau, schau wem! Ganz besonders in dieser Situation! Jesus war kein Scharlatan. Er heilte die Menschen wirklich – nicht nur für den Augenblick. Was er tat, war kein Placebo, sondern wirklich heilsam! Hier heisst es: „Als die Leute sahen, wie der Gelähmte seine Bahre nahm und vor aller Augen hinaus ging, waren sie fassungslos und priesen Gott und sagten: Nie haben wir solches gesehen!“ Sie hatten gut hingesehen und wurden mit der Realität der Macht Gottes konfrontiert. Was sie hier erlebt hatten, konnte ihnen niemand nehmen. Der Gelähmte nimmt seine Bahre und geht zur Türe hinaus. Man kann sich gut vorstellen, wie man ihm Platz machte, sich zusammenschloss, damit er hindurch gehen konnte. Auch die in der vordersten Reihe mussten zusammenrücken, die Feinde Jesu, 8 die zuvor geraunt hatten. Auch sie mussten erkennen: Da ist einer, der Macht hat, einen Gelähmten zu heilen, ja, er hat Macht, auch Sünden zu vergeben. Wir dürfen und sollen bei Jesus genau hinschauen. Wir können ihm voll vertrauen, wie diese vier Freunde des Gelähmten. Wir dürfen auch kritische Fragen stellen. Sie halten der Realität stand, die uns in Jesus entgegen kommt. Wir dürfen es selbst immer wieder erleben, wie er unseren Glauben stärkt und auf unsere Gebete auf seine Weise hört. Darum können wir unsere Nächsten fröhlich ermuntern: Trau, schau wem! Vertrau auf Jesus Christus! Der Glaube an Jesus heilt aber nicht nur unsere Gebrechen. Die müssen wir manchmal ein Leben lang tragen. Der Glaube an Jesus gibt uns Frieden mit Gott und ewiges Leben! Unser Vertrauen in ihn hat diesen Lohn! Aber auch dieses Vertrauen ist ein Geschenk Gottes, das er uns aus Gnade gegeben hat! Amen. ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH St. Anna-Kapelle, St. Annagasse 11, 8001 Zürich Gottesdienste: Sonntag 10.00 Uhr, Bibelstunden: Mittwoch 15.00 Uhr Sekretariat St. Anna, Grundstrasse 11c, 8934 Knonau, Telefon 044 776 83 75
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