Mitgliederversammlung GAeSO 26.11.2015 Der urteilsunfähige Patient Prof. Dr. iur. Regina Aebi-Müller Ordentliche Professorin für Privatrecht und Privatrechtsvergleichung [email protected] Übersicht: Rechtliche Einordnung des Arzthandelns § Jede medizinische Behandlung stellt eine grundsätzlich widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung dar. § Folglich bedarf jede Behandlung der gültigen Einwilligung des Patienten oder von dessen Vertreter. Urteilsfähigkeit Aufgeklärtheit Hinreichende Bestimmtheit Voraussetzungen der gültigen der Voraussetzungen gültigen Einwilligung Einwilligung Freiheit der Entscheidung und Abwesenheit von Willensmängeln Freiheit von Inhaltsmängeln (insbes. Rechts- und Sittenwidrigkeit) Kein Widerruf der Einwilligung Insbesondere zur Urteilsfähigkeit als Voraussetzung der Selbstbes>mmung des Pa>enten § Der urteilsfähige Patient entscheidet alleine über medizinische Behandlungen. o Volle Handlungsfähigkeit (d.h. Volljährigkeit, keine umfassende Beistandschaft) ist nicht erforderlich! o Der Behandlungsentscheid muss nicht „vernünftig“ sein! o Aber selbstverständlich darf/wird der Patient meist den Arzt fragen, was in der konkreten Situation sinnvoll ist. § Der urteilsunfähige Patient muss für den Behandlungsentscheid vertreten werden, seine Einwilligung oder Weigerung ist (grundsätzlich) unbeachtlich. § Handlungsfähigkeitsrecht als Schutzrecht: Nur dem (voll) Urteilsfähigen sollen seine Willensäusserungen und Handlungen zugerechnet werden. Gesetzliches Modell zur Entscheidungsfindung Ist der Patient mit Bezug auf den konkreten Eingriff urteilsfähig? Nein Ja Der informierte Patient entscheidet alleine über medizinische Massnahmen oder einen Behandlungsabbruch. Liegt (ausnahmsweise) eine direkt anwendbare Patientenverfügung vor? Nein • An Stelle des Patienten entscheidet dessen gesetzlicher Vertreter (Vertretungskaskade beachten!). • Nur bei Dringlichkeit entscheidet der Arzt. • Der Entscheid richtet sich nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen des Patienten. Ja Ja Liegt ein Grund vor, warum der PV nicht entsprochen werden kann (dazu später)? Nein Der PV ist zu entsprechen. Teilvoraussetzungen der Urteilsfähigkeit mit Bezug auf medizinische Behandlungsentscheide Urteilsfähigkeit Willensbildungsfähigkeit Willensumsetzungsfähigkeit Gelingt es dem Pa=enten, fremder Willensbeeinflussung zu widerstehen? Verstandes-‐ gemässes Urteilsvermögen Realitätsbezug des Urteilsvermögens • Versteht der Pa=ent die Diagnose und wie die Behandlung ablau-‐ fen soll? • Versteht er Risiken und Behandlungsalterna-‐ =ven? Beeinträch=gt u.a. bei Suchterkrankungen oder Wahnvorstel-‐ lungen oder Gedächt-‐ nisverlust Fhk. zur Bildung und Abwägung nachvollziehbarer Mo=ve Fähigkeit zur Mo=vkontrolle und Willens-‐ bildung i.e.S. Aber: Keine Mo=v-‐ kontrolle bzw. kein VernünOigkeitstest! U.a.: Emo=onale Stabilität und Stabilität der Willensbildung Rela>vität der Urteilsfähigkeit Die Urteilsfähigkeit ist stets für einen bestimmten Zeitpunkt und mit Blick auf ein ganz konkretes, rechtlich relevantes Verhalten zu klären: Relativität der Urteilsfähigkeit in sachlicher Hinsicht Komplexität des Entscheids Tragweite des Entscheids in zeitlicher Hinsicht Urteilsfähigkeit im Zeitpunkt der Einwilligung (und der Behandlung?) Beispiele: • Urteilsfähigkeit für pflegerische Massnahmen oder für komplexen Behandlungsentscheid. • Schwankende Urteilsfähigkeit bei Verabreichung starker Schmerzmittel. Entscheid betreffend Urteilsfähigkeit § Das Gesetz sieht weder ein bestimmtes Verfahren noch eine behördliche Zuständigkeit zum Entscheid über die vorhandene oder fehlende Urteilsfähigkeit vor. § Entsprechend hat der behandelnde Arzt zu entscheiden, ob er eine Person als urteilsfähig einschätzt oder nicht. Ø Der Arzt hat die rechtlich gültige Einwilligung zu beweisen, wozu (neben u.a. der Aufklärung) die Urteilsfähigkeit des Einwilligenden gehört. Ø Bei einer Fehleinschätzung (in die eine oder andere Richtung) ist die Behandlung widerrechtlich. Ø Der Beizug von Fachärzten oder Juristen ist nicht vorgesehen, sollte aber (mit Blick auf die Folgen einer Fehleinschätzung) zulässig sein. § Die Urteilsfähigkeit ist der Normalfall und wird bei erwachsenen Personen daher i.d.R. vermutet. § Problematik von medizinischen Tests (MMS, Clock Drawing)! Fallbeispiel „Demenz“ Herr K., Jahrgang 1928, lebt seit einigen Jahren in einem Pflegeheim. Obschon er nie auf eine Demenzerkrankung hin abgeklärt wurde, scheint offensichtlich zu sein, dass er an einer degenerativen Erkrankung des Hirns leidet. Herr K. ist oft verwirrt, erkennt manchmal auch nahe Angehörige nicht mehr oder findet nicht mehr in sein Zimmer zurück. Seine kognitiven Fähigkeiten sind stark eingeschränkt. Im Übrigen ist er jedoch meist gut gelaunt, zeigt Appetit und nimmt zuweilen auch an Beschäftigungsangeboten des Pflegeheims teil. Sie werden durch die pflegerische Leitung des Heims gerufen, weil Herr K. an einer Lungenentzündung erkrankt ist. Herr K. weigert sich, die Antibiotikatabletten einzunehmen. Wie ist in dieser Situation vorzugehen? Sachverhaltsvariante: In einem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung verweigert Herr K. die Nahrungsaufnahme. Darf eine PEG-Sonde gelegt werden? Wer entscheidet bei Urteilsunfähigkeit des Pa>enten entscheidet als Stellvertreter? Hat der Patient (im urteilsfähigen Zustand) keinen Vertreter eingesetzt (1.) und besteht auch keine Beistandschaft mit Bezug auf medizinische Behandlungsentscheide (2.), so besteht nach Art. 378 Abs. 1 ZGB eine gesetzliche Vertretungsbefugnis folgender Personen: 3. wer als Ehegatte (od. eingetragene/r Partner/in) einen gemeinsamen Haushalt mit der urteilsunfähigen Person führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet; 4. die Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt führt und ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet; 5. die Nachkommen, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten; 6. die Eltern, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten; 7. die Geschwister, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten. Vorsicht: Das entspricht u.U. nicht der durch den Arzt „gefühlten“ Nähebeziehung! Wenn mehrere vertretungsberech>gte Personen vorhanden sind... § ... dann darf der gutgläubige Arzt voraussetzen, dass jede im Einverständnis mit den anderen handelt (Art. 378 Abs. 2 ZGB). § Die Aufzählung in Art. 378 Abs. 1 ZGB ist als Kaskade zu verstehen: Nur wenn keine Personen einer bestimmten Kategorie existieren, sind Personen der folgenden Kategorie zur Vertretung befugt. Was passiert, wenn die mehreren (gleichrangigen) Vertreter uneinig sind und der Arzt nicht gutgläubig ist? Ø Anrufung der Erwachsenenschutzbehörde (nach Art. 381 ZGB); bis zu einem entsprechenden Entscheid ist der Arzt befugt, bei Dringlichkeit selber zu entscheiden! Fallbeispiel „Uneinigkeit von Angehörigen“ Der 20-jährige Michael, ein Jus-Student, ist begeisterter Töfffahrer. Er nutzt das letzte warme Herbstwochenende für eine rasante Passfahrt. Bei einem Sturz wird er schwer verletzt. Im Spital ergibt sich folgende Situation: Der behandelnde Arzt klärt die Angehörigen darüber auf, dass Michael aktuell im künstlichen Koma liegt, dass er wegen einer Wirbelsäulenfraktur mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit Tetraplegiker sein wird, dass er zudem schwere Hirnschädigungen erlitten hat, deren Folgen nicht konkret abschätzbar sind, die jedoch mit Sicherheit erhebliche und bleibende Schäden im Denkvermögen sowie bei der Sprachfindung zur Folge haben werden. Die Eltern von Michael wollen alle medizinischen Möglichkeiten ausschöpfen. Michaels langjährige Freundin möchte alle Geräte abstellen und Michael sterben lassen. Die Schwester von Michael berichtet, dieser habe in verschiedenen Gesprächen immer wieder betont, dass ein Leben mit schwerer Behinderung für ihn nicht lebenswert wäre. • Wer entscheidet über die Behandlung bzw. den Behandlungsabbruch? Wie hat der Vertreter zu entscheiden? Bedeutung des „mutmasslichen Willens“ des Pa>enten § Soweit möglich ist für den Vertreterentscheid auf den mutmasslichen Willen des Patienten abzustellen, d.h. es ist zu fragen, wie der Betroffene, wäre er urteilsfähig, entscheiden würde. § Der mutmassliche Wille ist aufgrund der Umstände (Wertvorstellungen, frühere Behandlungsentscheide und Äusserungen, Lebensumstände usw.) zu erschliessen, wobei glaubwürdige Aussagen nahestehender Personen (auch nicht vertretungsberechtigter Angehöriger) ein grosses Gewicht haben. § Das Abstellen auf den mutmasslichen Willen ermöglicht es u.U., trotz fehlender Patientenverfügung auf die spezifischen (nicht formgültig geäusserten) Wünsche des Patienten abzustellen. § Nicht massgeblich sind demgegenüber die eigenen Wertungen und Auffassungen des Vertreters oder des Arztes. § Kann der mutmassliche Wille nicht eruiert werden, ist nach den objektiven Interessen des Patienten (d.h. nach dem medizinisch Gebotenen) zu entscheiden. Par>zipa>onsrechte Urteilsunfähiger Problematik des „Alles-oder-nichts-Entscheids“ über die Urteilsfähigkeit: Ø Der urteilsunfähige Patient, der bei Bewusstsein und noch (partiell) äusserungsfähig ist, empfindet den medizinischen Eingriff u.U. als Verletzung seiner Integrität – und zwar auch dann, wenn der gesetzliche Vertreter die entsprechende Einwilligung erteilt hat. Ø Kein „Zwang“ im Rechtssinn – trotzdem sagt uns das Bauchgefühl, dass eine „Zwangsbehandlung“ in diesen Sachlagen heikel ist. Partizipationsrechte als möglicher Lösungsansatz: Ø Die Entscheidbefugnis liegt zwar beim Vertreter des urteilsunfähigen Patienten, Ø der urteilsunfähige Patient wird aber soweit möglich in den Behandlungsentscheid einbezogen (Art. 377 Abs. 3 ZGB). Konkretes Vorgehen – Art. 377 ZGB 1 Hat sich eine urteilsunfähige Person zur Behandlung nicht in einer Patientenverfügung geäussert, so plant die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt unter Beizug der zur Vertretung bei medizinischen Massnahmen berechtigten Person die erforderliche Behandlung. 2 Die Ärztin oder der Arzt informiert die vertretungsberechtigte Person über alle Umstände, die im Hinblick auf die vorgesehenen medizinischen Massnahmen wesentlich sind, insbesondere über deren Gründe, Zweck, Art, Modalitäten, Risiken, Nebenwirkungen und Kosten, über Folgen eines Unterlassens der Behandlung sowie über allfällige alternative Behandlungsmöglichkeiten. 3 Soweit möglich wird auch die urteilsunfähige Person in die Entscheidfindung einbezogen. 4 Der Behandlungsplan wird der laufenden Entwicklung angepasst. Vorgehen bei Dringlichkeit (Art. 379 ZGB) „In dringlichen Fällen ergreift die Ärztin oder der Arzt medizinische Massnahmen nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der urteilsunfähigen Person.“ § Bei Dringlichkeit entscheidet somit der Arzt und nicht die an sich vertretungsberechtigten Personen. § Dringlichkeit liegt vor, wenn keine Zeit bleibt, um die vertretungsberechtigte Person zu informieren und deren Entscheid einzuholen: o Vertretungsberechtigung ist unklar, es gibt keine gesetzlichen Vertreter oder diese Entscheiden offensichtlich entgegen dem Patienteninteresse bzw. dem mutmasslichen Willen o und aus medizinischen Gründen kann der Entscheid der ESB nicht abgewartet werden, oder mit dem Aufschub ginge der therapeutische Nutzen der Intervention ganz oder teilweise verloren. § Massgeblich für den Entscheid sind wiederum der mutmassliche Wille und die Interessen des Patienten, wobei der Arzt in dieser Sachlage wohl nicht Zeit hat, den mutmasslichen Willen im Einzelnen zu erforschen und daher das objektiv Gebotene vorkehren wird. Bedeutung der Pa>entenverfügung § Formvorschriften: Schriftlichkeit, Datum, Unterschrift Ø Auch vorgedruckte PV ist gültig; allerdings kann sich in besonderem Mass fragen, ob der Patient verstanden hat, was er unterschreibt. § Inhalt: Konkrete Anordnungen oder Bestimmung eines Vertreters. § Die PV wird erst mit dem Eintritt der Urteilsunfähigkeit des Patienten wirksam. § Der PV ist zu entsprechen, solange kein Grund für ein Abweichen vorliegt (s. nächste Folie). § Eine PV ist auslegungsbedürftig! Ø Was hat der Patient gemeint? Welche medizinischen Sachlagen und Behandlungen hatte er vor Augen? Ø Beispiel: „Keine Schläuche“! Unbeachtlichkeit der Pa>entenverfügung § Verstoss gegen gesetzliche Vorschriften Ø z.B. PV, die direkte, aktive Sterbehilfe verlangt oder den Formvorschriften nicht genügt. § Aber auch: Ø Fehlende massnahmebezogene Bestimmtheit oder Ø Fehlende situationsbezogene Bestimmtheit. Ø „Generaleinwilligungen“ (und wohl auch „Generalverweigerungen“) kommt aufgrund von Art. 27 ZGB keine rechtliche Bewandtnis zu. § Zweifel am freien Willen Ø § z.B. bei Sektenzugehörigkeit, nachgewiesenem Druck usw. PV entspricht nicht mehr dem mutmasslichen Willen Ø z.B. Zeitablauf, neue medizinische Möglichkeiten, neue Lebenssituation (Elternschaft usw.) Ø Bedeutung des aktuellen „natürlichen Willens“? Behandlungsentscheide bei Minderjährigen Ist das Kind mit Bezug auf den konkreten Eingriff urteilsfähig? Ja Nein • Das Kind entscheidet alleine. • Kein Mitbestimmungsrecht der Inhaber der elterlichen Sorge. • Informationsanspruch der Eltern wohl zu bejahen (?) An Stelle des Kindes entscheidet dessen gesetzlicher Vertreter, idR die sorgeberechtigten Eltern. Überschreiten die Eltern ihre Vertretungsmacht? Ja Nein • Dem Kind ist durch die KESB ein Beistand zu bestellen. • Die elterliche Vertretungsmacht entfällt insoweit. Es bleibt beim elterlichen Entscheid, auch wenn dieser objektiv nicht optimal erscheint. Fall „Krebskind Olivia“ Bei der 6-jährigen Olivia wird Nierenkrebs diagnostiziert. Die Ärzte empfehlen eine sofortige Chemotherapie und Operation, eine Behandlung, welche eine Heilungschance von 90% aufweist. Die Eltern lehnen eine schulmedizinische Behandlung allerdings ab. Sie wollen Olivia stattdessen durch den „Heiler“ Hamer behandeln lassen. Dieser, ein Vertreter der „Germanischen Neuen Medizin“ verspricht hohe Erfolgsraten bei der Behandlung schwerer, lebensbedrohlicher Erkrankungen wie Krebs. Tatsächlich sind weit über 100 Todesfälle nach derartigen Behandlungen bekannt und es ist keine einzige dauerhafte Heilung nachgewiesen. Die Ärzte von Olivia wenden sich an die Kindesschutzbehörde. Ø Wie ist in einem solchen Fall vorzugehen? Korrektes Vorgehen der Ärzte bei Kindeswohlgefährdung § Gespräch mit sorgeberechtigten Eltern suchen, ggf. unter Einbezug einer spitalinternen Kinderschutzgruppe o.dgl. § Kindesschutzbehörde informieren. Mögliche Interventionen: Ø Konkrete Weisung an die Eltern Ø Bezeichnung einer Person, welcher Einsicht und Auskunft zu geben ist Ø Bestellung eines Erziehungsbeistandes (Art. 308 ZGB) mit Entscheidbefugnis an Stelle der Eltern Ø Aufhebung der elterlichen Obhut oder der elterlichen Sorge § Bei Dringlichkeit: Sofortiges Handeln im objektiven Interesse des Kindes ist zulässig, wenn die Eltern offensichtlich pflichtvergessen (d.h. im Widerspruch zum Kindeswohl) entscheiden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
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